Peter Bescherer | Rezension | 29.01.2025
Region und Regression
Rezension zu „Brennpunkte der ‚neuen‘ Rechten. Globale Entwicklungen und die Lage in Sachsen“ von Stefan Garsztecki, Thomas Laux und Marian Nebelin (Hg.)

Warum eigentlich immer wieder Sachsen? Warum hat sich 2014 dort, genauer: in Dresden, die Organisation „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) gegründet und konnte zehn Jahre lang bestehen? Warum führte im Sommer 2018 in Chemnitz eine tödliche Auseinandersetzung am Rande eines Stadtfestes zu gewalttätigen Ausschreitungen und rechtsextremen Großdemonstrationen? Warum konnte früher die NPD und kann heute die AfD in Sachsen Spitzenwerte bei den Wahlen einfahren, der NSU ein Unterstützernetzwerk in Chemnitz und Zwickau aufbauen, eine braune Zivilgesellschaft Tausende gegen Geflüchtete, Corona-Schutzmaßnahmen oder steigende Energiepreise auf die Straßen bringen? Schon mehrfach wurden diese Fragen gestellt.[1] Der vorliegende, aus einer Ringvorlesung an der TU Chemnitz hervorgegangene Sammelband verspricht Antworten, die regionale und globale Aspekte verbinden.
In der instruktiven Einleitung erläutern und begründen die Herausgeber ihren Zugang zum Verständnis des gesellschaftlichen Rechtsrucks (besser wäre es wohl – weniger Plötzlichkeit suggerierend – von einer zunehmenden „Rechtsverschiebung“ zu sprechen). Es müsse die Besonderheit der Region einerseits, der globale Krisenkontext andererseits berücksichtigt werden. Zudem bestimmen Stefan Garsztecki, Thomas Laux und Marian Nebelin die soziale Bewegung, die den „Rechtsruck“ vorantreibt, als jene sich selbst als „Neue Rechte“ bezeichnenden Gruppierungen, Netzwerke und Organisationen. Mit dem Gegenbegriff werde, wie später im Buch erläutert wird, eine Differenz zur „alten“ Rechten markiert, die nach 1945 als diskreditiert gelten musste. So ist die Bezeichnung der „Neuen Rechten“ vor allem als Versuch zu verstehen, sich von den Schrecken des Nationalsozialismus und des historischen Faschismus zu entlasten (S. 259 f.). Aber weder die Rede vom „Ethnopluralismus“, der den Rassismus differenzialistisch aufpoliert, noch der Bezug auf Demokratie, verstanden als unverwässerte „Volksherrschaft“, und auch nicht die konstruierte Traditionsgeschichte einer „konservativen Revolution“, in die NS-Größen eingemeindet werden, stellen eine substanzielle Veränderung dar. Die Autor:innen halten daher fest, die Unterschiede zwischen der alten und neuen rechten Bewegung seien „mehr äußerlich-strategischer Art denn inhaltlicher Natur“ (S. 260) und setzen die Neuigkeit denn auch konsequenterweise in distanzierende Anführungszeichen („neue“ Rechte).
Ernstnehmen wollen Garsztecki, Laux und Nebelin die „neue“ Rechte hingegen als Protagonisten einer „Kulturrevolution von rechts“, die einer ihrer Wortführer und Theoretiker, der französische Philosoph Alain de Benoist, mit einem gleichnamigen Buch bereits 1985 ankündigte. Die Netzwerke, Publikationen und Kampagnen von und um AfD, Identitäre Bewegung oder das Institut für Staatspolitik seien, so das Autorentrio, darin erfolgreich, die politische Kultur in ihrem Sinne zu verändern, also auf der vorreflexiven Ebene des Politischen ihren Positionen Legitimität zu verschaffen. Das tun sie etwa, indem sie Begriffe prägen (beispielsweise die Rede vom „Ethnopluralismus“, S. 192, oder von „globalen Eliten“, ebd.), gesellschaftliche Diskurse unterwandern oder Brücken zwischen verschiedenen Milieus schlagen.
