Stephanie Kappacher, Jens Bisky, David Meier-Arendt, Hannah Schmidt-Ott, Karsten Malowitz | Veranstaltungsbericht |

Duisburger Splitter III: Mittwoch

Bericht vom 42. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Duisburg

In aller Freundschaft

Die Relevanz von Freundschaften kann gar nicht überschätzt werden, und doch ist diese Form der Sozialbeziehung kaum institutionalisiert – so auch in der Soziologie, in der es keine klassische Freundschaftssoziologie gibt. Selbst der Versuch, einen entsprechenden DGS-Arbeitskreis aufzubauen, sei nicht gelungen, wussten die Organisatorinnen Jessica Schwittek (Duisburg-Essen) und Julia Hahmann (Hochschule RheinMain) in ihrer Einführung zur Ad-hoc-Gruppe Freundschaften in der Transition, Transitionen der Freundschaft zu berichten. Neben den beiden war auch Janosch Schobin (Kassel) als Diskutant vorgesehen, jedoch hatte er kurzfristig absagen müssen. Krankheitsbedingt entfiel auch der interessante Beitrag von Annette Schnabel zu „Freundschaften zwischen Menschen und Tieren“, die – so lautete der Vortragstitel – „Gewissermaßen Freunde“ seien. 

 

Die Organisatorinnen der Ad-hoc-Gruppe Jessica Schwittek und Julia Hahmann (v.l.n.r.), © Stephanie Kappacher

Der Titel der Ad-hoc-Gruppe zielte in zwei Richtungen: Der erste Teil fragte nach der Rolle, die Freundschaften in Zeiten des Umbruchs und der Transition spielen, während der zweite Teil Wandlungsprozesse von Freundschaften selbst untersucht – ein weites Feld also, das zu beackern sich die Organisatorinnen vorgenommen hatten. Und weil eben kein fester Ort in der DGS für eine Soziologie der Freundschaft existiere, habe es Einreichungen aus allen möglichen Bindestrichsoziologien gegeben, mithin war also eine große Varianz an Forschungsthemen zu erwarten. 

Und man wurde nicht enttäuscht: Den Aufschlag machte Annika Hoeft (Köln) mit einem spannenden Vortrag zu „Freundschaften der Vermögenselite“. Hoeft präsentierte Teile ihres laufenden Promotionsprojekts, es handelte sich also um work in progress. Empirische Basis ihrer Forschung bildeten teilnarrative Interviews, die sie mit Personen des obersten 0,01 Prozents sowie Akteuren aus der sogenannten Vermögensperipherie (oberstes 0,1 und 1 Prozent) geführt hat. In ihrem Vortrag zeichnete Hoeft das Bild einer undurchlässigen Vermögenselite, die sich ihres Klassenstatus und den damit einhergehenden Privilegien und Vorteilen kaum bewusst sei. Je nach Verhältnis zum eigenen Reichtum finde sich aber auch eine Sorge darüber, als „geldgeil“ und mindestens moralisch fragwürdig zu gelten, weshalb viele sich als betont „normal“ inszenierten, etwa durch bewusste Konsumentscheidungen. Vielfach begegnete der am Kölner MPI ansässigen Wirtschaftssoziologin auch eine ausgeprägte Vermögensscham, die die zumeist dynastischen Familienunternehmen angehörigen Personen mitunter dazu veranlasse, die eigenen Vermögensverhältnisse aktiv zu verschleiern. Hoeft arbeitete diese Scham eindrucksvoll als Versuch einer sozialen (Re-)Integration heraus. Auch im Kontext von Freundschaften spiele dies eine besondere Rolle, weil soziale Beziehungen zu unteren Klassen, insbesondere der Mittelschicht, genutzt würden, um zu belegen, dass man eben nicht abgehoben sei. Da werde etwa diese eine enge Freundschaft zum Busfahrer immer wieder erwähnt und hervorgehoben. Der eigene Reichtum werde in diesen sozialen Beziehungen aber weiterhin verschleiert, damit verbundene Themen wie Wohnverhältnisse, Fragen innerfamilialer Erbfolge usw. würden bewusst ausgeklammert. Das habe auch Einfluss auf biografische Erzählungen, denn beispielsweise der Besuch des Eliteinternats könne nicht erwähnt werden, weshalb zentrale und persönlichkeitsprägende Aspekte der eigenen Sozialisation unter den Tisch fielen. Eine authentische Freundschaft lasse sich so kaum etablieren, konstatierte Hoeft. Zu einer normativen Bewertung ließ sie sich jedoch auch in der folgenden angeregten Diskussion nicht hinreißen.

Johanna Bastian (Berlin) stellte anschließend die ebenfalls vorläufigen Ergebnisse ihrer Forschung zur „Bedeutung von Freundschaften für das Unterwegssein, Ankommen und Bleiben von jungen Menschen mit Migrationserfahrungen in Berlin“ vor. Aus einer interdisziplinären Perspektive fragte Bastian, ursprünglich Kulturgeografin und nach eigener Aussage „neu in der Soziologie“, wie junge Menschen durch und in Freund:innenschaften (Nicht-)Zugehörigkeit verhandeln. Anhand von Interviewmaterial und in Workshops erstellten Collagen und Mindmaps der befragten Personen veranschaulichte Bastian deren Erfahrungen multipler und teils konflikthafter Zugehörigkeiten. Dabei kamen sehr unterschiedliche Vorstellungen von einer „guten“ und/oder „richtigen“ Freundschaft zum Vorschein. Außerdem spiele die Herkunft eine dominante Rolle für das Gefühl von (Nicht-)Zugehörigkeit, andere Merkmale wie Hobbys würden hingegen kaum thematisiert. 

