Rahel Jaeggi, Wibke Liebhart | Interview | 17.12.2020
"Es braucht Philosoph*innen, die sich aktiv in Diskussionen einschreiben"
Rahel Jaeggi im Gespräch mit Wibke Liebhart
Frau Jaeggi, verstehen Sie sich in erster Linie als Autorin oder als Wissenschaftlerin und Hochschullehrerin?
Über das Mischungsverhältnis habe ich interessanterweise noch nie genauer nachgedacht, obwohl mich daran anknüpfende Fragen permanent bedrücken: Wie viel Zeit kann ich für das Schreiben aufwenden? Was heißt es, zu schreiben? An welche Art von Öffentlichkeit wende ich mich? Letztlich würde ich sagen, beides gehört zusammen und durchdringt sich im besten Fall. Als Autorin bin ich Wissenschaftlerin, das sind bei mir nicht zwei getrennte Existenzen, denn mein Schreiben ist primär ein wissenschaftliches Schreiben. Und das Schreiben beeinflusst wiederum die Forschung, denn meiner Erfahrung nach bekommt man erst durch das Schreiben einen wirklichen Zugriff auf Themen. Die Gedanken entwickeln sich oftmals tatsächlich beim Schreiben. Man hat zwar eine bestimmte These, aber erst wenn man sie umsetzt, das heißt, wenn man sich mit dem Material schreibend auseinandersetzt, dann präzisieren sich die Dinge. Mitunter entsteht in Schreibprozessen etwas ganz anderes als man sich zu Beginn vorgestellt hat.
Und in welchem Verhältnis steht wiederum die Hochschullehrerin zur schreibenden Wissenschaftlerin?
Wie Autorin und Wissenschaftlerin gehören auch Hochschullehrerin und Wissenschaftlerin auf jeden Fall zusammen. Die Studierenden sollten von Hochschullehrer*innen unterrichtet werden, die aktiv zur Diskussion beitragen wollen, anstatt feststehende Inhalte nur zu rezipieren und möglichst pädagogisch wertvoll an die Studierenden weiterzugeben. Dieser Anspruch gilt ebenso für die Beschäftigung mit überlieferten philosophischen Texten. Auch hier hängt die Energie, mit der ich das tue, davon ab, ob ich darin etwas für meine Forschungsinteressen Neues finde. So zu tun, als vermittle ich abgeschlossenes Wissen, ist gerade in der Philosophie meiner Ansicht nach nicht zielführend. Also, die Lehre korrespondiert mit der Forschung, mit dem genuinen Interesse an neuen Erkenntnissen oder an neuen Perspektiven auf aktuelle Probleme. Zugleich wird das Forschen durch das Schreiben eben nicht nur kanalisiert, sondern bekommt performativ teilweise einen ganz anderen Gehalt. Ergo steht alles drei miteinander in Verbindung.
Beeinflusst die Lehre auch Ihr Schreiben, beispielsweise indem Sie die Themen Ihrer Vorlesungen für Buchprojekte wieder aufgreifen?
Ja, tatsächlich sind Vorlesungen für mich eine sehr schöne Möglichkeit, Lehren, Forschen und Schreiben zu verbinden. Entsprechend habe ich gemeinsam mit einem Kollegen aus meiner Einführungsvorlesung in die Sozialphilosophie ein Buch gemacht. Die Vorlesungsskripte hatte ich jedes Jahr weiterentwickelt und dabei natürlich auch die Rückmeldungen aus den Tutorien einbezogen – beides konnte ich für den Schreibprozess nutzbar machen, sodass das Buch in direkter Interaktion mit der Lehre entstanden ist. Gerade plane ich ein ähnliches Buch, allerdings etwas komplexer, darin soll es um rote Fäden im Kontext der Kritischen Theorie gehen. Auch dieses Projekt ist entlang einer Vorlesung entwickelt, die ich anfangs sehr chronologisch gehalten habe. Mittlerweile ist sie aber auf systematische Themen umgestellt und auch auf den Vergleich mit anderen Facetten der Sozialkritik außerhalb der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule – und so soll am Ende auch das Buch aufgebaut sein.
