Hannah Schmidt-Ott, Karsten Malowitz, Jens Bisky | Veranstaltungsbericht | 29.09.2025
Duisburger Splitter V: Freitag
Bericht vom 42. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Duisburg
Kein harmloses Medium
Manchmal kommt es anders, als man denkt. Die Organisatoren des Panels Wandel, Verläufe, Übergänge: Transitionen in filmischen Gesellschaften und Narrationen hatten nicht ernstlich damit gerechnet, dass ihr Vorschlag für eine Ad-Hoc-Gruppe ins Programm aufgenommen würde. Und nun, ein wenig überwältigt vom eigenen Erfolg, hoffte man auf das Beste für die bevorstehenden Stunden. Nicht vergeblich, denn trotz des Ausfalls eines Vortrags erwies sich das Panel als ausgesprochen hörenswert, mit pointierten Vorträgen und lebhaften Diskussionen.
Zum Auftakt sprachen die Organisatoren einige einleitende Worte zu unterschiedlichen Filmgenres. Carsten Heinze (Hamburg) lenkte den Blick auf ein bislang von der Soziologie nur wenig beachtetes Genre: den Dokumentarfilm. Einerseits beanspruche er, gesellschaftliche Wirklichkeit abzubilden, andererseits inszeniere er sie. Seine besondere Stärke liege im transitorischen Charakter der Gegenstände, denn er vermag das Moment des Wandels einzufangen, sei es in Arbeitsprozessen oder bei ikonischen Ereignissen wie Woodstock.
Jan Weckwerth (Göttingen) rückte anschließend die Fernsehserie in den Fokus. Serien seien längst zu großen Erzählungen geworden: Statt kleiner Episoden entfalteten sie komplexe Welten, in denen sich das Publikum orientieren könne – wenn auch oftmals um den Preis einer sich langsamen entwickelnden Handlung. Offen bleibe, ob die Fernsehserie ihr Potenzial, gesellschaftliche Transitionen zu beschreiben, bereits verwirklicht habe. Besonders postapokalyptische Formate zeigten, wie disruptive Ereignisse kulturell verarbeitet würden und eröffneten so serielle Szenarien von Gesellschaften nach der Katastrophe.
Oliver Dimbath (Koblenz) schließlich wandte sich Spielfilmen zu, genauer: dem Roadmovie und seinen allegorischen Möglichkeiten für Zeit- und Gegenwartsdiagnosen. Mit einem Augenzwinkern präsentierte er eine von ChatGPT erstellte historische Filmchronologie, die von „Easy Rider“ (1969) über „Thelma & Louise“ (1991) bis hin zu „Mad Max: Fury Road“ (2015) reichte. Gemeinsam hätten die Filme, dass sie gesellschaftliche Umbrüche thematisierten – von der Aufbruchsstimmung der 1960er-Jahre bis zu pessimistischen Beschleunigungsdiagnosen der Gegenwart.
„Das Anthropozän im Film“ machte der erste Vortragende Markus Schroer (Marburg) zum Gegenstand seines ebenso klugen wie unterhaltsamen Beitrags „Leben in den Ruinen der Industrialisierung“. Filme wie Jim Jamuschs „Only Lovers Left Alive“ (2013) oder Ryan Goslings „Lost River“ (2014) zeigten den Untergang der Industriegesellschaft in düsteren Bildern. Nicht der Übergang, so Schroer, stehe hier im Zentrum, sondern der Untergang.