Direkt aus dem Auto, mit dem sie gerade noch im Stau gestanden hatte, ging Martina Richter (Duisburg-Essen) nach vorne und sprach über „Lebensformen in der Transition“. Sie stellte theoretische Überlegungen von Hannah Arendt (Freundschaft als Raum des Politischen), Geoffroy de Lagasnerie (Freundschaft als Lebensform, in der Gleichheit erfahren und ein „antiinstitutionelles Leben“ geführt werden könne) und Rahel Jaeggi (Lebensformen als Bezugspunkt von Transformationsprozessen in kapitalistischen Gegenwartsgesellschaften) vor und warb dafür, deren Theorieangebote im Kontext von Freundschaft und Familie als Lebensformen zu integrieren. Im Anschluss wurden Fragen insbesondere nach der Institutionalisierung von Freundschaften und deren Potenzial für Solidargemeinschaften diskutiert. Richter verwies in diesem Zusammenhang insbesondere auf Arbeiten von Tine Haubner und Mike Laufenberg. 

Die Beiträge und Diskussionen hatten den Zeitpuffer, den die Organisatorinnen wohlweislich in ihrer Planung berücksichtigt hatten, „verballert“, sodass es ohne Pause weiterging mit dem Vortrag von Lio Dohmen zu queerer „Freund*innenschaft während des Coming-outs und der Transition“. Diese besonders vulnerable Zeit untersuchte Dohmen aus einer praxistheoretischen Perspektive. Indem Dohmen den Ansatz des Doing Friendship um eine queere Komponente erweiterte, konnte Dohmen verschiedene Dimensionen queerer Freundschaftspraktiken herausarbeiten: unterstützende, fluid-dynamische, informations- und aufklärungsorientierte sowie destabilisierende Freundschaftspraktiken. Letztere, so erläuterte Dohmen anhand des empirischen Materials, müssten nicht zwangsläufig zum Ende einer Freund:innenschaft führen; es könne sehr wohl auch eine Wiederannäherung stattfinden. 

Last but not least ergriff Julia Hahmann selbst das Wort und berichtete aus ihrer Forschung über „Freundschaftliche Sorge-Arrangements in Einelternfamilien“. Laut aktueller Angaben des Bundesministeriums für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMBFSFJ) liege der Anteil der Einelternfamilien mittlerweile bei 20 Prozent. Diese Familien seien aufgrund sehr unterschiedlicher Arrangements heterogen, dennoch ließen sich bestimmte Aussagen treffen: Alleinerziehende Frauen (Väter, insbesondere kleinerer Kinder, seien selten alleinerziehend) gingen deutlich häufiger einer Erwerbstätigkeit nach als Mütter in Zweielternfamilien. Sie erwirtschafteten häufig aber nur ein geringes Einkommen, sodass sie überdurchschnittlich oft von Armut, später auch von Altersarmut, betroffen seien. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist in allen familiären Konstellationen eine Herausforderung, um es mit Hahmanns treffenden Worten zu sagen: „unmöglich“; bei Alleinerziehenden komme dies jedoch noch stärker zum Tragen. Ihre Alltagsstrategien beinhalteten daher fast immer informelle Unterstützung, auch aufgrund – je nach geografischer Lage – teils immer noch mangelnder Kinderbetreuungsinstitutionen. 

Die informelle Hilfe werde zu einem Großteil bei den eigenen Eltern erbeten, Freundschaften spielten in dieser Hinsicht so gut wie keine Rolle. Aber auch über Betreuungsfragen hinaus seien Freund:innen im Alltag von Alleinerziehenden wenig relevant. Teils zögen sie sich sogar aus bestehenden Freundschaften zurück, weil sie aufgrund ihrer großen Sorgeverantwortung ohnehin kaum Freizeit hätten und sich für ihre ökonomisch schwächere Lage schämten. Gemeinsame Restaurantbesuche oder Freizeitaktivitäten könnten sich die Alleinerziehenden in den allermeisten Fällen nicht leisten, daher fühlten sie sich in Freundschaften häufig unterlegen. Auch der Umstand, Reziprozitätsnormen nicht erfüllen zu können, komme für sie erschwerend hinzu. Die eigenen Eltern um Hilfe zu bitten, sei vor diesem Hintergrund deutlich einfacher und weniger beschämend, als Freund:innen einzubeziehen. 

Die großen soziologischen Fragen im Hinblick auf Freundschaften – etwa hinsichtlich der Abgrenzung zur Familie, ihrer Institutionalisierung oder ihres emanzipatorischen Potenzials unter anderem im Bereich von Care-Verhältnissen – wurden zwar auch in dieser Ad-hoc-Gruppe nicht beantwortet, mit interessanten Einsichten wartete sie in freund(schaft)licher Atmosphäre dennoch auf. 

(Stephanie Kappacher)


Über Architektur reden

Es wird zu wenig über Architektur gesprochen, obwohl sie uns alle umgibt. Die gebaute Umwelt ist Bühne sozialer Interaktionen, bahnt Wege, prägt das Naturverhältnis, inszeniert Gesellschaftsbilder. Für eine Geschichte der Gegenwart sind Investorenprospekte, Projektbeschreibungen von Architekt:innen und Immobilienanzeigen besonders aufschlussreiche Quellen. Und über Marktplätze, Shoppingcenter, Mietshäuser, Gefängnisse, Schulgebäude oder Bahnhöfe lässt sich aus soziologischer Perspektive gewiss Interessanteres sagen als mit den hergebrachten Mitteln der Architekturkritik. Gut also, dass am Mittwochvormittag eine Ad-hoc-Gruppe zur Architektursoziologie tagte und über Materialität und Räumlichkeit gesellschaftlicher Transitionen diskutierte.

Den Organisator:innen Felix Neubauer (Regensburg) und Anastasia Schmidt (Hamburg) ging es um die Potenziale der Architektursoziologie, die einen konkreten Fokus auf das Materielle, auf Affektivität und Körperlichkeit ermögliche. Dabei sahen sie sich vor allem jüngeren Arbeiten von Heike Delitz (etwa Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen, 2010) und Silke Steets (Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt. Entwurf einer wissenssoziologischen Architekturtheorie, 2013) verpflichtet. Die vier Vorträge des Vormittags boten vielversprechende Fallstudien.

