Jannis Panagiotidis | Rezension | 08.11.2024
Geschichte vor Ort
Rezension zu „Blumen und Brandsätze. Eine deutsche Geschichte, 1989–2023“ von Klaus Neumann
Klaus Neumanns Buch „Blumen und Brandsätze“ über die Aufnahme von Schutzsuchenden in Deutschland seit 1989 ist aus einer biografisch interessanten Perspektive geschrieben: Neumann ist Deutscher, war aber sehr lange in Australien tätig (einem Land mit bekanntlich rigider Asylpolitik, wie er selber betont) und kehrte erst vor Kurzem nach Deutschland zurück. Somit handelt es sich, wie er in seiner Einleitung darlegt, um einen „Versuch, mich einem Land anzunähern, das ich mehr als drei Jahrzehnte lang aus einer großen Distanz wahrnahm – ja mehr noch: ein Versuch, eine Geschichte der Bundesrepublik gerade für den Zeitraum, in dem ich nicht dort lebte, zu schreiben“ (S. 14). Die Aufnahme von Schutzsuchenden stellt er deshalb in den Mittelpunkt, „weil es seit dem Mauerfall ein zentrales Thema der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung gewesen ist“ (ebd.). Insofern handelt es sich hier tatsächlich, wie der Untertitel nahelegt, um eine „deutsche Geschichte 1989–2023“, nur eben erzählt durch das Prisma der Auseinandersetzung mit „Fremden“.[1]
Der Obertitel „Blumen und Brandsätze“ steckt zwei extreme Reaktionen ab, die sich im Untersuchungszeitraum bei der Aufnahme von Schutzsuchenden in Deutschland erkennen ließen: Die „Blumen“ stehen für die seit 2015 viel zitierte „Willkommenskultur“ einerseits, die „Brandsätze“ für die seit Ende der 1980er-Jahre (und zum Teil auch schon davor) allgegenwärtige rassistische Gewalt andererseits. Das „und“ enthält dabei bereits eine Erkenntnis des Buches, die von der Erwartung des Autors abwich: Es gab keine geradlinige Entwicklung von den Brandanschlägen der 1990er-Jahre zur Willkommenskultur nach 2015, die zu Beginn der Recherche für das Buch noch sehr präsent war (S. 389). Beide Phänomene koexistieren – wie übrigens auch während der gesamten Zeit der sogenannten „Flüchtlingskrise“: Die flüchtlingsfeindlichen Ausschreitungen in Heidenau (Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge) gab es zehn Tage vor Angela Merkels Ausspruch „Wir schaffen das“. Es ist nicht so, dass nach einer allgemeinen Willkommenseuphorie die „Stimmung kippte“. Engagement für und gegen die Aufnahme von Geflüchteten (bis hin zu Gewalt) war über den gesamten Untersuchungszeitraum, der bis in die Gegenwart reicht, präsent.
Neumanns Ansatz ist gewissermaßen doppelt lokalgeschichtlich. Für sein Buch hat er zwei Fallstudien verbunden, die unterschiedlicher kaum sein könnten: auf der einen Seite das großstädtische, vom Selbstverständnis her linksliberale und weltoffene Hamburg-Altona, auf der anderen Seite der Kreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, den man in der überregionalen Öffentlichkeit häufig mit Fremdenfeindlichkeit und starkem Zuspruch für rechtsradikale Parteien assoziiert. Aber, und dies sei gleich gesagt: Der Autor vermeidet solche plakativen Gegenüberstellungen und ist stets darauf bedacht, großzügige Selbstzuschreibungen westdeutsch-hanseatischer Liberalität und stereotypisierende Fremdzuschreibungen ostdeutscher Xenophobie nicht zu reproduzieren, sondern durch genaue Beobachtungen und eine nuancierte Erzählung zu hinterfragen. Im Schlusskapitel betont er noch einmal, „dass Hamburg-Altona hinsichtlich der Aufnahme von Schutzsuchenden nicht uneingeschränkt für ein gastfreundliches, kosmopolitisches Deutschland stehen kann, genauso wenig wie das Osterzgebirge und die Sächsische Schweiz problemlos ein Land repräsentieren können, in dem Rassismus endemisch ist und Fremde generell ausgegrenzt werden“ (S. 395 f.).
Wie Neumann auch schreibt, handelt es sich bei seiner Studie um keinen „Vergleich der beiden Fälle, von West- und Ostdeutschland oder von Großstadt und ländlichem Raum“. Vielmehr will er durch seine Darstellung des „lokalen Umgangs mit Schutzsuchenden die Diversität Deutschlands“ abbilden (S. 19). Daher wechseln sich Kapitel über Altona und die Sächsische Schweiz ab. Dieser Zugang ist einerseits nachvollziehbar, weil sich die sehr unterschiedlichen Fälle für einen systematischen Vergleich wirklich kaum eignen. Andererseits, und das ist ein Manko des Buches: Die dichte, gleichsam ethnografische Erforschung und ausführliche Beschreibung von Vorgängen auf lokaler Ebene könnten häufig eine stärkere Flankierung sowie Einordnung durch Thesen und Folgerungen des Autors vertragen. Oft hat man den Eindruck, die umfangreich zitierten und grundsätzlich hoch spannenden Quellen – darunter kommunale Ratsprotokolle, lokale Presseartikel und weit über 100 eigene Interviews – sprächen hier für sich selbst. Zu diesem Eindruck trägt die insgesamt nur selektive Rezeption von Sekundärliteratur ebenfalls bei.