Historisch verortete er die Filme in der Petromoderne, dem Zeitalter also, in dem das Erdöl zur zentralen Energiequelle wurde und damit, so Schroer, das Anthropozän begann. Im Film werde dies mittels Fabriken, Auto- und Flugverkehr und moderner Technik dargestellt. Insbesondere Filme des 20. Jahrhunderts verfügten über einen besonderen Klang: aufheulende Motoren, quietschende Reifen, klingelnde Telefone. Überhaupt das Auto – wilde Verfolgungsjagden seien klassischer Kinostoff und kaum ein Gangsterfilm verzichte auf die obligatorische Szene in einer Autowerkstatt. Ein weiterer emblematischer Ort der Petromoderne sei die Tankstelle. Hier versorge sich eine immer mobiler werden Bevölkerung mit Energie, um an den Errungenschaften der Moderne zu partizipieren. Auch stofflich sei das Kino mit dem Erdöl verbunden – und das nicht nur, weil die Branche finanziell vom Ölkapital profitiere. Begriffe wie „Filmindustrie“ und „Traumfabrik“ erinnern daran, dass Filme eine Ware sind, die ebenso massenhaft produziert werden soll wie andere.
An Beispielen, die von der „Ölfontäne in Balakhany“ (1898) über Werner Herzogs „Lektionen der Finsternis“ (1992) bis „Killers of the Flower Moon“ reichten, zeigte Schroer, wie das Petrocinema spektakuläre Bilder erzeugt und zugleich die destruktive Seite der Menschheit kommentiert. Öl erscheint hier nicht als Naturgewalt, sondern als von Menschen herbeigeführte Katastrophe. Hatte der mit Öl übergossene James Dean in „Giant“ (1956) noch die Allianz von Männlichkeit und fossilen Brennstoffen verkörpert, stelle sich heute die Frage, wie das postfossile Kino Energie sexy machen könne – Strom hafte schließlich nicht am Körper, die glatte Oberfläche neuer Technologien tauge nur bedingt für bildgewaltige Szenen. Mit den Diskutant:innen war sich Schroer einig, dass dem Kino die Aufgabe bevorstehe, aus Entmaterialisiertem wie etwa KI epische Bilder zu machen.
Nahtlos knüpfte der nächste Vortrag an Schroers Ausführungen an. Robert Brumme (Rostock) sprach über „intelligent exposition – Das Auftauchen von KI und Transitionserzählungen in modernen Filmen“. Er zeichnete nach, wie der öffentliche Diskurs zu Artificial General Intelligence – einer KI auf menschlichem Intelligenzniveau – und Artificial Superintelligence – die die menschliche Leistungsfähigkeit um ein Vielfaches überschreitet – zwischen utopischen und dystopischen Zukunftsvisionen schwankt. Faktisch, so Brumme, sei die Entwicklung intelligenter Maschinen seit Jahrzehnten ein linearer Prozess. Der aktuelle Diskurs suggeriere jedoch, dass die KI-Technologie in jüngster Zeit große Sprünge gemacht hätte und weitere kurz bevorstünden. Der Übergang in die Singularität, also jener Zeitpunkt, ab dem die KI menschliche Intelligenz übersteigt und sich verselbstständigt, werde insbesondere in Science-Fiction-Filmen dargestellt. Denn Filme, deren Welten sich fundamental von der unseren unterschieden, stünden unter Erklärungsdruck, sie müssten die Zuschauer:innen auf ihren Stand bringen. Unter anderem am Beispiel der Matrix-Reihe (1999–2021) zeigte Brumme, mit welchen Expositionsstrategien filmische Gegenwarten in der SciFi erhellt werden: Es gab einen technischen Quantensprung, in der Folge wurde eine KI entwickelt, die ein Bewusstsein besitzt, das Drama nimmt seinen Lauf. Natürlich stünden diese Szenarien oftmals in krassem Gegensatz zum Stand der realen Forschung, doch sie prägten den dystopischen KI-Diskurs maßgeblich: Die dort dominierenden Befürchtungen bezüglich einer Artificial Superintelligence seien, so Brumme, Spiegelungen filmischer Deutungsangebote.