Franziska Kreszentia Beck (Gießen) sprach über „Städtebauliche Leitbilder als Speicher für gesellschaftliche Werte“. Solche Leitbilder antworten auf Unzufriedenheit mit bestehenden Um- und Zuständen, veranschaulichen geteilte Vorstellungen und sollen Transformationen anleiten. Beck stellte die Neue Leipzig-Charta, 2020 von den zuständigen EU-Minister:innen verabschiedet, näher vor. Sie enthält Grundprinzipien gemeinwohlorientierter Stadtpolitik und definiert Handlungsfelder der Stadtentwicklung. Beck verglich sie mit dem Konzept der „15-Minuten-Stadt“ des französisch-kolumbianischen Stadtforschers Carlos Moreno. Bekannt wurde es, weil die Bürgermeisterin von Paris Anne Hidalgo es im Wahlkampf 2020 aufgriff. An der Erarbeitung der Neuen Leipzig-Charta waren sehr viel mehr Menschen beteiligt, insbesondere die Form der Konsensbildung beeinflusste die Werteintensität und -diversität des Konzepts, so Beck. 

Céline Barry (Berlin) schlug einen Bogen von Kreuzberg nach Dakar. „Je vuis dans un chantier!“ (Ich lebe auf einer Baustelle!), lautete der Titel ihrer Präsentation. Sie berichtete von ihrem Projekt einer postkolonial-feministischer Baustellenforschung in der Hauptstadt des Senegal. Verwundert, auch verärgert über die vielen Baustellen in Berlin-Kreuzberg stellte sie in Dakar fest, dass dort das Baugeschehen noch viel größere Ausmaße hat. Dem will sie sich mithilfe der konstruktivistischen Grounded Theory widmen. Vor Kurzem erst wurde das Programm „Dakar Métropole 2050“ verkündet. Fragen gibt es für Barry genug: Wer baut? Für wen und welchen Lebensstil? Wie werden dabei Klassenverhältnisse verräumlicht und rekonfiguriert? Welche Rolle spielen Hygienediskurse, Vertreibungen, Verdrängung, Modernisierungsideologien? Materielle Veränderungen, Symbolisches und Alltagsdiskurse werden im Zentrum von Barrys Baustellenerkundungen stehen.

Es ist an der Zeit, Beton, Steine, Polymere durch den Baustoff Holz zu ersetzen, wenn die Kohlendioxidemissionen der Bauwirtschaft gesenkt werden sollen. Doch bringt auch diese Transition neue Probleme mit sich, wie Nesh (Weronika) Yuan (Hamburg) in ihrem Kurzvortrag „Von der Plantage zur Architektur“ zeigte. Sie untersucht die Beschaffung von Eukalyptusholz fürs Bauen in Nordspanien. Die Monokultur bringe die bekannten Risiken mit sich, erhöhe die Waldbrandgefahr, erleichtere die Verbreitung von Krankheiten. Ein Zertifizierungsprozess soll Bauherren und Kunden darüber hinwegtäuschen, deren Gewissen beruhigen. Die Zertifikate befriedigten Yuan zufolge das Verlangen nach einfachen Antworten, verdeckten die konfliktreiche Wirklichkeit.

Wie mittels Architektur soziale Grenzziehungen gestaltet und vollzogen werden, behandelte Leonard Beigel (Regensburg) in seinem Beitrag zu „Feindlicher Architektur“. Dabei geht es etwa um Metallspikes oder um Armlehnen auf Bänken, die Obdachlose fernhalten sollen. Diese „Architektur der Ausgrenzung“ dient der Verdrängung unerwünschter Verhaltens- und Konsumformen aus bestimmten Stadtgegenden, sie adressiert, so Beigel, vor allem Gruppen, deren Leben vornehmlich im öffentlichen Raum stattfindet. Außerdem normalisiert sie den öffentlichen und professionellen Sicherheitsdiskurs und sie produziert und reproduziert gesellschaftliche Grenzziehungen. Zu Recht verwies Beigel auf den Zusammenhang von feindlicher Architektur und dem Bemühen vieler Städte, in Konkurrenz zu anderen ein möglichst gutes Geschäfts- und Konsumklima zu schaffen.

Dass wir alle Opfer feindlicher Architektur seien, war die These in der kurzen Fragerunde nach diesem Vortrag. Man schaue sich nur kleine Bahnhöfe an und überlege, wo man dort zwei Stunden des Wartens auf den nächsten Zug verbringen soll. Es fehlten Sitzgelegenheiten, Toiletten, Räume, um sich bei Minusgraden aufzuwärmen, Möglichkeiten, sich vor der Sonne zu schützen. Das war richtig beobachtet. Viele der Bahnhöfe in kleinen Ortschaften geben den Reisenden zu verstehen, dass sie nicht erwünscht sind. Aber ist das eine Frage der Architektur?

Beschrieben und analysiert worden waren Prozesse des Planens und Zertifizierens, Baustellen, Ausgrenzung in urbanen Räumen. Wie aber bleibt man an der Architektur dran? Diese Frage kam gleich zu Beginn der sehr munteren Abschlussdiskussion zu allen vier Vorträgen auf. Verlieren Soziolog:innen im Zuge ihrer Forschungen notwendig die Architektur selbst aus dem Blick? Schließlich interessieren sie sich vor allem für die Praktiken des Planens, Entwerfens, Bauens, Ordnens, der Nutzung von Architektur. Eine abschließende Antwort kann es auf Fragen dieser Art nicht geben. Auch die Architektursoziologie findet ihre Themen nicht als gegebene, feststehende vor. Wenn sie eher in der Nachbarschaft der Stadtsoziologie als der Kunstgeschichte arbeitet, wird sie Architektur als „die durchdringende Gestalt der Gesellschaft“ (Heike Delitz) erhellend deuten können. Über sie nicht nur zu reden, sondern etwas Wesentliches zu sagen, war noch nie leicht.

