Aurora Sauter | Rezension | 16.02.2023
Differenzen der Verwundbarkeit
Rezension zu „Politische Körper. Von Sorge und Solidarität“ von Jule Govrin

„Vielleicht ist es das, was wir aufbewahren müssen von diesem Jahr, die Erfahrung der wechselseitigen Verwundbarkeit und der unbedingten, kostbaren Solidarität.“[1]
In Politische Körper. Von Sorge und Solidarität erweitert die Autorin Jule Govrin die Betrachtungsweisen politischer Praxis, indem sie nach den unseren Körpern „eigene[n] Form[en] des Politischen“ (S. 11) fragt. Dabei vermittelt sie auf eindrückliche Weise, was sichtbar wird, wenn das Politische von verwundbaren Körpern aus gedacht wird, und welche Implikationen daraus resultieren. Die politischen Körper sind für Govrin nicht nur Gegenstand theoretischer Argumente und Ergebnis analytischer Rekonstruktionen von Körperbildern und -ordnungen; im Text begegnen uns ganz fleischliche betroffene Körper.
Der Essay beginnt plastisch mit erschütternden Szenen der COVID-19-Pandemie, die eines deutlich machen: Allen Körpern droht(e) eine Infektion, jedoch ist und war es die je konkrete lebensweltliche Situation, die bestimmt, wie gefährdet, ausgeliefert und betroffen Körper von einer Infektion sein können. Für Govrin werden vor diesem geteilten pandemischen Erfahrungshorizont die Ambivalenzen körperlicher Verwundbarkeit in besonderer Intensität sichtbar. Die Pandemie ist ein prägnantes, aber letztlich nur eines der zahlreichen Beispiele ihrer drei übergreifenden Argumentationslinien: (i) Im Anschluss an die feministische Sozialtheorie plädiert Govrin dafür, Verwundbarkeit „als Modus einer grundlegenden Gleichheit zwischen Körpern [zu] verstehen“ (S. 8). Dabei geht es ihr allerdings um mehr als eine ontologische Prämisse: (ii) Als zweites zentrales Anliegen verfolgt sie die ethischen Implikationen ihrer Setzung, wenn sie analytisch rekonstruiert, wie die geteilte Verwundbarkeit zugleich strukturell asymmetrisch verteilt ist. (iii) Schließlich nimmt sie solidarische Gefüge in den Blick, in denen sich Menschen widerständig und füreinander sorgend zusammenschließen. Diese liest Govrin als Anzeichen für einen gegenwärtig bereits gelebten „Universalismus von unten“ (S. 10), der von Körpern ausgeht. Diese drei zentralen Linien entfaltet Govrin im Rahmen von vier Kapiteln, die sich jeweils mit einem Aspekt von politischen Körpern befassen: dem produktiven, egalitären, pandemischen und solidarischen.
Verwundbarkeit und Verwundbarmachung
Wie lassen sich Govrins politische Körper nun konturieren? Jule Govrin skizziert eine Ordnung der gesellschaftlichen Verflechtungen politischer Prozesse und den in sie involvierten Körpern. Sie sortiert die dabei entstehenden spezifischen Formationen politischer Körper entlang der Unterscheidung zwischen body politic (Körpermetaphern), Biopolitik und body politics (Körperpolitiken).[2] Die ersten beiden Formen stellen „Körperpolitiken [dar], die darin bestehen, zu teilen und zu herrschen“ (S. 63). Die aus den sozialen Bewegungen hervorgegangenen body politics rufen hingegen das „emanzipative Potenzial von Verkörperung“ (S. 63) auf: Körpern eignet eine subversive, sich der absoluten Unterwerfung entziehende Eigensinnigkeit (S. 64). Zudem versteht Govrin politische Körper praxeologisch, das heißt, sie werden in politischen Prozessen und Praktiken hervorgebracht – beispielsweise als machtvolle oder verworfene Körper. Sie folgt damit Pierre Bourdieu in seiner Theorie der habituellen Einschreibungen von Herrschafts- und Machtverhältnissen in Körper (S. 61), versteht Letztere dabei allerdings widerständiger als ihr französischer Vordenker: „[...] Menschen [sind] als verkörperte, affektive Wesen niemals vollends unterworfen.“ (ebd.)