Insofern, so seine These, seien Hollywood-Filme, die KI zum Gegenstand haben, von elitären Annahmen über eine dystopische Zukunft durchzogen, die aktuelle und vielleicht drängendere gesellschaftliche Probleme eher verdeckten, als sie zu thematisieren. In der Diskussion wandte Jan Weckwerth ein, dass es sich dabei um Genrefilme handele, deren Aufgabe es nicht vornehmlich sei, soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Das ist zweifellos richtig. Davon unbenommen stützte die Veranstaltung insgesamt eine Diagnose, die Carsten Heinze in seiner Einführung hatte fallen lassen: „Der Film ist kein harmloses Medium.“
(Hannah Schmidt-Ott)
Eliten im Fokus
Die Elitesoziologie gehörte lange Jahre zu den Teildisziplinen der Soziologie, deren Vergangenheit – geprägt durch Klassiker wie Vilfredo Pareto, Gaetano Mosca oder Robert Michels – heller strahlte als ihre Gegenwart. Zumal in Deutschland war es um das Fach nicht zum Besten bestellt, seit es mit der Emeritierung des Darmstädter Soziologen Michael Hartmann im Jahr 2014 nicht nur seinen prominentesten Vertreter, sondern auch den einzigen Lehrstuhl verloren hatte. Während die Subdisziplin institutionell nach wie vor eher schwach ausgeprägt ist, hat sich zumindest die Forschungstätigkeit in jüngerer Zeit wieder deutlich belebt.
Über die Gründe für das neuerliche Interesse an der Elitenforschung informierte Christian Schneickert (Magdeburg), der Organisator der Ad-hoc-Gruppe Disruptive Machteliten in Zeiten globalen Wandels. Aktuelle Großprojekte in der Elitenforschung. In seiner Einführung machte er neben grundsätzlichen methodischen Überlegungen, die Entstehung und das Wirken von Eliten stärker als bisher im Zusammenhang mit Fragen der Sozialstrukturanalyse zu untersuchen, vor allem zwei inhaltliche Punkte geltend: Zum einen die wachsende Eliteverdrossenheit vieler Bürgerinnen und Bürger, die zunehmend den Eindruck hätten, dass die etablierten Eliten die ihnen gestellten Aufgaben nicht mehr angemessen erfüllen; zum anderen das Auftreten disruptiver Eliten, paradigmatisch verkörpert durch Akteure wie Donald Trump, Elon Musk oder Javier Milei, die versuchten, die Wut und Enttäuschung der Menschen für ihre politischen und ökonomischen Zwecke zu nutzen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen komme der Elitesoziologie die Aufgabe zu, reale Probleme, wie beispielsweise die mangelnde Responsivität etablierter Eliten, zu analysieren und gleichzeitig der Verbreitung von Mythen oder Verschwörungstheorien über die vermeintliche Macht von Eliten mit belastbaren Daten und Ergebnissen wirksam entgegenzutreten.
Den tatsächlichen Einfluss von Eliten zu messen, sei aber nicht leicht. Hierzu brauche es ausgeklügelte Verfahren, mit deren Hilfe sich vor allem drei Fragen beantworten lassen müssten: 1) Wie wandeln sich Eliten? 2) Wie steht es um die Machtkonzentration? 3) Wie gestalten Eliten den Wandel? Diese Fragen sollten im Rahmen der Ad-hoc-Gruppe anhand von drei konkreten Forschungsprojekten diskutiert werden. Dabei, so Schneickert, sei es das erklärte Ziel des Treffens der Ad-hoc-Gruppe, Interessierte und Forschende miteinander ins Gespräch zu bringen und ihren weiteren Austausch zu ermöglichen. Von den Anwesenden, die für einen Termin am Freitagmorgen vergleichsweise zahlreich erschienen waren und sich im weiteren Verlauf lebhaft an der Diskussion beteiligten, wurde dieses Angebot dankend angenommen.