(Jens Bisky)


Campus der Uni Duisburg im L-Bereich
Campus der Uni Duisburg im L-Bereich, © Stephanie Kappacher

Begriffspolitiken und ihre Folgen

Der Arbeitskreis Sociology of the far right lud in Duisburg zu einem Panel ein, das die aktuelle Begriffsdebatte zur extremen Rechten zum Gegenstand hatte. Ziel der Veranstaltung war es, die Vielfalt der verwendeten Konzepte und Begriffe – von Populismus über Autoritarismus und Rechtsextremismus bis zu Faschismus – kritisch zu reflektieren und deren analytische Tragfähigkeit aus soziologischer Perspektive zu prüfen. Dabei betonten die Organisator*innen des Panels, dass diese Auseinandersetzungen nicht nur wissenschaftsimmanent sind, sondern darin auch Anforderungen und Interessen aus Politik, Öffentlichkeit, Bildung und Sicherheitsbehörden zum Tragen kommen. Der analytischen Bestimmung der extremen Rechten sei stets auch die normative Frage eingeschrieben, wie dieser zu begegnen sei.

Mara Simon (Flensburg) eröffnete das Panel mit einem Vortrag zur Begriffsgeschichte des Rechtsextremismus in der quantitativen Einstellungsforschung. Sie zeichnete drei Phasen der Entwicklung nach: (1) die Begründung der Forschungstradition, (2) die Phase der Setzungen und Parallelität, (3) die heutige Stagnation. Wie Simon zeigte, wurden Begriffe im Bereich der quantitativen Forschung vor allem im Hinblick auf ihre Messbarkeit entwickelt, was zu einer Entkopplung von theoretischer Reflexion und empirischer Operationalisierung führte. Kritisch wies sie darauf hin, dass sich Ausdrucksweisen und Überzeugungen über die Zeit verändern und damit ältere Messinstrumente kaum noch zuverlässig greifen. Gefordert sei daher eine stärkere Verzahnung von theoretischen, qualitativen und quantitativen Arbeiten, um langfristige Entwicklungen im Feld empirisch wie analytisch zu erfassen.

Im Anschluss widmete sich Alexandra Mehnert (Leipzig) der Arbeit von Ausstiegs- und Distanzierungsprogrammen. Sie erklärte, dass der Begriff des Rechtsextremismus in diesem Feld kaum Anwendung findet, da er zu unscharf ist und die Normalisierung rechter Einstellungen nur unzureichend abbildet. Stattdessen greifen Beratungsstellen auf Konzepte wie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oder pauschalisierende Ablehnungskonstruktionen zurück, die eher die Funktion von Ideologien für individuelle Biografien in den Blick nehmen. Beratungsarbeit müsse, so betonte Mehnert, vor allem auf der Ebene von Bedürfnissen und Alltagsverständnissen ansetzen, um eine Distanzierung von rechtsextremen Einstellungen zu ermöglichen. Demokratievermittlung bedeute, Ambivalenzen auszuhalten und partizipativ zu vermitteln, anstatt allein auf ideologische Abgrenzungen zu setzen.

In Ergänzung zum Phänomen der deutschen Rechten brachte Ismail Küpeli (Bochum) einen Vortrag über die Grauen Wölfe ein. Dabei handele es sich nicht um eine oppositionelle Kraft, sondern um eine staatsloyale Strömung, die tief in der politischen Tradition der Türkei verwurzelt sei. Die Grauen Wölfe stünden damit in einer Reihe mit nationalistischen und gewaltförmigen Staatsgründungsprojekten wie den Jungtürken und Atatürk, wobei sie rassistische und antisemitische Elemente radikalisierten. Als zweitgrößte rechtsextreme Bewegung in Deutschland werde ihre Bedeutung hierzulande bislang kaum erforscht oder politisch bearbeitet. Der Beitrag problematisierte zudem die Übertragbarkeit gängiger Begriffe wie Rechtsextremismus, da diese im türkischen Kontext Teil des politischen Establishments und nicht Ausdruck einer Randbewegung seien.

Caroline Amlinger (Basel) schloss das Panel mit einem Vortrag zum Konzept des demokratischen Faschismus. Auf Grundlage qualitativen Materials rekonstruierte sie das Gefühl, dass die gesellschaftliche Anerkennung für die eigenen Verdienste verweigertet würde. Aus dieser Gefühlslage heraus entwickelten sich ihr zufolge destruktive Aggressionen, die sich gegen die Welt richten. Diese Konstellation ließ sich, so Amlinger weiter, nicht als bloße Reaktion auf Krisen erklären, sondern drückten ein eigenständiges Weltgefühl aus. Der Begriff des demokratischen Faschismus zielt darauf, die Zerstörung der Demokratie im Namen demokratischer Prinzipien zu erfassen, etwa im Rekurs auf Mehrheitslogiken und Homogenitätsvorstellungen. Faschismus erscheine hier nicht als geschlossene Bewegung, sondern als dynamisches Netzwerk, das disparate Gruppen und Diskurse zusammenführt.

In der lebhaften Diskussion betonten die Redner:innen die Gefahr, komplexe und widersprüchliche Phänomene durch statische Begriffssetzungen zu verengen. Instrumentalisierungen durch Akteure wie Charlie Kirk verdeutlichen beispielhaft, wie politische und religiöse Semantiken ineinandergreifen. Diskutiert wurde zudem, inwiefern historische und gegenwärtige Formen des Faschismus differenziert zu betrachten sind, ohne Letztere zu verharmlosen. Kontrovers war auch die Frage, ob Begriffe wie demokratischer Faschismus nicht die Selbstbeschreibung der Befragten übernehmen. Hier wurde von Amlinger auf die Notwendigkeit methodischer Empathie verwiesen: Es gehe darum, zu verstehen, nicht zu entschuldigen. Insgesamt zeigte das Panel, wie stark die Begriffsdebatte zur extremen Rechten neben wissenschaftlichen Reflexionen auch von politischen Handlungszwängen geprägt ist.

