Michael Bochow | Rezension | 19.01.2022
Eine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts
Rezension zu „Unerlaubte Gleichheit. Homosexualität und mann-männliches Begehren in Kulturgeschichte und Kulturvergleich“ von Michael Navratil und Florian Remele (Hg.)

Nimmt man seinen Untertitel beim Wort, scheint der Anspruch des von den beiden Germanisten Michael Navratil und Florian Remele herausgegebenen Bandes kaum einlösbar. Zu groß ist das Forschungsfeld, zu unüberschaubar die Anzahl der Gebiete, die berücksichtigt werden müssten. Die Herausgeber und Mit-Autor*innen konkretisieren ihr Forschungsinteresse jedoch durch eine kluge Eingrenzung. Sie konzentrieren sich auf die Analyse der sozialen Stellung der Männer, die sexuelle Beziehungen mit anderen Männern pflegen. Soziale Stellung umfasst in ihren Untersuchungen (und denen ihrer Mit-Autor*innen) nicht nur die gesellschaftliche Position der Männer, sondern explizit auch Dimensionen wie Alter, Vermögen, soziale Reputation und gesellschaftlichen Einfluss. Navratil und Remele beanspruchen also nicht eine „Sittengeschichte“ mann-männlichen Begehrens zu schreiben. Stattdessen wollen sie nicht zuletzt auch eine Kritik an einem Begriff von „Homosexualität“ formulieren, der einen „historisch stabilen und kulturell invarianten“ Kern (S. 10) gleichgeschlechtlich orientierten männlichen Begehrens unterstelle.
Unter Rekurs auf Michel Foucault argumentieren die beiden Autoren, dass auch die menschliche Sexualität nicht ahistorisch sei, sondern in den verschiedenen Epochen unterschiedliche Form annehme. Foucault bestreite keineswegs, dass gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen Teil der Menschheitsgeschichte wären. Er bestehe aber darauf, dass erst im 19. Jahrhundert und unter dem großen diskursiven Einfluss von Medizinern und Psychiatern der „Homosexuelle“ als eine neue „Spezies“ hervorgebracht wurde. Er habe die Figur des „Sodomiten“ abgelöst, der bis zum 19. Jahrhundert vornehmlich als „Gestrauchelter“ wahrgenommen wurde. Die dezidiert historische Perspektive entspricht dem von Navratil und Remele formulierten „sexualhistorische(n)“ Interesse des Bandes (S. 30). Für die beiden Herausgeber bedeutet das auch, dass die stärker philosophisch orientierten Gender und Queer Studies nur am Rande berücksichtigt werden, schließlich würden sich Analysen aus diesem Forschungsfeld vor allem mit prinzipiellen Fragen zur Konstruktion von Geschlechtsidentitäten beschäftigen. Herausgeber und Autor*innen des Bandes wollen sich jedoch mit „Sexualität im Sinne sexueller Handlungen“ und „nicht als Belegmaterial für philosophische Thesen“ (S. 31) auseinandersetzen und sich dafür auf den „Eigenwert“ vorhandener Quellen zur Sexualitätsgeschichte konzentrieren. Und sie nehmen noch eine weitere Eingrenzung vor: sie beschränken sich auf die Diskussion mann-männlichen Begehren, betonen jedoch, dass eine historiografische Würdigung frau-fraulichen Begehrens, die der Band nicht leisten könne, nicht zuletzt angesichts der „deutlich asymmetrische(n) Quellenlage zu frau-fraulichen und mann-männlichen sexuellen Handlungen“ (S. 30) dringend geboten sei.
Navratil und Remele schließen nicht nur an die Foucault‘sche Unterscheidung zwischen „Sodomiten“ und „Homosexuellen“ an, sie heben auch die Unterschiede zwischen gleichgeschlechtlich sexuell aktiven Männern Ende des 19. Jahrhunderts und den „Schwulen“ im späten 20. Jahrhunderts hervor:
„Legt man nämlich das zeitgenössisch in industrialisierten westlichen Nationen dominante Verständnis von Homosexualität zugrunde, welches neben einer konstanten sexuellen Präferenz für Partner*innen desselben Geschlechts auch noch den Nachdruck auf egalitäre Paarbeziehungen umfasst, so verkürzt sich die historisch zu ziehende Linie noch einmal beträchtlich […]. Der Anspruch der emotionalen, sozialen und juristischen Gleichheit der Partner*innen in einer gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehung dürfte eine spezifische Erfindung des späten 20. Jahrhunderts sein, die zunächst auch nur in einigen wenigen hochindustrialisierten Ländern der westlichen Welt Anklang fand.“ (S. 14)
Hier muss eingewandt werden, dass bereits Ende des 19. Jahrhundert homosexuelle Männer sowohl in Mittel- und Westeuropa als auch in Nordamerika egalitäre Partnerbeziehungen führten, wenn aufgrund der sozialen Ächtung auch zumeist im Verborgenen. Partnerschaftliche gleichgeschlechtliche Beziehungen, ob zwischen Männern oder Frauen, existierten zwar in einem patriarchalen System, folgten jedoch nicht zwingend dessen Logik.