Den ersten Vortrag hielt Lars Vogel (Leipzig), der unter der Überschrift „Elitenmonitor – Elitenzirkulation in Deutschland 2018–2022“ über Hintergründe, Methoden und Ergebnisse des gleichnamigen Forschungsprojekts informierte. Nach den Erfolgen der Alternative für Deutschland (AfD) bei den Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern 2014 und 2016 sei das Projekt 2018 mit Unterstützung der Bundesregierung aufgelegt worden, um den in öffentlichen Debatten regelmäßig geäußerten Vorwurf der Unterrepräsentation ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger in Führungspositionen zu überprüfen sowie gegebenenfalls Einflussfaktoren und Handlungsoptionen zu ermitteln. Zu diesem Zweck habe man eine Datenbank mit öffentlich zugänglichen Informationen zu rund 4000 Personen in etwa 3000 Spitzenpositionen angelegt, die unter anderem Auskunft über biografische Angaben, berufliche Positionen, Ehrenämter und Aufsichtsratsposten gebe und laufend aktualisiert werde. Mittels der darin gespeicherten Informationen ließen sich nicht nur Zirkulationsprozesse erforschen, sondern auch weitere Aspekte wie Netzwerke, Branchenwechsel, Aufstiegsgeschwindigkeiten oder regionale Verteilungen erfassen. Sollte das Projekt bis 2028 verlängert werden, worauf aktuell einiges hindeute, sei eine Weiterentwicklung zu einem regelmäßigen Monitoring geplant. Anschließend präsentierte Vogel eine knappe Zusammenfassung der wichtigsten Befunde einer multisektoralen Analyse zur individuellen Elitenzirkulation auf Basis des Elitenmonitors von 2018 und 2022, deren ausführliche Darstellung sich in einem jüngst in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschienenen Aufsatz zur Elitenzirkulation in Deutschland nachlesen lässt.
Im zweiten, „Varieties of Economic Elites“ betitelten Vortrag stellten sodann Johanna Marie Behr und Felix Bühlmann (beide Lausanne, Schweiz) das Kooperationsprojekt der World Elite Database (WED) vor, das sich den Aufbau einer internationalen prosopografischen Datenbank zum Ziel gesetzt hat, um weltweit sowohl die soziale Zusammensetzung der Wirtschaftseliten als auch die Prozesse der Elitenbildung zu untersuchen. Ursprünglich entwickelt und vorangetrieben von einer Reihe miteinander befreundeter Wissenschaftler:innen, werde das an der Universität Lausanne in der Schweiz angesiedelte Projekt inzwischen von über 100 Forscher:innen aus 22 Ländern unterstützt, Tendenz steigend.
Mit dem Projekt, so Behr und Bühlmann, wolle man der stärkeren Differenzierung der Wirtschaftseliten Rechnung tragen und geeignete Auswahlkriterien sowohl für nationale als auch international vergleichende Erhebungen erarbeiten. Im Fokus ständen dabei wirtschaftliche Akteure, die aufgrund ihrer Entscheidungsgewalt, ihres Vermögens oder ihres Einflusses über wirtschaftliche Macht verfügen. Dazu gehörten sowohl die Vorsitzenden und CEOs der größten börsennotierten und nicht börsennotierten Unternehmen eines Landes als auch die Personen an der Spitze nationaler Vermögenslisten und die Leiter:innen von Organisationen, die Regulierungsbefugnisse ausüben. Erfasst würden neben biografischen Informationen zu Geschlecht, Alter, Geburtsort und Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen auch Angaben zu sozialer Herkunft, Bildung und Vermögen sowie zu den beruflichen Positionen. Erste, auf den Daten aus insgesamt 16 Ländern basierende Ergebnisse habe man kürzlich in dem Aufsatz „Varieties of Economic Elites?“ im British Journal of Sociology veröffentlicht. Für die kommenden Jahre seien weitere Studien zu verschiedenen Schwerpunkten geplant, das Hauptaugenmerk liege jedoch auf dem weiteren Ausbau der Datenbank. Welche methodischen Herausforderungen es dabei zu bedenken und zu lösen gilt, machte die anschließende Diskussion deutlich, in der mehrere Teilnehmer:innen darauf hinwiesen, dass die für Europa und die Vereinigten Staaten ausgewählten Kriterien zur Erfassung wirtschaftlicher Macht für die meisten Staaten Afrikas und viele Länder Asiens ungeeignet seien.