(David Meier-Arendt)


Wandel in Begriffen

Nicht erst von Luhmann wissen wir: Gesellschaften, die sich selbst beobachten, müssen das in Begriffen tun. Die DGS-Sektion Kultursoziologie lud in einem Panel mit dem Titel Aufbruch, Metamorphose, Untergang. Semantiken gesellschaftlicher Übergänge zu Auseinandersetzungen mit den Begriffen ein, mittels derer die Soziologie Wandel benennt. Da zwei der fünf angekündigten Vorträge ausfielen, herrschte ausnahmsweise kein Zeitdruck – in Anbetracht der notorischen Zeitnot auf DGS-Kongressen eine angenehme Abwechslung. Die frei gewordenen Minuten flossen in intensive Nachfragen und angeregte Diskussionen.

In einem instruktiven Vortrag sprach Julian Müller (Lüneburg) „Von Zeitenwenden und persönlichen Wandlungen“ und widmete sich „Motiven der Umkehr und Abkehr in der Gegenwart“. Seine These: die Begriffstrias Aufbruch – Untergang – Metamorphose eignet sich gleichermaßen für die Beschreibung der Entwicklung individueller Biografien wie ganzer Kulturen. Während das Motiv des Untergangs früher ein klassisch konservativer Topos gewesen sei, herrsche gegenwärtig angesichts von Krieg und Klimawandel auch unter Progressiven Sorge vor dem finalen und definitiven Ende unserer Gesellschaft – oder der Welt als Ganzes.

Metamorphose-Erzählungen seien heute ubiquitär. Ob in Podcasts oder Autobiografien, ob Veganismus, Abstinenz oder politischer Seitenwechsel: Es gebe einen starken Hang zu Narrativen, die um Um- und Abkehr kreisten, das Leben des oder der Erzählenden in ein Davor und ein Danach einteilten und ihr Wissen um beide Seiten – also etwa die des Konsums und die der Abstinenz – nutzten, um ihre Positionierung und Einschätzungen zu legitimierten.

Am Beispiel politischer Bekenntnistexte – darunter Jan Fleischauers Unter Linken (Rowohlt) und Manfred Kleine-Hartlages Warum ich kein Linker mehr bin (Antaios) – nahm Müller die Sozialfigur des ehemals linken, politischen Konvertiten in den Blick. Er zeigte, wie die politische Neuverortung als Konservativer beziehungsweise Rechter als wahrhaftiger Blick auf die Realität erzählt wird, der zugleich eine unverstellte Selbstreflexion ermöglicht. Die politische Konversion bedeute einen Wandel der gesamten Person, die ein falsches Leben hinter sich gelassen und sich einem neuen, richtigen zugewandt habe. Zugleich kenne man die Seite, die man verlassen habe, natürlich gut, sei mit allen Argumenten vertraut, habe selbst in linken Lesekreisen gesessen und so weiter. Diese Art, das eigene Leben zu erzählen, sei modern und antimodern zugleich: Einerseits erlaube sie einen Meinungswechsel, andererseits verleihe sie der neuen Position einen Nimbus unerschütterlicher Gewissheit.

Die Beiträge in der Diskussion thematisierten zu einem wesentlichen Teil die Frage, wie die kollektive und die individuelle Ebene zusammenbracht werden, wie also aus den persönlichen Konversionserzählungen Schlüsse auf größere soziale Zusammenhänge gezogen werden könnten. Müller verwies auf die stabilisierende Funktion, die den Narrativen gerade in Zeiten unabschätzbaren gesellschaftlichen Wandels zukomme: Transitionserzählungen seien nämlich eine Möglichkeit, Transitionen im eigenen Leben abzuwenden: Indem man eine Vergangenheit anerkennt, sich aber klar von ihr distanziert, lasse sich die aktuelle Positionierung im Hier und Jetzt festschreiben – und zugleich in die Zukunft verlagern.

Im Anschluss betrachtete Lukas Potsch in seinem Vortrag „Umwälzung ohne Fortschritt. Bürgerkriegssemantiken in der Gegenwart“ den Begriff des Bürgerkriegs als Transitionsbegriff. In einer dichten Rekonstruktion der Ideen- und Begriffsgeschichte vom 16. Jahrhundert bis heute zeigte er, wie sich das Verständnis von Bürgerkrieg als Oppositionsbegriff zum Staat hin zur revolutionären Umwälzung entwickelte und sich schließlich wieder von diesem geschichtsphilosophischen Ballast befreite. Der Begriff schillere auch heute noch: Jede Warnung vor dem Bürgerkrieg könne auch als Drohung verstanden werden – besonders in einer Gegenwart, die von fundamentaler Unsicherheit geprägt ist.

Ole Bogner (Frankfurt am Main) und Leon Wolff (Marburg) sprachen über „Gewagte Unangepasstheiten. Zur politischen Implikation der Evolutionstheorie Niklas Luhmanns“. Sie betonten, dass Luhmanns Evolutionstheorie in mehrfacher Hinsicht mit ihren historischen Vorgängern bricht. So erweitere er das Darwin’sche Schema von Variation/Selektion um eine dritte Dimension: Restabilisierung. Auch sei Evolution für Luhmann weder Superstruktur noch linearer Prozess, sondern zufällige Abfolge von Ereignissen, die in keinen Gesamtzusammenhang integriert sind. Von dort aus spannten Bogner und Wolff den Bogen zum heutigen Resilienzdiskurs. Hatte Luhmann bereits für eine an der Ökologie orientierte Rationalität, die Schaffung von Variationsmöglichkeiten und die Kultivierung von Lernfähigkeit plädiert, ziele auch das Resilienzparadigma auf die Schaffung neuer Möglichkeiten gesellschaftlicher Gestaltung: In Anbetracht einer unsicheren Zukunft sei man auf die Vermehrung von Anschlussmöglichkeiten angewiesen. Joachim Renn merkte an, dass der Vergleich mit dem Resilienzparadigma die grundlegende historische Ausrichtung von Luhmanns Evolutionstheorie unterschlage, die auf makrosoziale Entwicklungen ziele. Dennoch zeigten die Referenten eindrücklich, dass in Anbetracht der ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen das Prinzip survival of the fittest ausgedient habe. Stattdessen sei gewagte Unangepasstheit das Motiv der Stunde – und die politische Implikation von Luhmanns Evolutionstheorie.