Hintergrund von Navratils und Remeles Annahme ist, dass prähomosexuelle Kategorien für gleichgeschlechtliche Beziehungen zuvor meist „eine Ungleichheit der Sexualpartner hinsichtlich Alter, Stand, Genderperformanz oder sexuellem Rollenverhalten“ (S. 18) implizierten. Denn mann-männliche Beziehungen, die eine sexuelle Komponente miteinschlossen, wurden in vielen Gesellschaften nur akzeptiert, solange es eine klare Hierarchie zwischen den Partnern gab. Ihre Schlussfolgerung ist, dass es nicht möglich sei, eine Geschichte „der Homosexuellen“ zu schreiben, die vor dem Ende des 19. Jahrhunderts beginne, da dieser Sozialtypus, mit Foucault gesprochen diese „Spezies“, zuvor schlicht nicht existierte. Die Herausgeber betonen, dass Ungleichheit in Liebes- und Intimbeziehungen keineswegs in allen Kulturen als problematisch galt und die Annahme, dass ungleiche mann-männliche Beziehungen in anderen oder früheren Gesellschaften immer ein Ausdruck von Unterdrückung gewesen wären, ahistorisch sei.
Wie eine Illustration der Thesen von Navratil und Remele wirkt der Artikel von Hendrik Johannemann zur „Gay Identity Formation in South Korea“ (S.81 ff.), einer der Beiträge, die sich der Geschichte homosexueller Beziehungen in nicht-europäischen Ländern widmen. In der feudalen Phase der koreanischen Geschichte, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts währte, stießen – so Johannemann - gleichgeschlechtliche Beziehungen auf „relative Akzeptanz“ (S. 82, Übersetzung aus dem Englischen M.B.). Jedoch seien nur wenige schriftliche Zeugnisse gleichgeschlechtlichen männlichen Begehrens und gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen überliefert. Je höher der soziale Status eines der Beteiligten, desto eher existierten Dokumentationen der Beziehung. Das galt etwa für das Interesse von Königen unterschiedlicher Dynastien an gut aussehenden jungen Männern. Jene erfüllten nicht nur die sexuellen Wünsche des Herrschers, sondern fungierten zum Teil auch als seine Leibgarde oder unterstützten ihn in Staatsangelegenheiten. In der koreanischen Lyrik, die aus den Epochen des Feudalismus stammt, stoße man immer wieder auf Gedichte, die sich der Schönheit koreanischer Jünglinge widmeten. Hier zeigt sich ein Problem der historischen Analyse, das auch in anderen Beiträgen des Sammelbandes virulent ist: Sehr oft wird auf lyrische Quellen zurückgegriffen, die, auch wenn sie einiges über ihren sozialen Entstehungskontext aussagen, eher auf erotischen Phantasien basieren denn auf historischen Ereignissen. Eine entsprechende quellenkritische Einordnung lassen die Autor*innen jedoch vermissen.
Mann-männliche Beziehungen oder sexuelle Kontakte wurden im feudalen Korea toleriert, wenn ein erheblicher Unterschied hinsichtlich des Alters und der sozialen Position bestand. Die Folge: „Well-off adult men were astonishingly free in their sexual object choice – both in contrast to women in general as well as to poorer and younger men“ (S. 90). Über das Vorhandensein egalitärer gleichgeschlechtlicher Beziehungen zwischen Männern der „niederen Stände“ kann Johannemann zufolge jedoch nur spekuliert werden; ob sie über flüchtige sexuelle Kontakte hinausgingen, ist auf Basis der Quellenlage nicht zu klären; da in vorbürgerlichen Gesellschaften zumeist nur das Leben der Oberschicht schriftlich überliefert ist.
Johannemann liefert zudem eine überzeugende Darstellung der sich seit den 1980er-Jahren entwickelnden, auf Seoul konzentrierten südkoreanischen „gay community“, die massiv von der rapiden Industrialisierung des Landes, der Demokratisierung und der Urbanisierung profitierte. Besonders der Aufschwung der Millionenstädte Koreas bot den homosexuellen Männern (und Frauen) die sozialen Nischen und Freiräume, um losgelöst von familiär bedingten Einschränkungen ihre Homosexualität zu leben. Im Unterschied etwa zu den USA würden südkoreanische homosexuelle Männer, so Johannemann, jedoch bis heute sozial weitgehend unsichtbar bleiben, da das heteronormative Familienideal in Korea nach wie vor unangefochten sei.