Zum Schluss der Ad-hoc-Gruppe informierten Jay Rowell (Berlin) und Christian Schmidt-Wellenburg (Aachen) über das Projekt INFILTRATES, dessen voller Titel bereits eine recht gute Vorstellung von seinem Inhalt vermittelt: „Influence of Financial Elites: Trajectories, Socialization, Values, and the Repercussions of Wealth in Germany, France and the UK“. Im Zentrum des frisch von der VW-Stiftung bewilligten und von Forscher:innen aus Deutschland, England und Frankreich gemeinsam durchgeführten Projekts stehen die aufgrund ihrer beruflichen Positionen mächtigsten und einflussreichsten Akteure der politischen Ökonomie des Finanzkapitalismus. Die Angehörigen dieser für gewöhnlich gut abgeschirmten Finanzelite sollen im Rahmen der vergleichend angelegten Studie, die quantitative und qualitative Methoden miteinander kombiniert, auf ihre Sozialisation, ihre Karriereverläufe sowie ihre Weltbilder und Wertvorstellungen hin befragt werden. Von besonderem Interesse, so Rowell und Schmidt-Wellenburg, seien dabei zum einen die Selektions- und Rekrutierungsmechanismen, die bei der Auswahl und Vergabe von Spitzenpositionen eine Rolle spielen, und zum anderen die Modi und Wege, mittels derer die Finanzeliten ihre Macht auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen geltend machen und in politischen Einfluss übersetzen. Neben den genannten Prozessen interessiere man sich aber auch für die Wechselwirkungen, die zwischen der Sozialisation, den Karriereverläufen und den Wertvorstellungen der Spitzenmanager bestehen. Insgesamt wolle man im Rahmen des Projekts pro Land Informationen zu rund 300 Personen aus etwas 95 Organisationen sammeln und auswerten, wobei man neben den jeweils 20 erfolgreichsten Banken, Versicherungen und Vermögensverwaltungen auch Risikokapitalgesellschaften und Beratungsfirmen einbeziehen werde. Anlage und Umfang des Projekts, daran besteht kein Zweifel, lassen interessante Einsichten und Erkenntnisse erwarten. Ob diese am Ende auch dazu führen werden, dass die politisch verantwortlichen Akteure in den beteiligten Ländern eine erhöhte Bereitschaft zur Durchführung längst überfälliger Maßnahmen zur stärkeren Regulierung des Finanzkapitalismus entwickeln, ist eine andere Frage.
(Karsten Malowitz)
Fruchtfliegen, Zukünfte und Veränderungsmüdigkeit
Den vielen Meinungen über Duisburg lässt sich seit Freitag ein erfahrungsgesättigtes Urteil hinzufügen: Wenn Soziolog:innen die Organisation übernehmen, gelingen große Konferenzen an der Uni Duisburg-Essen bemerkenswert gut. Der 42. DGS-Kongress hat es gezeigt. Er war, wie die Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Monika Wohlrab-Sahr zu Beginn der Abschlussveranstaltung froh mitteilte, auch numerisch erfolgreich. Über 2000 Menschen hatten sich angemeldet, mehr als die Hälfte der Mitglieder der DGS. Wichtiger noch: Es war gelungen, kontroverse politische Debatten – vor allem den Streit um Israel und Gaza – offen und in wechselseitigem Respekt zu führen. Dass man sich nicht einigen konnte, war zu erwarten und schadete nicht. Großer Dank galt aus gutem Grund dem freundlichen, hilfsbereiten Orga-Team um Helen Baykara-Krumme, den vielen Helfer:innen, der „unsichtbaren Arbeit“, ohne die der Wissenschaftsbetrieb grundsätzlich und erst recht Tagungen solcher Größenordnung nicht möglich sind.