(Hannah Schmidt-Ott)


Die oberen Zehntausend

Es gibt Veranstaltungen, die ihr Publikum finden. Und es gibt Veranstaltungen, die von ihrem Publikum gefunden werden müssen. Die von Lea Remmers, Franziska Wiest und Philipp Golka (alle Köln) organisierte Ad-hoc-Gruppe Patrimonialer Kapitalismus? Transitionen von Vermögen, Eigentum und Kontrolle in der Gegenwart gehörte zur letzteren Kategorie, brauchte es doch gutes Orientierungsvermögen, um den im ebenso weitläufigen wie verwinkelten Gebäudekomplex des M-Bereichs gelegenen Veranstaltungsort zu finden. Wer es dorthin geschafft und zwischen den knapp dreißig anwesenden Personen, von denen sich rund ein Drittel als Referent:innen entpuppte, Platz genommen hatte, wurde für die Mühen des Weges allerdings reichlich entschädigt. Unter dem strengen Regime von Lea Remmers, die durch die Veranstaltung führte und die Referent:innen freundlich, aber bestimmt zur Einhaltung des eng getakteten Zeitplans anhielt, präsentierten sich nicht weniger als neun Forschungsprojekte, die Einblicke in exklusive Welten boten, die den meisten Normalsterblichen, die weder Vermögen noch einen Stammbaum besitzen, für gewöhnlich verschlossen bleiben. 

Eröffnet wurde der Reigen der Vorträge von Carla Young und Philipp Degens (beide Hamburg), die untersuchen, wie das „Schenken und Stiften im patrimonialen Kapitalismus“ organisiert ist und dabei neben aktuellen Trends und Praktiken auch nach möglichen Ansätzen zur Reform des Stiftungswesens fragen. Die mit Blick auf die gesellschaftlichen Auswirkungen vielleicht wichtigste Beobachtung, mit der Young und Degens aufwarteten, ist die einer rückläufigen Gemeinwohlorientierung. Während die absolute Zahl der Stiftungen in Deutschland von 10.000 im Jahr 2000 auf 25.777 im Jahr 2023 angestiegen sei, habe sich der Anteil der gemeinnützigen Stiftungen im gleichen Zeitraum verringert. Der Grundsatz „private action for the public good“ werde zunehmend fraglich. Insbesondere bei größeren Familienverbänden oder einander persönlich verbundener Personengruppen – Young und Degens verwiesen in diesem Zusammenhang unter anderem auf das Phänomen anthroposophisch geprägter Unternehmerfamilien – dienten Stiftungen nicht selten zur Errichtung quasifamiliärer Netzwerke, in denen enge Verflechtungen zwischen Stiftern und Empfängerorganisationen bestehen. Insgesamt, so Young und Degens, seien Schenken und Stiften weiterhin patrimonial strukturiert. Alternative Einrichtungen wie etwa Bürgerstiftungen, die auf eine demokratische Verteilung und stärkere Streuung von Vermögen zielen, seien demgegenüber nach wie vor stark unterrepräsentiert, woran sich so bald auch kaum etwas ändern werde. Vielmehr sei davon auszugehen, dass der Einfluss privater Stifter:innen auf die Inhalte, Aktivitäten und Handlungsweisen zivilgesellschaftlicher Einrichtungen in Zukunft noch weiter anwachse.

Wie „Intergenerationale Vermögenstransfers, Geschlecht und Unternehmertum“ miteinander zusammenhängen, war Gegenstand des anschließenden Vortrags von Agnieszka Althaber (München). Ausgehend von der Beobachtung, dass Männer nach wie vor deutlich häufiger selbstständige Unternehmer werden als Frauen, erörterte Althaber im Folgenden die Frage, welche Faktoren die Chancen zu einer erfolgreichen Unternehmensgründung in besonderer Weise begünstigen. Mit Blick auf die Rolle von Vermögenübertragungen kam sie dabei anhand der von ihr ausgewerteten Daten zu dem Befund, dass Erbschaften und Schenkungen vor allem im unteren Vermögensbereich einen positiven Effekt zeitigten, von dem insbesondere Männer profitierten. Bei Vermögenden hingegen, die auch über ein hohes Maß an kulturellem und sozialem Kapital verfügen, sei die Bedeutung entsprechender finanzieller Transfers weit weniger stark. Ausschlaggebend für den konstatierten Gender Gap sei vielmehr die Codierung des übertragenen Kapitals, das keine neutrale Ressource darstelle, sondern mit familiären Erwartungshaltungen und Machtbeziehungen verknüpft sei. Letztere aber seien nach wie vor häufig durch traditionelle Rollenbilder wie das vom männlichen Unternehmer geprägt.