Wie kommen Sie ansonsten auf die Themen, zu denen Sie arbeiten und über die Sie schreiben?
In der Regel ergab sich am Ende eines Buches auf fast organische Art das Thema für das nächste. Von der Magisterarbeit über Hannah Arendt ging es zur Entfremdung. Aus dem Entfremdungsbuch ergab sich die Frage, wie man eigentlich Lebensformen im Ganzen bewerten, kritisieren und bestimmen kann. Das Buch, das ich jetzt gerade schreibe – und das ich hoffentlich bald fertigstelle –, beschäftigt sich nun mit den Themen Fortschritt und Emanzipation, denn dort endete gewissermaßen die Arbeit zu den Lebensformen. Ich denke also über zusammenhängende Fragestellungen nach, aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Erkenntnisinteressen.
Darüber hinaus gibt es natürlich immer wieder Occasionen: Anfragen für Sammelbände, Einladungen zu Tagungen, gesellschaftspolitische Anlässe, zu denen ich mich ins Verhältnis setzen möchte. So entstehen größere und kleinere Texte, Buchprojekte oder auch Interventionen in laufende Diskussionen.
Sind Sie der Meinung, es gibt Themen, die sich nicht in kleineren Textformaten, sondern nur in Büchern abhandeln lassen?
Unbedingt. Die Tendenz, nur noch Aufsätze zu schreiben und auf Publikationen in den entsprechend gerankten journals zu setzen, ist inzwischen auch in der Philosophie zu beobachten. Mir erscheint die momentane Entwicklung, durch die Bücher immer weiter zurückgedrängt werden, sehr zwiespältig. Natürlich gibt es unterschiedliche Formen des Denkens und auch unterschiedliche Weisen, schreibend in Dinge einzudringen. Aufsätze haben natürlich ihre Daseinsberechtigung. Aber es ist doch so, dass ich in einem Aufsatz zwangsläufig nur an laufende Diskussionen ansetzen kann. Ich habe auf den wenigen Seiten gar nicht den Platz, etwas genuin anderes, eine ganz neue Begrifflichkeit beispielsweise, zu entwickeln. Der klassische Aufsatz nimmt Stellung zu einer Kontroverse, die bereits geführt wird, oder zu Positionen, die bereits geäußert sind. Auch solche Beteiligungen sind, wie gesagt, wichtig. Um ein Thema jedoch in grundlegend innovativer Weise zu erarbeiten, braucht es Essays und Bücher. Was umgekehrt nicht heißt, dass alle Monografien dies tun würden. Wenn es immer weniger und irgendwann womöglich gar keine Monografien mehr gäbe, beispielsweise weil sie in akademischen Verfahren eine immer geringere Rolle spielen, würde das zur Standardisierung, zum Verhaften im Mainstream beitragen. „Normal science“ im Gegensatz zum Paradigmenwechsel – und das ist gerade in der Philosophie fatal.
In den Forschungsfeldern und Disziplinen, in denen es darum geht, empirisches Material und historische Belege anzubringen, braucht es sowieso andere Raumverhältnisse. Allerdings verleiten Bücher auch dazu, den Gegenstand auf ermüdende Weise auszubreiten und abzusichern, während Aufsätze ökonomischer aufgebaut sein müssen, weil sie strengeren Zeichenbegrenzungen unterliegen. Einer meiner Lieblingsaufsätze ist „Der Irrtum der negativen Freiheit“ von Charles Taylor. Seine Schönheit liegt nicht zuletzt in seiner Architektur, darin, dass er den Zug eines Gedankens oder einer These auf prägnante und dabei relativ ökonomische Weise entwickelt.
Apropos Begrenzung: Wie viel Zeit bleibt Ihnen in Ihrem Alltag als Professorin, um tatsächlich zu schreiben?
