Frauke Hamann | Rezension | 20.08.2020
Ein gefährliches Gefühl
Rezension zu „Über Nationalismus“ von George Orwell
Im nun erstmals in deutscher Sprache erschienenen Essay Über Nationalismus des englischen Romanciers und Journalisten George Orwell (1903–1950) geht es nicht um Nationalismus im engeren Sinne. Angesichts des Zugangs zum Originaltext Notes on Nationalism und eines englischsprachiges YouTube-Videos stellt sich die Frage nach der Aktualität eines Textes, den Orwell 1945 verfasste, kurz nach Erscheinen seines Romans Animal Farm. Die Lektüre zeigt: Es ist ein pointiert komponierter Essay gegen alle Formen von ressentimentgeladener Borniertheit und Wahrheitsvergessenheit.
Entscheidend für eine Reflexion über „Nationalismus“ ist die Klärung des Begriffs – Orwell stellt sie gleich an den Anfang: „Mit ‚Nationalismus‘ meine ich zunächst einmal die verbreitete Annahme, dass sich Menschen wie Insekten klassifizieren lassen und ganze Gruppen von Millionen oder Abermillionen Menschen mit dem Etikett ‚gut‘ oder ‚böse‘ belegt werden können. Zweitens meine ich damit die Angewohnheit, sich mit einer einzigen Nation oder einer anderen Einheit zu identifizieren, diese jenseits von Gut und Böse zu verorten und keine andere Pflicht anzuerkennen als die, deren Interessen zu befördern.“ (S. 7)
Vor allem sei Nationalismus nicht mit Patriotismus zu verwechseln: „Patriotismus ist von Natur aus defensiv, militärisch wie kulturell. Der Nationalismus hingegen ist untrennbar mit dem Streben nach Macht verbunden.“ (S. 8) Machthunger, gedämpft durch Selbsttäuschung, sei dem Nationalismus eigentümlich, ein wirklich rationaler Zugang daher kaum möglich. Nationalismus setze Realitätssinn, Geschmack und auch moralisches Empfinden außer Kraft – wie nicht nur die Elogen auf Stalin zeigen, die zahlreiche Intellektuelle weltweit verfassten, sondern auch die hanebüchenen Deutungen des Hitler-Stalin-Paktes von 1939. Nationalistische Loyalitäten absolut zu setzen, darin seien sich die Anhängerinnen und Anhänger verschiedener, vermeintlich sogar entgegengesetzter Denkrichtungen einig. Orwell verdeutlicht die ideologische Bandbreite des Nationalismus am politischen Katholizismus seines Schriftstellerkollegen Gilbert Keith Chesterton. Der englische Autor, Erfinder von „Pater Brown“, dem Protagonisten einer ganzen Serie von Kriminalgeschichten, habe „die geschmacklosesten Schwulstbrocken“ verfasst, um in ermüdender Intensität die Überlegenheit des Katholiken gegenüber dem Protestanten darzulegen.
Eines der drei Merkmale des Nationalismus sei die Obsession. So hätten die Kombattanten im Spanischen Bürgerkrieg, Orwell kämpfte auf der republikanischen Seite und wurde schwer verwundet, untereinander neun oder zehn Namen verwendet, um die unterschiedlichen Grade von Verbundenheit oder Abneigung auszudrücken – ohne dass sich die beiden Streitparteien auf einen einzigen hätten einigen können. Ein Schelm, wer dabei an die ideologischen Grabenkämpfe der K-Gruppen im Westdeutschland der 1970er-Jahre denkt. Instabilität sei ein weiteres Kennzeichen des Nationalismus. Das Objekt nationalistischer Gefühle sei austauschbar, aber keineswegs deren Intensität. Ob jemand Gott, dem König oder dem Union Jack huldigt – die Götzen könnten stürzen, kehrten jedoch unter anderem Namen stets wieder und würden erneut guten Gewissens verehrt. Das dritte Merkmal des Nationalismus – so Orwell – sei die Gleichgültigkeit gegenüber der Realität. „Aktionen werden entweder als gut oder schlecht erachtet, nicht aufgrund ihrer selbst, sondern je nachdem, wer sie ausführt.“ (S. 20) Es gäbe kaum eine Untat, die ihre moralische Färbung nicht ändere, wenn sie von der „eigenen Seite“ begangen werde. Diese „Gleichgültigkeit gegenüber objektiver Wahrheit“ (S. 23) führt dazu, dass jeder Nationalist überzeugt ist, die Vergangenheit lasse sich ändern und die Geschichte umschreiben. Wer verrückten Überzeugungen anhänge, ziehe die Tatsachen eben in Zweifel – gleich, um welche Fakten es sich handle. Damit klingt bereits Orwells clean sweep aus seinem dystopischen Roman 1984 an, kraft dessen der öffentliche Raum von allen Zeugnissen der Geschichte gesäubert werden soll, die nicht den gängigen Maßstäben politischer Korrektheit entsprechen. So schreibt das sogenannte Ministerium für Wahrheit die Geschichte nach Maßgabe derjenigen Vorstellungen um, die das totalitäre Regime vorgibt.
