Lore Knapp | Interview |

„Durch die Akteur-Netzwerk-Theorie kann auch die Geschichte der Ästhetik neu beleuchtet werden“

Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour

Welches Buch von Bruno Latour war für Sie besonders wichtig?

Lange nach seinen ersten Beiträgen zur Akteur-Netzwerk-Theorie hat Bruno Latour die Einführung Reassembling the Social (2005) veröffentlicht, die in der deutschen Übersetzung von Gustav Roßler den treffenden Titel Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (2007) trägt. Dieses Buch war für mich besonders wichtig, weil es die Akteur-Netzwerk-Theorie immer wieder neu ansetzend, anhand von eingängigen Gesprächen sowie aussagekräftigen Beispielen leicht verständlich vermittelt. Dort schreibt Latour etwa von „intellektuellen Technologien“, also der Art und Weise, wie bestimmte Materialien – Dokumente, Schriftstücke, Diagramme, Dateien oder auch Büroklammern – jeweils als Akteure innerhalb eines Netzwerks dazu beitragen, dass ein Text zustande kommt.

Was war Latours wichtigster Beitrag zur Soziologie beziehungsweise den Kulturwissenschaften?

Das grundlegende Denkmodell der Akteur-Netzwerke ist meiner Auffassung nach Latours wichtigster Beitrag zu den Geistes- und Sozialwissenschaften. Mit dessen Hilfe lassen sich sämtliche historische und zeitgenössische Begebenheiten neu denken. „There is nothing but networks, nothing between them“, schreibt Latour in dem Aufsatz On actor-network theory: A few clarification (1996). Er empfiehlt, die gesamte Wirklichkeit als Akteure zu denken, die einander anstoßen beziehungsweise Impulse geben. Es ist nur relevant, was als Akteur in irgendeiner Wirkungsbeziehung zu einem anderen Akteur steht. Ein Aktant (beispielsweise ein Mensch oder ein Objekt) wird in dem Moment zu einem Akteur, in dem er einen anderen Akteur anstößt und aktiviert. Das kann eine Webseite sein, die mich über eine Veranstaltung informiert, die ich dann weiterverbreite und dadurch andere Menschen dazu bewege, daran teilzunehmen, was wiederum weitere Wirkungen zur Folge hat. Es kann auch ein Messer sein, das ich greife, um eine Apfelsine zu schälen, die mir Energie gibt, mit der ich weiter agiere. In Latours Akteur-Netzwerk-Theorie geht es in erster Linie darum, Impulse und ihre Wirkungen nachzuzeichnen. Weder Deutungen noch Erklärungen sind nötig, wenn Akteur-Netzwerke detailliert genug aufgearbeitet werden. Dargestellt als Akteur-Netzwerk, kann auch die Geschichte der ästhetischen Theoriebildung neu beleuchtet werden. So erscheint zum Beispiel die Rezeption britischer Schriften in der Aufklärungsästhetik in einem neuen Licht. Welche Zeitschriften-Herausgeber, Rezensenten, Verleger, Übersetzer, Dozenten und Schriftsteller trugen dazu bei, dass der empirischen Ästhetik zuzuordnende Schriften aus Großbritannien sich im 18. Jahrhundert auch im deutschsprachigen Raum verbreiteten? Das ließe sich ebenso im Detail nachzeichnen wie die hemmenden Impulse und hochschulpolitischen Entscheidungen, die verhinderten, dass die empirische Ästhetik im deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts eine tragende Rolle spielte. Die Akteur-Netzwerk-Theorie wird so zur Methode der Geschichtsdarstellung.

Welches Konzept beziehungsweise welche Intervention Latours sollte man weiterdenken?

Die Akteur-Netzwerk-Theorie birgt großes Potenzial, um grundlegende Fragen im Licht gegenwärtiger gesellschaftlicher Herausforderungen zu verhandeln – von Politik und Geschichte über Ästhetik und Literaturwissenschaft bis hin zu den drängenden Fragen planetarer Grenzen, Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit. Bruno Latour hat einen theoretischen Ansatz entwickelt, um Akteure anzustoßen, die die Folgen des Klimawandels eindämmen und im komplexen Zusammenspiel eine nachhaltige Transformation unserer Gesellschaft bewirken können. Ihn weiter zu denken ist heute drängender denn je.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Nikolas Kill, Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Geschichte Kunst / Ästhetik Methoden / Forschung

Lore Knapp

Lore Knapp ist Literaturwissenschaftlerin und lehrt an der Universität Bielefeld. Sie forscht zur Neueren deutschen Literatur, Ästhetik und allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, mit Schwerpunkten bezogen auf Literatur-, Kunst- und Medientheorie. Sie publizierte zur Akteur-Netzwerk-Theorie und im Dezember erscheint ihr Buch Empirismus und Ästhetik. Zur deutschsprachigen Rezeption von Hume, Hutcheson, Home und Burke im 18. Jahrhundert.

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