Aufgrund zunehmender Verwaltungsaufgaben wird Zeit für die eben genannte Trias aus Forschen, Lehren, Schreiben immer knapper. Das in sich vergrabene wissenschaftliche Arbeiten gibt es für mich kaum noch. Während meiner Dissertation oder auch zu Zeiten der Habilitation saß ich Tage oder ganze Wochen in der Staatsbibliothek und brütete vor mich hin. Weil eben nicht immer etwas Verwertbares herauskommen musste und weil nicht immer am nächsten Tag schon wieder eine Sitzung geplant war. Damals konnte ich so richtig ins Denken und Schreiben hineinversinken – das wird so nicht wiederkommen. Heute muss ich mir solche Freiräume regelrecht rausschneiden und auch dann sind sie stark begrenzt. Ähnlich geht es vielen Kolleg*innen. Diejenigen, die schreiben wollen und ein Interesse daran haben, mit Buchprojekten in Erscheinung zu treten, kämpfen ständig darum, sich die Zeit freizuschaufeln und nicht immer wieder abgelenkt zu werden.
Umso wichtiger ist es wahrscheinlich, dass – wenn Sie dann Zeit zum Schreiben finden – die Bedingungen stimmen. Was brauchen Sie, um mit dem Schreiben anzufangen?
Da bin ich ganz simpel gestrickt. Ich brauche eigentlich nur drei Dinge: Erstens die Grundenergie, die von einer interessanten Stadt ausgeht, zweitens in dieser Stadt einen ruhigen Raum zum Schreiben, vorzugsweise eine Bibliothek, und drittens natürlich Bücher. Für viele ist Schreiben eine Tätigkeit, für die sie sich am liebsten zurückziehen – aufs Land oder in heimische Abgeschiedenheit. Ich hingegen habe alle meine Bücher und Qualifikationsarbeiten in Bibliotheken, vor allem der Berliner Staatsbibliothek, geschrieben; sogar mein extern abgelegtes Abitur habe ich dort vorbereitet. Die Treppen in den fast schon sakralen Lesesaal hochzugehen, ist als körperliche Gewohnheit derart eingeübt, dass ich dort sofort konzentriert bin. Daran kann ich auch in anderen Bibliotheken anknüpfen, was ein großer Vorteil ist. So kann ich an vielen verschiedenen Orten – meine zweite Lieblingsbibliothek ist die Bobst Library am Washington Square in New York – sehr gut arbeiten, vorausgesetzt, es gibt dort eine Bibliothek. Das Schöne an Bibliotheken ist auch, dass man ein bisschen herumstreunen kann, wenn einem gerade nichts einfällt oder man eine eher vage Idee hat. In solchen Fällen lasse ich mich gerne durch den Handapparat inspirieren oder bestelle spontan ein Buch, bei dem ich gerade Lust habe, hineinzuschauen. So kann ich – quasi analog – durch den Themenbereich browsen, zu dem ich gerade arbeite und in dem ich mir aktuell meinen Lesestoff und meine Arbeitsmaterialien zusammensuche.
Haben Sie noch weitere Taktiken und Strategien, um im Schreiben zu bleiben?
Ich habe lange versucht, mir möglichst ganze Tage zum Schreiben freizuschaufeln und dafür alles andere – Gutachten, Seminare oder Sitzungen – in der restlichen Zeit zu erledigen. Mittlerweile bin ich eher dazu übergegangen, nicht mehr auf komplette Schreibtage zu setzen, weil ich mir diese sowieso viel zu selten herausschneiden kann, sodass die Lücken dazwischen zu groß sind. Stattdessen versuche ich, jeden Tag ein bisschen zu schreiben. Denn selbst wenn es nur dreißig Minuten am Tag sind, führt die halbe Stunde dazu, dass der Faden nicht abreißt. Mit dieser Variante, dass jeden Tag etwas am Text geschehen soll, habe ich in den letzten Monaten gute Erfahrungen gemacht. Ein weiterer, erstmal kontraintuitiver Tipp ist, dass man mitten im Gedanken und im Absatz aufhören soll mit Schreiben. Dann ist es viel leichter, wieder damit anzufangen, weil man die letzten Sätze liest und sofort wieder weiß, wie es weitergehen soll.