Um den Einfluss und die mehr oder weniger subtile Wirkung von Rollenbildern und Erwartungshaltungen ging es auch im Beitrag von Robin K. Saalfeld (Jena) zum Thema „Wenn die Frau erbt: Eigentumsasymmetrien in Paarbeziehungen als Herausforderung patrimonialer Ordnung?“. Anhand des im Rahmen seines Forschungsprojekts mittels leitfadengestützter Paarinterviews erhobenen Materials zeigte er, wie Paare damit umgehen, wenn durch exklusive Erbschaften des weiblichen Partners in einer Beziehung das häufig noch latent wirksame kulturelle Skript des männlichen Erbträgers und des male breadwinners herausgefordert wird. In seiner Präsentation identifizierte Saalfeld vor allem zwei kommunikative Strategien, die in ihrer Konsequenz beide auf eine Relativierung des Ereignisses hinauslaufen: So tendierten Frauen unabhängig von ihrer Schichtzugehörigkeit dazu, das ihnen zuteil gewordenen Erbe wahlweise zu invisibilisieren, indem sie dessen Bedeutung für die finanzielle Situation des Paares herunterspielten, oder es zu vergemeinschaften, indem sie den finanziellen Zugewinn nicht als individuelle, sondern als gemeinsame Ressource deklarierten. Letztendlich, so Saalfeld, zielten die von den Frauen selbst aktiv verfolgten Praktiken des doing inheritance darauf ab, die eigene Rolle als Erbin zum Verschwinden zu bringen, um Spannungen zu vermeiden.

Die Frage, wie sich besonders vermögende Familien als Herrschaftsverbände konstituieren und über Generationen hinweg erhalten, stand im Mittelpunkt des mit „Patrimoniale Herrschaft. Macht und Kontrolle in superreichen Familien“ überschriebenen Beitrags von Franziska Wiest (Köln), mit dem die Referentin den zweiten Block der Veranstaltung eröffnete. Die Grundlage ihrer Ausführungen bildeten fallrekonstruktive Studien zu insgesamt neun Familien mit einem Vermögen von jeweils mindestens 100 Millionen Euro, die sie gestützt auf teilnarrative Interviews, persönliche Dokumente, Familienverfassungen, Gesellschafterverträge und Gerichtsakten erstellt hat. Ihr Befund: Die Angehörigen superreicher Familien teilten miteinander ein Verständnis von Familie, das maßgeblich durch die gemeinsame Eigentümerschaft an Unternehmensvermögen geprägt sei. Für das Zusammengehörigkeitsgefühl seien dabei neben affektiven und traditionalen insbesondere wert- und zweckrationale Vergemeinschaftungsprinzipien wirksam. Die Mitglieder definierten sich als Teile eines größeren, die eigene Existenz überdauernden Ganzen, dessen kontinuierlicher Fortbestand gesichert werden müsse. Um die Kontrolle über das im Laufe der Zeit akkumulierte Familienvermögen zu behalten und innerfamiliäre Konflikte zu vermeiden, bedienten sich die Familien zwar nach wie vor auch narrativer Strategien, welche die Leistungen früherer Gründerfiguren überhöhten und so das Prinzip der Alleinherrschaft zu rechtfertigen suchten. Tatsächlich aber lasse sich in jüngerer Zeit ein verstärkter Einsatz von Bürokratisierungspraktiken beobachten, die darauf abzielten, eine kollektive Ausübung der Herrschaft durch mehrere Familienmitglieder zu ermöglichen. Dazu zählten etwa Familienbeiräte, ausgeklügelte Nachfolgeregelungen oder detaillierte Familienverfassungen, die sicherstellen sollen, dass es im Zuge der Weitergabe von Vermögen nicht zu Konflikten kommt. An die Stelle der lange Zeit wirksamen und in den Familiengeschichten immer noch idealisierten Alleinherrschaft, so Wiests Fazit, sei inzwischen eine Form des bürokratischen Patrimonialismus getreten.

Um Familienverhältnisse ging es auch im darauffolgenden Vortrag von Käthe von Bose (Potsdam). Unter dem Titel „Privilegierung, Exklusivität, Elite? Zum doing family in deutschen Adelsverbänden“ stellte sie Teilergebnisse eines von 2021 bis 2025 durchgeführten DFG-Forschungsprojekts zu Formen exklusiver Vergemeinschaftung vor. Gestützt auf elf Interviews mit Mitgliedern zweier deutscher Adelsverbände sowie auf umfangreiche Feldnotizen schilderte sie dem mehrheitlich nicht hochwohlgeborenen Publikum, wie die Angehörigen adeliger Familien mithilfe regional oder konfessionell organisierter Clubs und Verbände Zugehörigkeit herstellen, familiären Zusammenhalt stärken und Beziehungspflege treiben. Angehörige von Familien des historischen Adels, in denen nach wie vor das Prinzip der Patrilinearität herrsche, nutzten die Einrichtungen, um den nachfolgenden Genrationen neben Umgangsformen und Kulturtechniken auch Standes- und Traditionsbewusstsein sowie ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem häufig nicht nur generationen-, sondern auch länderübergreifenden Familienverband zu vermitteln. Darüber hinaus eröffneten die weitreichenden verwandtschaftlichen Beziehungen den Mitgliedern privilegierte Zugangsmöglichkeiten zu einem exklusiven, untereinander bestens vernetzten Kreis von Personen, die sich wechselseitig mit einem Vertrauensvorschuss begegneten. Auf diese Weise, so von Bose, generierten die derart organisierten Adelsfamilien soziales und kulturelles Kapital, das sich zwar nicht automatisch in ökonomisches Kapital ummünzen lasse, die Chancen auf einen entsprechenden Transfer aber deutlich erhöhe.

