Jennifer Stevens | Rezension |

Eine Wissenssoziologie der Apokalyptik

Rezension zu „Corona und andere Weltuntergänge. Apokalyptische Krisenhermeneutik in der modernen Gesellschaft“ von Alexander-Kenneth Nagel

Abbildung Buchcover Corona und andere Weltuntergänge von Alexander-Kenneth Nagel

Alexander-Kenneth Nagel:
Corona und andere Weltuntergänge. Apokalyptische Krisenhermeneutik in der modernen Gesellschaft
Deutschland
Bielefeld 2021: transcript
212 S., 30,00 EUR
ISBN 978-3-8376-5595-7

Es ist sein „heimliches Lieblingsthema“ (S. 8), dem sich Alexander-Kenneth Nagel in seiner jüngst erschienen Monografie Corona und andere Weltuntergänge widmet: die Apokalypse. Wirklich heimlich blieb seine Leidenschaft – zumindest in sozialwissenschaftlichen Kreisen – allerdings nicht. Nagel gilt im deutschsprachigen Raum zweifellos als einer der führenden Soziologen in der zeitgenössischen Apokalyptik-Forschung.[1] Der Religionssoziologe versteht das Werk als seine nie geschriebene Habilitationsschrift, er entwickelt darin eine Wissenssoziologie der Apokalyptik, die die empirisch orientierte Religionsforschung um eine „angewandte Endzeitforschung“ (S. 27) erweitern soll. Der vermutlich aus marketingstrategischen Gründen gewählte Titel wirkt leicht irreführend, weil er mit seinem Bezug auf die krisenhaften Zeiten der anhaltenden Pandemie die Brisanz von Apokalyptik betont. Dabei geht es dem Autor dezidiert nicht um eine apokalyptische Zeitdiagnostik, sondern um die Metaebene von Endzeiterzählungen. Bei dem Vorhaben, einen „Blick auf die ‚apokalyptische‘ Krisenhermeneutik moderner Gesellschaften“ (S. 7) zu werfen, sind die apokalyptischen Deutungsmuster in der Corona-Krise lediglich ein Anschauungsfall (unter anderen).

Apokalyptik und Krise

Die durchweg flüssig geschriebene Schrift kommt zumeist ohne theologischen Fachjargon aus und ist grob in drei Teile strukturiert: Nagel führt zunächst in die Aktualität und Begriffsbestimmung der Apokalyptik ein und erarbeitet eine wissenssoziologisch fundierte Operationalisierung der Methode, die er in den folgenden fünf Kapiteln zur Anwendung bringt. Dabei beschäftigt er sich sowohl mit einer apokalyptischen Deutung der Pandemie, mit ökologischen Apokalypsen der Nachkriegszeit, mit der politischen Apokalyptik in der Krise des Nationalismus als auch mit religiösen Heilsversprechungen „zwischen Prosperity Gospel und Endzeit-Buße“ (S. 141) sowie mit Preppen als apokalyptischem Lebensstil.

Kurzum, Nagel verfolgt in seinem schlanken Buch von knapp 200 Seiten das umfassende Projekt, apokalyptische Deutungsmuster verschiedenster politischer und kultureller Provenienz, wie sie in unterschiedlichen sozialen Gruppen Anklang und Verbreitung finden, zu durchdringen. Hierzu stützt er sich auf seine langjährigen Vorarbeiten. So bleibt die Wiederbegegnung mit dem ein oder anderen bereits veröffentlichten Artikel in gekürzter und leicht veränderter Form nicht aus. Besonders auffällig ist dies im ersten Kapitel, das im Kern die zentralen Begriffsklärungen aus einem schon 15 Jahre zuvor publizierten Aufsatz wiedergibt – wenn auch differenzierter und fundierter als noch auf dem Kasseler DGS-Kongress 2006.[2] Nach wie vor, so lässt sich anerkennend feststellen, vermeiden seine Einsichten in ihrer begriffsanalytischen Schärfe einige Sackgassen der alltagsweltlichen sowie wissenschaftlichen Auffassungen der Apokalyptik; wodurch sie nichts an Aktualität eingebüßt haben.