Aufhören ist ein gutes Stichwort. Wie viele Seiten Text können Sie am Tag produzieren?
Das ist schwer zu sagen, weil ich alles andere als linear schreibe. Das heißt, es kann gut sein, dass ich einen nahezu kompletten Text noch einmal umstelle und umarbeite. Es ist wie beim Kuchen backen: Ich rühre verschiedene Zutaten zusammen und verknete sie zu einem Teig. Der muss dann immer wieder auseinandergenommen und durchgearbeitet werden. Wenn der Teig nicht die gewünschte Konsistenz hat, kann es sein, dass ich ihm nachträglich noch eine weitere Zutat hinzufügen und diese einkneten muss. Interessanterweise sind gerade die Texte, bei denen die Leser*innen der Meinung sind, sie wären in einem Rutsch geschrieben worden, die also sehr stringent wirken, diejenigen, die ich am intensivsten durchgewalkt und immer wieder neu sortiert habe. Mir fällt das Schreiben alles andere als leicht. Deshalb ist meine Tagesproduktion wohl auch nicht sonderlich hoch. In intensiven Schreibphasen und wenn ich in ein Thema bereits eingearbeitet bin, kann ich vielleicht ein paar Seiten am Tag schaffen – inklusive Umarbeitung.
Suchen Sie bereits für die Umarbeitung, das Durchkneten, den Austausch mit Lektor*innen und Redakteur*innen?
Es fällt mir nicht leicht, Texte aus der Hand zu geben, aber die Rückmeldung, die ich daraufhin bekomme, hilft mir in der Regel beim Weiterarbeiten. Deshalb gebe ich – wenn großes Vertrauen besteht –einen Text schon raus, obwohl ich mit seiner Konsistenz noch nicht zufrieden bin und vielleicht schon weiß, dass ich ihn noch einmal grundlegend bearbeiten muss. Meine eher collagenartige Schreibpraxis gerät allerdings oftmals zum Leidwesen des Lektorats. Denn den Texten fehlen nicht einfach das letzte Kapitel oder die letzten zehn Seiten, sondern, um im Bild zu bleiben, ihnen fehlt unter Umständen noch die entscheidende Zutat. Dadurch kann es für die Lektorin wiederum sehr arbeitsintensiv sein, weil sie mit teils unfertigem Material arbeiten muss.
Heißt das, die Zusammenarbeit mit dem Lektorat ist ein wichtiger Bestandteil der Textproduktion?
Auf jeden Fall bedeuten mir die Rückmeldungen einer kompetenten Lektorin wie Eva Gilmer bei Suhrkamp viel – angefangen bei formalen Dingen bis hin zu inhaltlichen Anregungen. In ihrem Fall kommen immenses fachliches Wissen und große handwerkliche Erfahrung und Kenntnis zusammen. Ich hatte in den letzten Jahren meistens mit ihr zu tun und weiß, dass sie ein echter Glücksfall ist. Vermutlich können sich viele Verlage ein solch ausführliches Lektorat gar nicht mehr leisten. Meine Wertschätzung eines guten Lektorats bedeutet aber nicht, dass ich immer das mache, was die Lektorin empfiehlt; aber ich nehme es sehr, sehr ernst.
Gehen wir noch einen Schritt zurück: Gibt es jemanden, von dem Sie das Schreiben – oder auch einzelne Aspekte des Schreibens – gelernt haben?