Eine der Schattenseiten im Leben derjenigen, die einem weitverbreiteten Verständnis zufolge auf der Sonnenseite des Lebens stehen, thematisierte sodann Isabell Stamm (Berlin), die in ihrem Vortrag die „Verantwortungslosigkeit in der Eigentumselite“ in den Blick nahm. Zu dieser besonderen Elite zählt sie Angehörige superreicher Unternehmerfamilien, die sich durch einen hohen Bestand an Betriebsvermögen auszeichnen, das in der Regel komplex codiert ist. Als Ausgangspunkt ihrer Beobachtungen, die sie im Rahmen von mehr als siebzig Interviews mit Personen aus über dreißig Familien mit einem jeweiligen Vermögen von mehr als 100 Millionen Euro sowie im Zuge von 14 teilnehmenden Beobachtungen bei exklusiven Veranstaltungen gesammelt hat, diente ihr die Diskrepanz zwischen der Außendarstellung und der gelebten Praxis im Umgang mit den familieneigenen Unternehmen. Während man sich öffentlich als verantwortungsvoll inszeniere – etwa in aufwendig produzierten PR-Filmen wie „Das WIR in der Wirtschaft“ –, stellten die Unternehmen für die allermeisten Familienmitglieder, die zwar Anteile hielten, aber selbst nicht operativ tätig seien, lediglich eine „passende Struktur“ bereit, die je nach Bedarf auch umgebaut und modifiziert werden könne. Die im Besitz der Familien befindlichen Unternehmen würden in Portfolios gesammelt und als Rendite generierende Assets betrachtet. Verantwortlich fühlten sich die Mitglieder der Eigentumselite nur gegenüber den Angehörigen des eigenen Familienverbands, um dessen Vermögen sie sich sorgten, nicht jedoch gegenüber den konkreten Betrieben und den darin Beschäftigten. Zur Erklärung dieses Phänomens rekurrierte Stamm auf Ludger Heidbrinks Konzept der Nichtverantwortlichkeit, mit dem sich nicht nur absichtsvoll verweigerte, sondern auch systemisch bedingte Formen der Verantwortungslosigkeit identifizieren lassen. Im Fall der von ihr untersuchten superreichen Familien sah sie eine der entscheidenden Ursachen im Auf- und Ausbau zunehmend komplexer Eigentumsstrukturen, welche die Angehörigen nicht mehr durchschauten, was zunächst zur Entfremdung von den in ihrem Besitz befindlichen Unternehmen und schließlich zur Abwehr und Leugnung der mit ihnen verbundenen Verantwortung führe. Statt wie bisher nach der Verantwortung der Unternehmer:innen zu fragen, so Stamm, sei die Forschung gut beraten, zukünftig stärker Formen und Zonen systemisch erzeugter Nichtverantwortlichkeit in den Blick zu nehmen. 

Hatte die Mehrheit der bis dahin aufgetretenen Referent:innen Befunde aus laufenden oder abgeschlossenen Forschungsvorhaben vorgestellt, nutzten die Vortragenden des dritten und letzten Blocks die Veranstaltung, um Hypothesen und Ideen zu gerade begonnenen oder zukünftigen Projekten zu diskutieren. Unter der Überschrift „Patrimoniale Finanzmärkte?“ präsentierte Philipp Golka (Köln) erste Überlegungen, warum die Strukturmerkmale privater Investmentgesellschaften möglicherweise patrimoniale Herrschafts- und Abhängigkeitsbeziehungen begünstigen und wie sich dies unter Umständen auf das Investitionsverhalten der Gesellschaften auswirkt. Und Annika Hoeft (Köln), die zu „Freundschaft und Vermögen“ forscht, teilte Ergebnisse ihrer Vorstudien zum Freundschaftsverhalten, den Beziehungsformen und den emotionalen Bindungen von Männern und Frauen im Kontext patriarchaler Strukturen. (Hoeft hielt auch in der Ad-hoc-Gruppe Freundschaften in der Transition, Transitionen der Freundschaft einen Vortrag, von der Stephanie Kappacher oben unter dem Titel „In aller Freundschaft“ berichtet.)

Komplettiert wurde der Block durch Aanor Roland (Lüneburg), die in der ihr zur Verfügung stehenden Zeit ein ambitioniertes Forschungsprojekt skizzierte, dessen Titel „Das Pferd als Proxy des patrimonialen Kapitalismus?“ das Thema bereits erahnen ließ. Während Pferde ihre Bedeutung für die Kriegsführung, die Landwirtschaft und das Transportwesen verloren hätten, seien sie für den Sport nicht nur weiterhin relevant, sondern hätten sich in den vergangenen Jahren zu begehrten Luxusgütern und Investitionsobjekten für Superreiche entwickelt. Dies gelte insbesondere für die zunehmend exklusive Welt des Spitzenpferdesports, in der – so die Arbeitshypothese – hochklassige Spring- und Rennpferde im Rahmen familiärer und patrimonialer Strukturen als Instrumente zur Vermögenserhaltung dienten. Begünstigt durch technologische Innovationen in den Bereichen künstliche Besamung und Embryotransfer, unterstützt durch verbesserte Lufttransportmöglichkeiten und globalisierte Handelsströme sowie flankiert durch ein verbindliches Regelwerk reiterlicher Vereinigungen und Zuchtverbände sei ein milliardenschwerer Markt entstanden, auf dem nicht mehr nur einzelne Züchter:innen, sondern familienbasierte mittlere und große Unternehmen mit Pferden und deren Erbgut handelten. Die Analyse dieses Marktes, so die von Roland geäußerte Hoffnung, könnte ein geeigneter Schlüssel sein, um neue Einsichten in die ökonomischen, kulturellen und persönlichen Austauschbeziehungen der Superreichen zu gewinnen – und um nebenbei auch noch etwas über den besonderen Charakter des gegenwärtigen Kapitalismus zu erfahren. Es wäre zu wünschen, dass sich ein Investor findet, der bereit ist, das Projekt zu finanzieren. Den einschlägigen Risikokapitalgebern des Wissenschaftsbetriebs sei es hiermit jedenfalls nachdrücklich empfohlen.

(Karsten Malowitz)

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Henriette Liebhart.

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Stephanie Kappacher ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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Dr. Jens Bisky ist Germanist und arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis. (Foto: Bernhardt Link /Farbtonwerk)

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David Meier-Arendt (M.A.) studierte Soziologie und Philosophie in Darmstadt. Derzeit promoviert er am Zentrum Gender Studies der Universität Basel. Seine Forschungsinteressen umfassen u.a. kritische Männlichkeitsforschung, Forschung zur Rechten Bewegungen, qualitative Sozialforschung und feministischer Wissenschafts- und Technikforschung.

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