Der nächste DGS-Kongress wird schon im kommenden Jahr in Mainz stattfinden und sich den Zukünften der Gesellschaft widmen. Kolleg:innen aus Mainz skizzierten während der Abschlussveranstaltung einige Aspekte des Themas: Es geht um Zukünfte als Forschungsgegenstand, um die Soziologie als Zukunftswissenschaft und um die institutionelle Zukunft des Faches. Das Themenpapier ist bereits online zugänglich.

Ob nun der Zufall oder die kluge Regie dafür gesorgt hatte, der Duisburger Abschlussvortrag des Berliner Soziologen Steffen Mau schlug eine Brücke zwischen beiden Themen, zwischen Transitionen und Zukünften. Zuvor war Mau mit dem Preis für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie (kurz: mit dem Öffentlichkeitspreis) ausgezeichnet worden. Da seine Laudatorin Nicole Burzan nicht nach Duisburg kommen konnte, übernahm Uta Karstein die, wie sie selbst sagte, Rolle des Mediums und verlas die Lobrede, in der die beeindruckende Reihe von Büchern gewürdigt wurde, mit denen Steffen Mau die Entwicklung des Fachs geprägt und zugleich eine große Öffentlichkeit gesellschaftsanalytisch aufgeklärt hat: Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht? (2012), Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen (2017), Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft (2019), Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert (2021), Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft (gemeinsam mit Linus Westheuser und Thomas Lux, 2023), Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt (2024). Mau, so hieß es, gelinge immer wieder der Balanceakt zwischen innerwissenschaftlichen Standards und außerwissenschaftlichen Erwartungen, zwischen Differenziertheit und Zuspitzung. Dabei argumentiere er stets sachlich und unaufgeregt.
Sein Vortrag über den „Krisenhaften Wandel der Gegenwart“ bezeugte dies noch einmal auf glänzende Weise. In großer Ruhe, mit gelassener Präzision sortierte Steffen Mau das Feld der gesellschaftlichen und politischen Reaktionen auf Veränderungsstress wie Veränderungsmüdigkeit. Das Bild, das er dabei zeichnete, war kein erfreuliches, und doch stellte sich beim Zuhören jene innere Heiterkeit ein, die Erkenntnis meist begleitet. Es bereitete Vergnügen, Maus pathosfreier Gegenwartsdiagnose zu lauschen. Diese setzt sich, wie alle soziologische Deutung, dem Risiko aus, dass die Gesellschaft sich missverstanden fühlt. „Der Fruchtfliege“, so Mau, „mag es egal sein, was Wissenschaft über sie befindet, den Insassen einer Gesellschaft eher nicht.“ Die Beforschten melden sich gern zurück und haben als „Alltagsexperten des Gegenstands“ dafür gute Gründe.
Obwohl der „soziale Wandel“ schon immer ein Thema der Soziologie gewesen sei, existiere bis heute kein einheitlicher theoretischer Rahmen, diesen zu erfassen, gar zu erklären. Gesellschaften zeichne immer ein Zugleich von Stabilität und Wandel aus, doch gebe es abrupte, destabilisierende Veränderungen, die als krisenhafter Wandel erlebt würden. Eine solche Krise lasse sich derzeit angesichts beschleunigten Wandels und gesellschaftlicher Dynamisierung beobachten. Die Hyperdynamisierung aller sozialen Verhältnisse, die Steigerung von Komplexität, der Veränderungsschub setzten Gesellschaften unter Druck. Sie forderten Routinen und eingespielte Bewältigungsformen von Veränderungen wie Konflikten heraus. Der Stress steige in solchen „Phasen mit Amplituden sozialen Wandels“.