Der erzählende Ansatz hat aber auch seine Vorzüge. Je länger man in dem Buch liest und sich in die dargestellten lokalen Auseinandersetzungen um die Flüchtlingsaufnahme vertieft, desto intensiver wird das Leseerlebnis. Dies beginnt schon im dritten Kapitel, wo Neumann die Wendezeit in der sächsischen Fallstudie darstellt und deutlich macht, dass die Aufnahme von Menschen etwa aus Rumänien und Bulgarien noch in der Endphase der DDR begann. Diese Menschen waren es dann unter anderem – neben vor allem vietnamesischen und mosambikanischen Vertragsarbeiter:innen –, gegen die sich die bekannten Pogrome von Hoyerswerda 1991 richteten. Zugleich problematisiert Neumann die stereotypisierende Berichterstattung westlicher Medien über die Region und rekonstruiert das Wirken prinzipiell wohlmeinender Politiker. Auch im Folgenden wirken die Kapitel zur sächsischen Fallstudie stärker als jene zu Altona, was allerdings mit den blinden Flecken des Rezensenten zu tun haben mag: Während westdeutschen Personen in der westdeutschen Fallstudie vieles vertraut vorkommt und der Neuigkeitswert der Darstellung manchmal begrenzt scheint, stellt die ostdeutsche Fallstudie Lebenswelten dar, die sonst meist nur medial stereotyp verzerrt den Weg in die breitere Öffentlichkeit finden. Hier zahlen sich Neumanns intensive Quellenarbeit vor Ort und seine nuancierte Herangehensweise aus.
Das Aufzeigen von Nuancen bedeutet freilich nicht, dass in diesem Buch irgendetwas relativiert würde. Die wiederholte Darstellung der inakzeptablen Unterbringungsbedingungen in Flüchtlingsheimen lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Der Abschnitt zum Fall der türkischen Familie Sendilmen in Pirna (S. 221–224), deren Schnellimbiss von lokalen Neonazis über Jahre terrorisiert wurde und die dabei von Polizei sowie Behörden keinen Schutz bekamen, liest sich sehr intensiv und macht wütend. Er ist allerdings auch wieder ein Beispiel für die manchmal mangelnde Interpretationsarbeit des Autors. Was bedeutet es etwa, dass „in Pirna […] andere (zumeist von Kurden betriebene) Döner-Imbisse […] keine vergleichbaren Erfahrungen gemacht“ hätten (S. 222)? Was impliziert der Hinweis auf die kurdischen Besitzer? Und wer ist Aydin Atmaca, auf den oder die in der Endnote als Quelle verwiesen wird? Solche losen Fäden und methodischen Freihändigkeiten irritieren ein wenig – auch dann, wenn man berücksichtigt, dass der Autor seine Studie eher als Sachbuch und nicht als streng wissenschaftliche Arbeit versteht.
Das abschließende zwölfte Kapitel hebt die Diskussion auf eine andere, abstraktere Ebene. Es kontrastiert dadurch mit der detailreichen Erzählung der vorhergehenden elf Kapitel. Neumann benennt hier beispielsweise vier Prinzipien, welche die Diskussion für einen großzügigen Umgang mit Schutzsuchenden leiten könnten (S. 402–405): „Achtsamkeit“ (für die Geschichten und Motivationen der Menschen, die kommen), „Gastlichkeit“ (die, Kants „Wirthbarkeit“ weiterdenkend, „vielleicht doch das Recht auf ein Ankommen, ja auf Mitbürgerschaft, beinhalten“ müsste), „Solidarität“ (als Konsequenz einer „unbedingten Achtsamkeit“) und „Gerechtigkeit“ (einschließlich des Wissens um die eigenen Privilegien). Der Autor schränkt dabei ein, dass er nicht erwarte, dass eine solche Diskussion „notwendigerweise zu dem Ergebnis kommt, alle Menschen, die in Deutschland Schutz suchen, hier dauerhaft aufzunehmen“ (S. 403). Spätestens wenn Neumann in seiner Diskussion von „Gastlichkeit“ die nationalstaatliche Weltordnung als „Anachronismus“ bezeichnet und im Grunde ein allgemeines Recht auf Freizügigkeit fordert, bliebe aber letztlich keine andere Folgerung. Ein solches Recht gibt es jedoch bekanntlich nicht und wird es auch absehbar nicht geben, zumal die angeblich anachronistische Nationalstaatsordnung aktuell beispielsweise in der Ukraine gegen andere, noch anachronistischere imperiale Modelle verteidigt werden muss. Hier gehen Klaus Neumanns Folgerungen doch weit über das hinaus, was das Material des Buches mit seinem erhellenden Blick auf sehr konkrete Verhältnisse vor Ort hergibt.
Fußnoten
- Für einen in dieser Hinsicht vergleichbaren, methodisch und inhaltlich dann aber doch sehr verschiedenen Ansatz bei der Analyse von Pressediskursen siehe zuletzt Nadine Sylla, Die Konstruktion des Eigenen im Verhältnis zum Anderen. Mediale Diskurse über Asyl in der Bundesrepublik 1977–1999, Bielefeld 2023; rezensiert von Emilia Henkel, in: H-Soz-Kult, 24.10.2024, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-132611 (24.10.2024).
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jan-Holger Kirsch. Zuerst erschienen in H-Soz-Kult.
Kategorien: Affekte / Emotionen Demokratie Gesellschaft Migration / Flucht / Integration Rassismus / Diskriminierung
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