Orwell verdeutlicht den Mechanismus einer derartigen Mentalität in ihrer unerbittlichen Konsequenz: Wer das Gefühl haben will, die eigene Nation, Einheit, Gruppe gewinne die Oberhand über irgendeine andere, kann sich diese Empfindung umso leichter verschaffen, „wenn er einen Widersacher aussticht, anstatt die Fakten dahingehend zu prüfen, ob sie ihm recht geben“ (S. 25). Abweichung wird verdammt. Es geht um die geistige Ruhe der Selbstbestätigung. Der Trotzkist ist gegen Stalin, so wie der Kommunist für ihn ist. Beide sind gleichermaßen fixiert auf ein einziges Thema. Aus dieser Fixierung, so Orwells Argument, rühre die Unfähigkeit, „sich eine wirklich rationale Meinung auf der Basis von Wahrscheinlichkeiten zu bilden“ (S. 34). Nationalisten sind demnach Menschen, deren Urteile von ihren Wünschen bestimmt werden. Fakten werden schlichtweg nicht zugelassen. Die Verabsolutierung der eigenen Position wirkt fatal: Die selbstgewählte Bornierung begrenzt den Horizont eigenen Wahrnehmens und Denkens irreversibel, wie Orwells Beispiele aus dem Entstehungsjahr des Essays verdeutlichen: Dem britischen Tory ist 1945 die Vorstellung unerträglich, dass Großbritannien aus dem Zweiten Weltkrieg mit weniger Macht hervorgeht, der irische Nationalist kann nicht einräumen, dass Irland nur dank britischen Schutzes unabhängig bleiben kann.
Zählt in erster Linie Loyalität, geht das Unrechtsempfinden verloren. Mitgefühl und Bedauern werden belanglos. Der Nationalist demonstriert Stärke in dem Bewusstsein, einer Sache zu dienen, die größer ist als er selbst. So sei er sich unerschütterlich sicher, im Recht zu sein. „Das dauerhafte Ziel jedes Nationalisten besteht darin, immer mehr Macht und immer mehr Prestige anzuhäufen, nicht für sich selbst, sondern für die Nation oder eine andere Einheit, der er seine Individualität geopfert hat.“ (S. 8)
Wie der Soziologe Armin Nassehi im Nachwort herausstellt, regt die Lektüre von Über Nationalismus dazu an, über Gruppenantinomien, kollektive Zugehörigkeiten und diskursive Ausschließungsmechanismen nachzudenken. Gerade in Orwells Analyse der Unbedingtheit kulturkämpferischer Auseinandersetzungen und ihrer geradezu konstitutiven Unversöhnlichkeit sieht Nassehi den aktuellen Bezug des wiederveröffentlichten Texts. Bedrohlich ist die Tendenz, „komplexe politische Fragen in einer blendenden moralischen Gewissheit“ aufzulösen“ (Mark Lilla). Orwell präsentiert den Nationalismus als eine vollkommen selbstbezogene Haltung, die resistent ist gegen jede Aufklärung. In gewissem Sinne hätten alle Essays von Orwell ihren Ursprung in dessen Auseinandersetzung mit doktrinärem Denken, hat Lutz Büthe in seinem Buch Auf den Spuren George Orwells. Eine soziale Biographie geschrieben. Wie zutreffend diese Charakterisierung ist, belegt Eingangs- wie Schlussbemerkung von Orwell: Der Nationalismus, heißt es, sei eine Emotion. Und nationalistische Liebes- und Hassgefühle gehörten zur Grundausstattung jedes Menschen, „ob wir wollen oder nicht.“ Gegen die Gefahr, dass derartige Affekte das eigene Urteilsvermögen kontaminiere, helfe nur die Bereitschaft, sich die eigene Voreingenommenheit immer wieder bewusst zu machen. Ob eine solche Reflexivität angesichts illiberaler und autoritärer Neuangebote reichen wird?
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Rassismus / Diskriminierung Macht Affekte / Emotionen
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Empfehlungen
Geschichte vor Ort
Rezension zu „Blumen und Brandsätze. Eine deutsche Geschichte, 1989–2023“ von Klaus Neumann
Die Klimaanlage des bürgerlichen Selbst
Rezension zu „Bürgerliche Kälte. Affekt und koloniale Subjektivität“ von Henrike Kohpeiß
Deutungen, bitte!
Rezension zu „Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“ von Cornelia Koppetsch