Dabei sei die „Öffnung der gesellschaftlichen Mitte für die Ideologie der ‚neuen‘ Rechten“ (S. 19) auf Wert- oder Identitätskonflikte ebenso wie auf Verteilungskonflikte zurückzuführen. Wie genau es sich damit verhält, ist aber nicht die Leitfrage des Buches. Die Herausgeber interessieren sich stattdessen insbesondere dafür, „ob und gegebenenfalls inwiefern Sachsen ›lediglich‹ ein Brennglas überregionaler Trends oder aber doch eine im besonderen Maße durch vorgefundene Rahmenbedingungen rechtsextreme Einstellungen und Haltungen befördernde Region ist“ (S. 28). Inwiefern Ort und Region politische Orientierungen und Gesellschaftsbilder oder auch Wahlentscheidungen beeinflussen, berührt einen brennenden Punkt, wie nicht zuletzt rezente Debatten über Stadt und Land oder Ost- und Westdeutschland zeigen. Ist der Raum ein eigenständiger Faktor in der Gleichung zur Erklärung rechter Hegemonie, der unabhängig von Individualmerkmalen wirkt? Die Forschungslage dazu ist keineswegs eindeutig.[2] Umso besser, dass der Band dieser Frage nachgeht und zu weitergehenden Überlegungen anregt. Letztere – so viel sei an dieser Stelle bereits gesagt – werden jedoch von den Beiträgen dann gar nicht aufgegriffen.
Die Aufsätze sind zwei Themenfeldern zugeordnet: erstens Texte, die sich mit der „neuen“ Rechten in Sachsen beschäftigen (S. 47 ff.), zweitens solche, die „europäische und globale Schlaglichter“ (S. 179 ff.) werfen.
In den Beiträgen mit Bezug zu Sachsen werden lokale und regionale Netzwerke, konkrete Akteure und Strategien der „neuen“ Rechten sowie das gesellschaftliche Klima, in dem sie operiert, thematisiert. Mit Chemnitz betrachten Johannes Grunert und Johannes Kiess einen „Knotenpunkt“ (S. 157 ff.), an dem Parteien, Kameradschaften, Fußball-, Kampfsport- und Musikszene, Rechtsterrorismus, völkische Siedlungsinitiativen und Straßenproteste aufeinandertreffen. Mit Blick auf ihre „Agilität, Heterogenität und Bewegungsorientierung“ (S. 173) könne die extreme Rechte nicht in „alte“ und „neue“ Ausprägungen unterschieden werden, so die Autoren. Die Kleinstpartei „Freie Sachsen“, deren spärliches Personal ebenfalls im Raum Chemnitz angesiedelt ist, steht im Zentrum des Beitrags von Susanne Rippl (S. 97 ff.). Desinformation, Diskursverschiebung und Mobilisierung sieht die Autorin als wesentliche Ziele der intensiven Social-Media-Aktivitäten der Partei. Unterstützt durch die Logik der Algorithmen gelinge es der extremen Rechten, „Legitimationsbrücken in die Mitte der Gesellschaft herzustellen und rechtsextreme Narrative in Alltagsdiskursen zu normalisieren“ (S. 103 f.). Solche Brücken – in diesem Fall in alternative Milieus – schlägt auch die dem Bereich der rechten Esoterik zuzuordnende Anastasia-Bewegung, die Manuela Beyer in den Blick nimmt (S. 137 ff.). Auch wenn die Anastasia-Idee, durch die Gründung von Familienlandsitzen mit Biolandbau eine bessere Welt zu schaffen, Anhänger:innen im gesamten politischen Spektrum findet, leistet die Organisation rechten Denkmustern Vorschub. Das führt Beyer zurück auf das unpolitische Selbstverständnis der Szene (‚links‘ und ‚rechts‘ werden als Kategorien der Manipulation durch interessierte Dritte verstanden), ihr völlig unkritisches Verständnis von Toleranz (das die Intoleranten bei der Abschaffung von Toleranz gewähren lässt) sowie ihren naiven Emotionsdiskurs (Liebe als reinste Form des Guten, die Fragen nach Abhängigkeit und Ausgrenzung – Liebe zu Volk und Führer – aushebelt).
Welche Deutungsrahmen (Frames) oder Narrative die „neue“ Rechte zur Anwendung bringt, wird in weiteren, quantitativ-empirisch gestützten Beiträgen untersucht. Während Sarah Tell rekonstruiert, inwiefern die sächsische AfD die Straßenproteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen in die Kanäle der institutionellen Politik einspeist (S. 75 ff.), leuchtet Julian Polenz das sozialräumliche Milieu aus (ethnisch homogen, geringe Kirchenbindung), in dem die AfD in Sachsen besonders erfolgreich ist und an das sie ihre Strategien anpasst (S. 47 ff.). In der Einstellungsuntersuchung von Frank Asbrock und Deliah Bolesta rückt mit dem verbreiteten „Glauben an eine gefährliche Welt“ (S. 122) schließlich das gesellschaftliche Klima in den Fokus, das sich die „neue“ Rechte in Sachsen zu Nutze macht.