Hervorzuheben ist vor allem die einleuchtende Entscheidung, den Begriff der „Apokalyptik“ vom Standpunkt der Krise aus zu entfalten (S. 13). Dadurch vermeidet Nagel die für die säkularisierungstheoretische Debatte übliche Unterscheidung zwischen vormodernen religiösen Apokalyptiken – samt ihrer obligatorischen Heilsversprechen – und modernen säkularisierten Endzeiterzählungen, die keine Erlösung mehr in Aussicht stellen. Denn mit einem solchen dichotomen Verständnis lassen sich zeitgenössische Apokalyptiken nicht adäquat begreifen.[3]

Die Argumentation von Ernst Bloch, der „in der Utopie den modernen Begriff des apokalyptischen Bewusstseins [sah] und […] vor diesem Hintergrund die klassischen Apokalypsen als die besseren Utopien [beurteilte], da sie weniger in die Bedingtheit der Machbarkeit verstrickt seien“ (S. 13), dient Nagel als Beweis dafür, dass durch den Fokus auf die Stellung des Heils in modernen eschatologischen Vorstellungen, also in Deutungsmustern des Letzten und Äußersten, die Grenze zwischen apokalyptischen und utopischen Vorstellungen zu verschwimmen droht. Die Utopie erscheint hier „als weltliche Apokalypse, als in Krise und Heil immanente und gleichsam handgreifliche Vision“ (ebd.).

Apokalypsen beschreiben einen Prozess, den die deutenden Akteurinnen unmittelbar als krisenhaft erfahren und der sie zu einer Situationsbestimmung drängt.

Demgegenüber gelingt Nagel durch den Begriff der „Krise“ die Differenzierung von Apokalypse und Utopie: Während Apokalypsen einen Prozess beschreiben, den die deutenden Akteurinnen unmittelbar als krisenhaft erfahren und der sie zu einer Situationsbestimmung drängt, entwerfen Utopien einen zeitlich und/oder räumlich entrückten Idealzustand, für den die Bestimmung der Krise marginal ist (S. 15). Nagel illustriert seine Ausführungen mit tabellarischen Übersichten, die vor allem für seine umfangreiche Operationalisierung im folgenden Kapitel hilfreich sind.

Semantik, Syntax, Pragmatik

Ausgehend von der phänomenologischen Wissenssoziologie entwickelt Nagel sein hermeneutisches Handwerkszeug, um die Zeichenkomplexe apokalyptischer Deutungsmuster zu entschlüsseln. Er nimmt nicht nur das Alltagswissen von Akteurinnen in den Blick, sondern auch akademische Wissensbestände, und unterscheidet dabei zwischen Gehalt (Semantik), Arrangement (Syntax) und Gebrauch (Pragmatik) (S. 32 f.).

Auf der semantischen Ebene versteht er die apokalyptischen Inhalte als Symboliken besonderer Erfahrungsauslegung. Hierzu schließt Nagel an den anthropologischen Erklärungsversuch Klaus Vondungs an, wonach apokalyptische Bilder stets Ausweis der in der conditio humana begründeten Spannungserfahrung von „Defizienz“ und „Fülle“ (S. 17) sind.[4] Mit der Untersuchung der Syntax verschiebt Nagel den Fokus vom Inhalt auf die Form, genauer auf das dramatische Arrangement der apokalyptischen Zeichen. Konstruktionslogik und Erzählweise der jeweiligen Apokalyptiken seien meist durch das vorherrschende Geschichtsbild bestimmt, woraus sich unterschiedliche dramaturgische Strategien ergäben: von der Auslassung eines Heilversprechens (kupierte Apokalypse) über teleologische Erzählungen (progressive Apokalypse) bis hin zu epigenetischen Narrativen (regressive Apokalypse). Unter Letzteren sind Verfallsgeschichten wie die Vertreibung aus dem Paradies zu verstehen, in denen die Protagonisten ihren anfänglichen Zustand maximaler Fülle im Laufe der Erzählung aufgeben müssen (S. 41). Das soziologische Interesse müsse noch einen Schritt weiter gehen und die Apokalyptiken in den Rahmen ihrer konkreten Sprechsituation und Funktion setzen. Demnach könne die Rhetorik von Apokalyptiken sowohl aktivistische, handlungsanweisende Züge als auch einen quietistischen, also tröstenden und erduldenden, Charakter aufweisen (S. 44).