In überzeugendem Anschluss an Judith Butlers Konzept der „relationalen Ontologie“ argumentiert Govrin, dass die menschliche Verwundbarkeit den grundlegenden Bedürfnissen nach Fürsorge und Anerkennung entspringe (S. 68). Das im Alltag scheinbar vereinzelt auftretende verkörperte Selbst kann folglich nicht als atomares verstanden werden. Es bleibt angewiesen auf andere und ist somit immer sozial konstituiert. Diese „soziale[] Verfasstheit von Körpern“ ist Govrin zufolge ihre politische Dimension. Sie unterscheidet dabei zwischen einer „ontologischen Verwundbarkeit, die eine Grundbedingung des Daseins bildet, und einer strukturellen Verwundbarmachung, die politisch bedingt und geschichtlich gemacht ist“ (S. 72). Politische Körper sind in ihrer ontologischen Verwundbarkeit radikal gleich und relational verwoben mit anderen. Erst die gewaltvollen und unterdrückenden Strukturen machen bestimmte Körper zu besonders vulnerablen, ausgebeuteten oder sogar negierten Körpern.
Die Erfahrung dessen kann bei betroffenen Subjekten den Wunsch nach sozialen Gefügen auslösen, in denen Verwundbarkeit sorgend und solidarisch begegnet wird. Diese Gefüge ermöglichen den Subjekten „affektive Gegen-Habitualisierungen“, da sie „sich gegen die Vereinzelung und Verwundbarmachung der sorgenden Körper wenden“ (S. 186). Auf diesen Punkt will ich im letzten Abschnitt zurückkommen. Vorerst soll an dieser Stelle Govrins Analyse der Ungleichmachung von Körpern folgen.
Differenzierende Körperpolitiken
Govrin legt eine genealogische Körperstudie vor, in der sie die Genese des Phantasmas eines atomaren, souveränen und über den eigenen Körper verfügenden Subjekts in der kapitalistischen und politischen Ideengeschichte nachzeichnet. Dazu schlüsselt sie die Entwicklung von Körperkonzepten sowie ihren exkludierenden und gewaltvollen Mechanismen auf. Sie bezieht sich neben Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau auf Michel Foucaults Theorien zur Disziplinarmacht und Biomacht, indem sie herausstellt, wie der Körper in beiden Formen der Macht zum Instrument des Regierens wird. Ihre Rekonstruktion des aufklärerischen Idealbilds von Körpern offenbart neben den ungleich machenden Differenzierungsmechanismen vor allem, dass die kapitalistische „Wirtschaftsweise ihre Produktivität aus dem Zusammenspiel der Körper [schöpft]“ (S. 45). Als feministische Philosophin rekurriert Govrin in ihrer analytischen Rekonstruktion auf (queer-)feministische, postkoloniale und kritische Theorien, um aufzuzeigen, wie Körper abseits vom „Körperideal des weißen, bürgerlichen, heterosexuellen Mannes“ (S. 43) gewaltvoll unterworfen, ausgebeutet und marginalisiert wurden und werden.
Unter der Überschrift „Pandemische Körper“ zeigt Gorvin anhand politisch-lebensweltlicher Geschehnisse genauer auf, warum und wie die „Ökonomie als Organisation von Körpern“ (S. 89) zu begreifen ist. Die zentralen Themen des Essays – die Pandemie, Austeritätspolitik, Gesundheitsversorgung und Schuldenökonomie – machen die politischen, ökonomischen und gesundheitlichen Verstrickungen und ihre existenziellen Auswirkungen auf Körper deutlich. In der Darstellung dieser Aspekte, unter Berücksichtigung ihrer globalen Verteilung und Unterschiedlichkeit, beweist Govrin ihr Auge fürs Detail: Sie zeichnet an komplexen und dabei erschütternden Phänomenen und Ereignissen die strukturelle Verwundbarmachung von verkörperten Subjekten nach. In Bezug auf pandemiepolitische Auswirkungen verweist Govrin beispielsweise auf den teils sozialdarwinistischen Umgang mit denjenigen, die man in der Pandemie als Risikogruppen klassifizierte (vgl. S. 93), oder auf die „pandemiepolitischen Raumeinteilungen“, die zugleich Verwundbarkeiten organisierten (S. 121).[3] Die verschiedenen Darstellungen machen begreifbar, wie die „body economic“ (S. 102) versagt – ein Begriff, den Govrin von David Stuckler und Sanjay Basu entlehnt, um die Verwobenheit von Körpern, ökonomischen Strukturen und Gesundheit zu erfassen (ebd.).
Solidarische Körperpolitiken
Dass sich body economic auch an Körpern orientieren kann, zeigen die solidarischen Gefüge und Projekte, die Govrin ins Zentrum ihres vierten Kapitels rückt: Kollektive wie die feministische Streikbewegung Ni Una Menos (S. 173 f.)[4] stehen für eine „solidarisch gelebte Gleichheit in der Gegenwart“ (S. 17) und sind damit (erste) Anzeichen für einen von Körpern ausgehenden Universalismus von unten. Die aufgeführten Zusammenschlüsse adressieren Körper als verwundbare Entitäten, sie kritisieren und transformieren dadurch diejenigen Praktiken und Strukturen, die Gorvin im Verlauf ihres Essays dargelegt hat. Zum Ausdruck kommen die Solidarisierungspraktiken der „egalitären Körperpolitiken“ (S. 173) sowohl im Streik (S. 166) als auch in der Gestaltung neuer Lebensformen mit fürsorglichen und schützenden Praktiken.