Gegenwärtig lassen sich viele Anzeichen eines sozialen Umbruchs beobachten. Mit beschleunigtem Wandel wächst die Neigung, sich diesem zu verweigern. Mau versuchte in seinem Vortrag, den gegenwärtigen Umgang mit Veränderungen zu kartieren, deren Vielzahl und Dynamik als Zumutung oder Überforderung erlebt werden. Wandel sei zu etwas geworden, das Angst mache. „Ich komme da nicht mehr mit“, sagen die einen, während die anderen fragen: „Wo soll das alles hinführen?“ Gewiss, es gibt noch jene, die Veränderungen befürworten, fordern, aktiv gestalten wollen. Doch wächst die Zahl der Veränderungsmüden. Sie lehnen politisch induzierten Wandel ab oder fliehen vor den Makrounsicherheit in Mikrosicherheiten. Wir müssen von einer Vielzahl unterschiedlicher Geschwindigkeitsbefähigungen ausgehen, mit den Starren, den Schnellen, den Konformitätsbedürftigen, den Langsamen, den Mittelschnellen und anderen mehr rechnen. Selbstverständlich korrespondiere die Reaktion auf beschleunigten Wandel mit der Stellung in der Sozialstruktur. Wie sie ausfalle, sei nicht zuletzt eine Ressourcenfrage, hänge mit Einkommen, Vermögen, kulturellen Kompetenzen zusammen, von Affektlagen und Dispositionen ab.

Steffen Mau vermaß die Konfliktlandschaft anhand der politischen Haltung zu Veränderungen, anhand der unterschiedlichen Weisen, Wandel und Dynamik politisch zu bewirtschaften. Das war erhellend. Er begann mit progressiver Politik, die Veränderung bejaht, den Aufbruch in eine andere, als besser imaginierte Welt verspricht. Sie stoße zunehmend auf die „Beharrungskraft der Gesellschaft“. Das Versprechen, Veränderung bedeute Verbesserung, habe an Überzeugungskraft eingebüßt. Progressive setzten derzeit, so Mau, vor allem auf Nudging oder „die Mobilisierung von Außerordentlichkeit“, um Leidenschaft für Veränderungen zu wecken. Gern verschleierten auch sie die Kosten oder verlagerten sie in die Zukunft. Dass gerade Linke – wie andere auch – „Risikopolitik“ (Andreas Reckwitz) betreiben, trage nicht dazu bei, die Appelle an Aufklärung und Wissen überzeugender klingen zu lassen.
Konservative propagieren nach Mau eine „Politik der Verlangsamung und der Kontinuitätsbewahrung“. Ihre Botschaft lautet: „Zwar ändert sich die Welt, aber es muss auch einen angemessenen Platz für Deine Lebensweise und Deine Kontinuitätsbedürfnisse geben.“ Das Versprechen der Verlangsamung und Bewahrung ist in einer sich rasant wandelnden Welt prekär. Mau erinnerte an konservative Modernisierungsprojekte wie die preußischen Reformen nach 1806, Bismarcks Sozialpolitik, die kulturelle Liberalisierung der CDU. Und er charakterisierte den Graubereich eines radikalisierten Konservatismus, der bereit ist, Freiheitsrechte zugunsten von Ordnung einzuschränken und Modernisierungsgewinne prinzipiell infrage zu stellen. Diese Übergänge vom Konservativen zum Reaktionären und Autoritären werden uns in den kommenden Jahren wahrscheinlich noch häufiger beschäftigen.
Nach den Progressiven und den Konservativen wandte sich Mau den Rechtspopulisten zu, dem „populistischen Nostalgismus“. Dieser sei antipluralistisch und elitenkritisch, imaginiere und verabsolutiere den „einheitlichen Volkswillen“. Seine Botschaft: „Nicht Du musst Dich verändern, sondern die Welt muss sich auf Deine Bedürfnisse einstellen und Deiner eigenen Lebensweise allgemeine Geltung verschaffen.“ Die Botschaft schließe, so Mau, an Überforderungsgefühle an, erzeuge und nähre ein aggressives Bedürfnis nach „Abgrenzung und Abrechnung“, bewirtschafte in „Status-quo-ante-Fixierung“ das, was Botho Strauß „Einstweh“ genannt hat.