Wird gemeinhin die Entstehung männlicher (und weiblicher) Homosexualität im heutigen Sinne nicht nur von Foucault in den europäischen Diskursen der zweiten Hälfte der 19. Jahrhunderts verortet, so vertritt Carl Deußen eine konträre These. Deußen bezieht sich dabei vor allem auf einen pornografischen fiktiven Reisebericht, ursprünglich von einem französischen Militärarzt anonym unter dem Decknamen Jakobus X und dem Titel „L'amour aux colonies“ herausgebracht. Der in Paris ansässige englische Publizist Charles Carrington veröffentlichte 1896 eine englische Übersetzung mit dem sensationsheischenden Titel „The Untrodden Fields of Anthropology. Obervations on the Esoteric Manners and Costums of Semi-Civilised People“ (S. 164). Eine erweiterte Auflage erschien 1898 und erfreute sich reißenden Absatzes. Die Publikation ist voll mit rassistischen Abwertungen kolonisierter Völker, die nicht nur ökonomisch sondern auch sexuell ausgebeutet wurden und deren Kulturen und Religionen angeblich einen geringeren Zivilisationsgrad als die europäische aufwiesen. In seiner Kritik daran ist Daußen uneingeschränkt zuzustimmen. Unverständlich aber bleibt, warum er in dieser durch das Kolonialsystem ermöglichten Unterwerfung und sexuellen Ausbeutung das Gründungsmoment europäischer „Homosexualität“ verortet: „As with so many innovations of the time, be they social or technological, or mostly both, homosexuality first emerged in the colonies“ (S. 183). Das steht der Geschichte gleichgeschlechtlich Begehrender in Europa diametral entgegen. Zwei „Gründerväter“ der europäischen Emanzipationsbewegung der späteren Homosexuellen lebten in Ländern, die zum damaligen Zeitpunkt überhaupt keine Kolonien hatten. Karl Heinrich Ulrichs – Schöpfer der Begriffe „Urninge“ und „Urninden“,[1] entstammte dem Königreich Hannover und beendete sein Leben in Italien. Karl Maria Kertbeny, der ungarische Schöpfer der Wörter „Homosexualität“ und „homosexuell“[2] verbrachte den Großteil seines Lebens in der Donaumonarchie. Noch abwegiger ist Deußens Annahme, dass pornografische Bücher wie die „Untrodden Fields of Anthropoly“ „a crucial role in the emergence of homosexuality“ (S.150) innehatten. An Schriftgläubigkeit übertrifft Deußen damit sogar den von ihm kritisierten Foucault, der zumindest einflussreichen Psychiatern des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle bei der diskursiven Erschaffung der Homosexuellen zuspricht.
Beschäftigen sich die bislang erwähnten Artikel mit außereuropäischen Ländern, so behandeln die Verbleibenden eher Themen aus dem Bereich der Germanistik, wenn auch ebenfalls aus sozialhistorisch informierter Perspektive. Benedikt Wolf widmet seinen Beitrag etwa den „Strategien der narrativen Vermittlung von Analverkehr in der deutschsprachigen homosexuellen Belletristik des frühen 20. Jahrhunderts“ (S. 265). Die krampfhaften Bemühungen, bestimmte sexuelle Praktiken wie den Analverkehr nur in verschlüsselten Andeutungen zu umschreiben, greift Wolf schon im ironischen Titel seines Artikels auf: „Von heißen Küssen, besudelten Betten und beischlafähnlichen Handlungen“ (S. 265).
Mitherausgeber Michael Navratil schließt den Band mit Überlegungen zur „HIV-Literatur zwischen Authentizität und Literarizität und Hans Pleschinskis Autofiktion Bildnis eines Unsichtbaren“ (kursiv i.O., S. 295 ff.). Navratil wendet sich gegen eine Lesart der Romane und Erlebnisberichte zu HIV/Aids aus der Feder von Mario Wirz, Detlev Meyer und Napoleon Seyfarth, die jene, weil die Autoren selbst HIV-positiv waren und in ihren literarischen Texten eigene Erfahrungen verarbeiten, als bloße „Egodokumente“ ohne universalen Anspruch begreift. Damit würdigt er diese in anderer Weise als etwa Fritz J. Raddatz, der einen großen Teil der (west-)deutschen HIV-Aids-Literatur in unsäglicher Arroganz als „Gossenliteratur“ abkanzelte.[3] Ob die von Navratil verwendete Bezeichnung „deutschsprachige HIV-Kunst“ (S. 328) geglückt ist, mag dennoch dahin gestellt bleiben.
Auch wenn kritisch anzumerken ist, dass die beiden Teile des Bandes – der, der sich Zeugnissen gleichgeschlechtlichen Begehrens in asiatischen Ländern und ehemaligen Kolonien widmet, und der, der aus im engeren Sinne germanistischen Studien besteht – relativ unvermittelt nebeneinander stehen, bleibt der Band eine überaus informative und anregende Lektüre, der in seinem dezidiert auf soziale und ökonomische (Un-)Gleichheit in mann-männlichen Liebesbeziehungen zielenden Erkenntnisinteresse bis dato einzigartig sein dürfte.
Fußnoten
- Karl Heinrich Ulrichs, Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe. 2. Ausgabe mit einem Vorwort von Magnus Hirschfeld, Max Spohr, Leipzig 1898. Reprint, Arno, New York 1975.
- Manfred Herzer, Karl Maria Kertbeny. Schriften zur Homosexualitätsforschung. Hamburg 2000.
- So Axel Schock in: Martin Reichert, Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik, Berlin, S. 187.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Geschichte Queer Sozialstruktur
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