Die „europäischen und globalen Schlaglichter“ im zweiten Teil des Bandes erweisen sich nach Lektüre der entsprechenden Aufsätze mehrheitlich als „ortlos“, zumindest spielen Beziehungen zwischen der lokalen und der supralokalen Ebene kaum eine Rolle. Lesenswerte Beiträge steuern insbesondere Christoph Wolf sowie das Autor:innentrio Frank Görne, Katarina Nebelin und Marian Nebelin bei. Sie arbeiten anhand der Antikenrezeption geschichtspolitische Manöver der „neuen“ Rechten in Frankreich, Deutschland und den USA heraus. Dazu gehört der in spezifischer Weise selektive Bezug auf die Vergangenheit, der stärker von populärkulturellen Bezügen bestimmt ist als von der Auseinandersetzung mit der widersprüchlichen historischen Überlieferung. Das konkretisieren die Autor:innen beispielhaft anhand des in Kreisen der Identitären Bewegung abgefeierten Hollywoodfilms 300. Wolf wiederum dekonstruiert den Mythos, AfD & Co. würden eine pro-israelische Position vertreten: „Bei genauerer Betrachtung stehen derartige Solidaritätsbekundungen […] meist im Kontext antimuslimischer Agitation.“ (S. 186) Der Beitrag kommt ausnahmsweise auf Maßnahmen gegen Rassismus und Diskriminierung zu sprechen, bescheidet sich dabei de facto jedoch mit dem Hinweis darauf, pädagogisches Personal müsse über umfassende Kenntnisse bezüglich der verschiedenen Akteure der „neuen“ Rechten und ihrer „rhetorischen Tricks“ verfügen (S. 193 f.), um sie enttarnen und korrekt einordnen zu können. Marcus Nolden beobachtet, wie mit Hilfe von Social-Media-Hashtags „algorithmische Querfronten“ gebildet werden (S. 199 ff.), während Heidrun Friese in einem langen Aufsatz die europäische Migrationspolitik beschreibt als Manifestation einer Biomacht, die als Normierungsmacht in Institutionen wie auch im Alltag wirkt (S. 223 ff.). Den Band beschließen Aufsätze zu Polen (von Stefan Garsztecki, S. 299 ff.) und Tschechien (von Lukáš Novotný, S. 319 ff.), die im Grunde genommen einen Überblick rechter Parteien und Gruppierungen in beiden Ländern geben und eine Einschätzung dazu formulieren, ob es sich bei tonangebenden Akteuren um Vertreter der „neuen“ Rechten handelt.
Zusammenfassend kann man dem Buch die Tiefe zugutehalten, in der die „neue“ Rechte beschrieben wird; auch die Breite der methodischen Zugänge ist beachtlich. Leider wird jedoch die in Titel und Einleitung suggerierte Problematik der Verflechtung zwischen den räumlichen Scales, nämlich dem Bundesland Sachsen und Teilen der Welt, nicht angemessen weiterentwickelt. Dafür fehlt auch die Einbettung in Forschungsdebatten zu räumlichen Mustern von Wahlentscheidungen oder politischen Einstellungen sowie zur Räumlichkeit sozialer Praxis im Allgemeinen. In ähnlicher Art vielversprechend ist der Anschluss, den die Herausgeber an die politische Kulturforschung suchen, den die Beiträge wiederum nur vereinzelt oder indirekt herstellen können. Letztlich bildet der Band somit eine Unentschiedenheit ab, die weite Teile der Fachdiskussion über Polarisierung und Rechtsverschiebung kennzeichnet: In welchem Verhältnis stehen die gesellschaftliche Mitte und ihr Rand? Und: Ist eine solche Topologie überhaupt sinnvoll anzuwenden?
Fußnoten
- Vgl. etwa Lars Geiges / Stine Marg / Franz Walter, Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2015; Heike Kleffner / Matthias Meisner (Hg.), Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen, Berlin 2017.
- Einen aktuellen Beitrag aus der quantitativen Sozialforschung legen Kai Arzheimer und Theresa Bernemann vor in: dies., „Place“ does matter for populist radical right sentiment, but how? Evidence from Germany, in: European Political Science Review 16 (2024), 2, S. 167–186.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Affekte / Emotionen Demokratie Gesellschaft Gewalt Rassismus / Diskriminierung
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