Narrative Parallelen und praktische Unterschiede

Von der abstrakten Ebene geht Nagel über zur konkreten Analyse verschiedener Krisenszenarien, für die er Reden, Selbstzeugnisse und (häufig digitale) Schriftstücke als Material heranzieht. Im Fall der Corona-Krise beschäftigt er sich mit der (feuilletonistischen) Medienberichterstattung, mit einer Regierungserklärung und Fernsehansprache Angela Merkels, mit verschwörungsideologischen Dokumenten, insbesondere der QAnon-Bewegung, sowie mit Themen und Memes in Sozialen Medien (S. 52).

Der Autor entfaltet am sinnvoll zusammengestellten Material die zuvor eingeführten semantischen, syntaktischen und pragmatischen Blickwinkel weitestgehend konsequent, wodurch immer wieder interessante Parallelen zwischen verschiedensten Endzeitvorstellungen zum Vorschein kommen. So erscheine der Mensch in öko-apokalyptischen Visionen wiederholt als Krebsgeschwür (S. 83). Die entmenschlichte Bildsprache werde „auf perfide Art und Weise in ein konkretes Vernichtungsprogramm“ (S. 123) überführt und finde Eingang in den nationalistischen Mythos vom ‚Großen Austausch‘, den die Attentäter von Christchurch und Halle in ihren terroristischen Anschlägen umzusetzen versucht hätten (S. 192).

Die Ausführungen zum religiösen Heilsversprechen zwischen „Life Coaching“ und dem „Zorn Gottes“ (S. 144) fallen mit ihrer religionsökonomischen Fragestellung etwas aus dem Rahmen – geht es hier doch weniger um die Untersuchung der apokalyptischen Narrative bestimmter christlicher Glaubensgemeinschaften als vielmehr um die unterschiedlichen Positionen von Heilsversprechen auf dem religiösen Markt. Dies wird vor allem daran deutlich, dass der Autor die semantischen, syntaktischen und pragmatischen Dimensionen nicht stringent abarbeitet, weshalb fraglich bleibt, ob wir es beim innerweltlich ausgerichteten, popkulturell inszenierten Prosperity Gospel tatsächlich mit apokalyptischen oder nicht etwa mit klassisch prophetischen Deutungsmustern zu tun haben.[5] Die Analyse der bisher nur selten betrachteten deutschen Prepper-Szene wiederum legt sowohl die überraschende Heterogenität der apokalyptischen Praxis als auch wichtige Unterschiede zur fundamental antietatistischen QAnon-Bewegung offen (S. 183 f.).

Methodologischer Relativismus gegen Ideologiekritik

Indem er nicht nur lesenswerte Einzelstudien liefert, sondern auch strukturelle Gemeinsamkeiten im apokalyptischen Feld aufzeigt, gibt uns Alexander-Kenneth Nagel fein kalibrierte Instrumente zum Verständnis von Apokalyptiken an die Hand und leitet so zu weiterer Forschung an. Auf die Frage: „Was fangen wir nun mit diesem Befund an?“ (S. 190), erwidert Nagel in weberianischer Manier, dass sich eine wissenssoziologische Arbeit „zunächst von aller Ideologiekritik freimachen“ (S. 191) müsse. Hierzu grenzt er sich konsequent von religionskritischen Positionen ab und unterstreicht, dass es nicht darum gehe, bestimmte Weltsichten durch den Nachweis ihrer apokalyptischen Züge zu diskreditieren. Dadurch entsteht mitunter bei der Leserin der Eindruck, dass der Autor die identifizierten Apokalyptiken lediglich beschreibt und nebeneinanderstehen lässt, ohne seine Analyse über ein deskriptiv-vergleichendes Moment hinauszutreiben.