In diesem Kapitel fließen das theoretische und politische Anliegen von Govrin ineinander. Wie bereits das Kapitel zu „Pandemischen Körpern“ zeichnet sich der Teil zu „Solidarischen Körpern“ durch die Verbindung theoretischer Analysen und Beschreibungen gelebter Praxis aus. Solidarische Zusammenschlüsse wie Ni Una Menos zeigen, dass politisches Handeln und Vulnerabilität keine Antonyme darstellen: Zum einen führt die geteilte Verwundbarmachung in Form struktureller Gefährdung und Ausbeutung zum vereinigenden Moment des Streiks, „[z]um anderen wird die Abhängigkeit aller Körper zum praktischen Ausgangspunkt für alternative Sorgeökonomien“ (S. 178). Das Transformationspotenzial einer solchen kollektiven und solidarischen Praxis sieht Govrin in einer neuen politischen Subjektivierung, die zu einer affektiven Gegenhabitualisierung führen kann.
„Um Gleichheit und Universalismus anders zu denken, bedarf es, so eine der Schlüsselthesen dieses Buches, anderer Vorstellungs- und Bilderwelten von Körpern und ihren Beziehungen. Wenn unser Begehren unsere Bindungen, unsere Beziehungen in der verkörperten Verwundbarkeit beginnen, wird die unhintergehbare Verbundenheit von Körpern sichtbar.“ (S. 213)
Empfehlenswert ist diese kritische, ermutigende und detailliert ausgearbeitete Schrift nicht nur für ein theorieaffines Publikum. Govrin gelingt es auf präzise und anschlussfähige Weise, die Ambivalenz der Verwundbarkeit zu konturieren sowie die Verstrickungen von Körpern, Politik und Ökonomie zu sezieren. Sie leistet einen beachtenswerten Beitrag zur Dekonstruktion überkommender Körperideale und zur Gestaltung von inklusiveren Körpervorstellungen, welche stärker auf Sorge und Solidarität basieren. Deshalb ist dieser Essay weit über die Pandemie hinaus lesenswert.
Fußnoten
- Carolin Emcke, Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie, Frankfurt am Main 2021, S. 267.
- Govrin bezieht sich dabei auf Imke Schmincke, Body Politic – Biopolitik – Körperpolitik. Eine begriffsgeschichtliche Rekonstruktion der Body Politics [30.1.2023], in: Body Politics 7 (2019), 11, S. 15–40.
- Weiterhin bespricht Govrin die Gefährdung von Menschen aus vor allem osteuropäischen Ländern in deutschen Schlachthäusern (S. 133) und von Menschen in informellen Sorgearbeitsverhältnissen (S. 142 f.). Die Prekarisierung des Gesundheitssystems durch Austeritätspolitiken des IWFs macht sie an den Beispielen USA (S. 103) und Griechenland (S. 196) deutlich. Als deren Folge ist ihr zufolge auch die wachsende Schuldenökonomie im Globalen Süden zu begreifen, die sich in Körper einschreibt und diese verwundbar macht: „all jene, die in den endlosen Zyklen der Verschuldung gefangen sind, getrieben von Druck, Geld aufzutreiben, die Kopfschmerzen, der erhöhte Blutdruck, die Schlaflosigkeit“ (S. 115).
- Das Kollektiv richtet sich protestierend unter anderem gegen Femizide, vergeschlechtliche Arbeitsteilung, die Folgen von Sparpolitiken, Naturausbeutung und setzt sich für Selbstbestimmungsmöglichkeiten wie das Recht auf Abtreibung ein. Govrin zeigt, wie solche Bewegungen einen Universalismus von unten vormachen, der sich gleichzeitig gegen verschiedene Dimensionen von Verwundbarmachung richtet.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Henriette Liebhart.
Kategorien: Feminismus Gesundheit / Medizin Körper Politische Theorie und Ideengeschichte
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Empfehlungen
Arbeit am Selbst
Rezension zu „Lost in Perfection. Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche“ von Vera King, Benigna Gerisch und Hartmut Rosa (Hg.)
Souveränitätsphantasma und Normalitätsfetisch
Politik in Zeiten der Corona-Krise
Eine politische Angelegenheit
Rezension zu „Politiken der Reproduktion. Umkämpfte Forschungsperspektiven und Praxisfelder“ von Marie Fröhlich, Ronja Schütz und Katharina Wolf (Hg.)