Zu diesen drei geselle sich inzwischen der Libertarismus als eine auf den ersten Blick paradoxe Form, Veränderungsmüdigkeit zu adressieren. Ob mit oder ohne Kettensäge: Rechtslibertäre fordern den radikalen Bruch mit der bestehenden Ordnung, einen „Wandel, der keine Bremsen mehr kennt“. Entstanden im Umkreis absurd reicher Tech-Unternehmer, überträgt dieser Libertarismus das Modell des Marktes auf die gesamte Gesellschaft und verabsolutiert individuelle Freiheit. Er strebt die „Befreiung von jeder Form politischer Beschränkung“ an, agitiert und arbeitet für die „politisch hergestellte Unterbrechung des Normalbetriebs“. Seine Botschaft: „Jetzt ist der Zeitpunkt, um einen radikalen Bruch der bestehenden Ordnung herbeizuführen, um endlich zu einer besseren Welt zu kommen.“ Er verheißt eine Lösung aller Probleme durch Technologie und Entgrenzung, man kann ergänzen: Enthemmung. Er ist gegen die „Austarierung von Interessen“, gegen Partizipation, Minderheitenrechte, gegen die „Vetomacht der Demokratie“. Mau hat dies nur angedeutet, nicht ausgeführt, aber seine Skizze stärkt die Vermutung, dass die Kombination von rechtspopulistischen und libertären Angriffen auf die liberalen Demokratien zur größten politischen Herausforderung der kommenden Jahre wird. Die libertäre Sehnsucht nach dem radikalen Neuanfang finde paradoxerweise Resonanz auch bei jenen, die nach Stabilität und Sicherheit suchen, selbst „Biederkeits- und Harmoniemilieus“ fänden Gefallen an der umstürzlerischen Geste. Die „Flucht nach vorn“ und das Veränderungsunbehagen vertragen sich gut, für Mau sind Veränderungserschöpfung und Disruptionslust zwei Seiten einer Medaille.
Man sollte von Steffen Mau eine stärkere Differenzierung im progressiven oder linken Lager einfordern. Das Verhältnis zu Zukunftsversprechen und Wandel ist ja doch sehr verschieden bei der Linken, den Grünen, den Klimaaktivist:innen, der Sozialdemokratie oder in Hybridsekten wie dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Möglicherweise lassen sich innerhalb des progressiven Lagers, das nie als Lager agiert, auch alle anderen Umgangsweisen mit tatsächlichen, erwünschten, erforderlichen Veränderungen finden: die konservative, die populistische, die libertäre. Diese Nachfrage nimmt den Schlussfolgerungen Maus nichts von ihrer Überzeugungskraft: Im Transformationsstress, den liberale Demokratien derzeit erleben, ist es wohl eine Schwäche der Progressiven, Wandel in Fortschritts- und Emanzipationsbegriffen zu denken, ihn als Aufklärung, Zivilisierung, Demokratisierung zu fassen, statt der ungleichen Erfahrung sozialen Wandels „in Begriffen der Ambiguität“ Rechnung zu tragen. Was kommt, kann niemand wissen. Maus Hinweis, dass wir es mit einer größeren Kontingenz politischer Entwicklungen zu tun haben, verdient höchste Aufmerksamkeit. In solchen Augenblicken, in denen zu Recht von critical juncture gesprochen wird, können einzelne Entscheidungen oder Unterlassungen pfadbestimmende Wirkung haben. Was kommt, ist nicht eine Fortführung bisher zu beobachtender Trends. Die Zukünfte werden kontingenter und umkämpfter. Auch darüber wird in zwölf Monaten in Mainz zu reden sein.
(Jens Bisky)
Anmerkung der Redaktion: Im Rahmen der Abschlussveranstaltung wurde auch Soziopolis mit dem Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie ausgezeichnet. Heinz Bude, Preisträger des Jahres 2016, hielt die Laudatio und lobte unter anderem die „fetzigen Überschriften“ auf diesem Portal. Wir freuen uns kolossal über den Preis und verstehen ihn als Aufforderung, unsere Arbeit fortzusetzen – mit Sorgfalt, Leidenschaft und Freundlichkeit.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Henriette Liebhart.
Kategorien: SPLITTER
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