Dieser methodologische Relativismus dürfe, so Nagel, zwar nicht das letzte Wort haben; doch die Frage, wie eine „nicht-populistische Anschlusskommunikation“ (S. 191) aussehen kann, scheint sich die Religionssoziologie nicht zu stellen. Damit rückt ein grundsätzliches Problem der bisherigen wissenssoziologischen Bearbeitung von Apokalyptik-Phänomenen in den Vordergrund. Stets bleibt relativ unbestimmt, auf welcher historisch-gesellschaftlichen Grundlage bestimmte Krisenerfahrungen zu konkreten apokalyptischen Skripten führen und welche gesellschaftliche Funktion diesen zukommt. Stattdessen verlagern wissenssoziologische Deutungen die Ursache von Apokalyptiken zu schnell in das Subjekt, indem sie sie wahlweise als Folge des Erfahrungsspektrums zwischen Defizienz und Fülle anthropologisieren oder sie als Ausdruck von „Angstlust“ (S. 192) psychologisieren.

Eine ideologiekritische Perspektive wäre in der Lage, dem spezifischen Zusammenwirken von Triebstruktur und Gesellschaft im Phänomen der Apokalyptik auf den Grund zu gehen, ohne dabei das eine im anderen aufzulösen.

Zwar ist der Rückgriff auf psychoanalytische Konzepte nötig, um wesentliche Aspekte des Phänomens der Apokalyptik angemessen auszuleuchten. Dennoch sind apokalyptische Ideologien immer auch Reaktionen und Verarbeitungsmechanismen auf Anforderungen und Widersprüche der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Deshalb braucht es einen Ansatz, der weder einem ‚psychologistischen‘ noch einem ‚soziologistischen‘ Reduktionismus anheimfällt. Ersteres würde bedeuten, die Apokalyptik rein mit den der conditio humana zugerechneten psychischen Spannungen zu erklären. Letzteres würde apokalyptische Narrative deterministisch aus einer bestimmten Klassenlage ableiten – was Nagel zu Recht kritisiert (S. 21) – oder sogar in das Lied von der durch die Apokalypse ausgelösten Befreiung der Unterdrückten einstimmen. Gerade eine ideologiekritische Perspektive wäre in der Lage, dem spezifischen Zusammenwirken von Triebstruktur und Gesellschaft im Phänomen der Apokalyptik auf den Grund zu gehen, ohne dabei das eine im anderen aufzulösen, sondern die Besonderheit beider Sphären zu berücksichtigen. Dies könnte auch die in der Apokalyptik-Forschung vernachlässigten Verflechtungen von Antisemitismus und Apokalyptik etwas entwirren.

  1. Vgl. Alexander-Kenneth Nagel, End-Zeit-Geist? Moderne Apokalypsen als Krisenhermeneutik, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt am Main / New York 2008, S. 1013–1029; ders. / Bernd U. Schipper / Ansgar Weymann (Hg.), Apokalypse. Zur Soziologie und Geschichte religiöser Krisenrhetorik, Frankfurt am Main / New York 2008.
  2. Vgl. Nagel, End-Zeit-Geist?
  3. Vgl. Alexander-Kenneth Nagel, „Siehe, ich mache alles neu?“ Apokalyptik und sozialer Wandel, in: Bernd U. Schipper / Georg Plasger (Hg.), Apokalyptik und kein Ende? Göttingen 2007, S. 253–271.
  4. Vondung gilt als zentraler Begründer der modernen Apokalyptik-Forschung. Er vertrat unter anderem Karl Mannheims wissenssoziologischen Ansatz.
  5. Mit dem Theologen Michael Tilly lässt sich die Frage rasch beantworten: Während die Prophetie Geschichte und Geschicke der Menschheit als Gegenstand göttlichen Eingreifens betrachtet, stellt in der religiösen apokalyptischen Vorstellung nur ein von Gott herbeigeführtes Ende der Menschheit das ersehnte transzendente Heil her. Der hier verhandelte Prosperity Gospel argumentiert also prophetisch und nicht apokalyptisch. Vgl. Michael Tilly, Apokalyptik, Tübingen/Basel 2012.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Moderne / Postmoderne Psychologie / Psychoanalyse Religion Zeit / Zukunft

Jennifer Stevens

Jennifer Stevens studierte Philosophie, Erziehungswissenschaften, Soziologie und Gesellschaftstheorie in Hamburg und Jena. Sie setzt sich schwerpunktmäßig mit soziologischer Theorie, kritischer Gesellschaftstheorie, Kultur- und Subjekttheorie sowie der Psychoanalyse auseinander. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg „Modell Romantik“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und promoviert zur zur romantischen Motivlage moderner und spätmoderner Weltuntergangsphantasien.

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