Nein, so würde ich es nicht ausdrücken. Denn „gelernt haben“ impliziert ja auch, dass es so etwas wie einen Stil gibt, der tatsächlich schulbildend ist oder den man sich zumindest individuell aneignet. Dem ist, zumindest in meinem Fall, nicht so. Natürlich gibt es Autor*innen, die mich immer beeindruckt haben. Ich habe früher ja viel zu Hannah Arendt gearbeitet und ich denke, da gab es schon auch eine Affinität zu ihrem Stil, der so welthaltig und prägnant und dabei so komplett unsentimental ist. Ich finde auch Marx einen lustigen Autor, getrieben von Polemik. Und Adorno, der manchen so kryptisch erscheint – gerade zu seinen Essays oder auch zur Minima Moralia kehre ich beim Stromern durch die Bücherregale immer wieder zurück. Ich würde aber nicht sagen, dass ich von einer dieser Personen „schreiben gelernt“ oder in ihr ein Vorbild hätte. Auch meinen akademischen Lehrern und meinen Lieblingskolleg*innen fühle ich mich, glaube ich, eher inhaltlich verbunden. Von der Art des Schreibens oder in ihrem Zugang zu Themen arbeiten diese Autor*innen oftmals ganz anders als ich.
Kann man das Schreiben womöglich gar nicht lernen?
Oh doch, das denke ich schon. Es gibt Handwerkszeug, es gibt Techniken, es gibt sogar Menschen, die sich beruflich damit beschäftigen und die Schreibkurse geben. Standardfehler und Standardprobleme lassen sich mit etwas Hilfe leicht identifizieren und beheben. Damit wird zwar nicht jede zur begnadeten Stilistin, aber gerade im wissenschaftlichen Schreiben kann man mit entsprechender Schulung an den groben Unschönheiten, den Sperrigkeiten und Unverständlichkeiten gut arbeiten. Die Vorstellung, man sei entweder genial und kann es oder eben nicht, die ist Unsinn. Dies zeigt schon ein Vergleich zwischen Deutschland und den USA. Dort sind Kurse im academic writing wesentlich verbreiteter als hier und das merkt man definitiv an der stilistischen Qualität der Arbeiten.
Ist ein schlechter Schreibstil also lediglich ein Zeichen mangelnder Ausbildung oder womöglich auch ein Indikator für unsauberes Denken?
Gerade bei der Lektüre und Korrektur von Qualifikationsarbeiten habe ich durchaus den Eindruck, Satzstrukturen und Textpassagen sind dann unverständlich, wenn inhaltlich etwas nicht verstanden wurde und die Autor*innen versuchen, ihre inhaltliche Schwierigkeiten mit vermeintlich elaborierten Satzkonstruktionen oder auch mit technisch-analytischer Scheinpräzision zu kaschieren. Umgekehrt gibt es natürlich große Meister des Schreibens, die – um einen Kollegen zu zitieren – Probleme „mit gerissenen Formulierungen“ zu überdecken wissen. Solche sprachlichen Tricks sind mitunter auch nötig, beispielsweise wenn wir im Arbeitszusammenhang Antragstexte und Ähnliches formulieren; da heißt es schon mal scherzhaft: „Hier brauchen wir jetzt hauptsächlich eine gerissene Formulierung.“ Manchmal stimmt das und dann funktioniert es auch. Aber natürlich kann ein philosophischer Text nicht aus gerissenen Formulierungen bestehen, denn eine gerissene Formulierung macht noch kein Argument.
Wem wollen Sie sich argumentativ verständlich machen, soll heißen: Für wen schreiben Sie?
Für alle, die es interessiert. Aber natürlich würde ich anders vorgehen, wenn ich mich an die große Öffentlichkeit richten würde, dafür müsste ich andere Kanäle nutzen, anders schreiben und meine Inhalte anders transportieren. Ich bin etwas skeptisch was die Forderung angeht, wissenschaftliche Inhalte zu ‚übersetzen‘ oder gar vorschnell als Handlungsanleitung oder, ganz schlimm, Sinnstiftung zu verstehen. Schon begriffliche Klärungen sind in der Philosophie oft sehr komplex, da braucht es etwas Geduld und guten Willen, um sich als Leser*in hineinzuarbeiten – gerade wenn man keine Akademiker*in oder nicht ganz auf der Höhe der fachinternen Diskussion ist. Ich bin allerdings der Meinung, dass auch die abstrakten und für manche Menschen unverständlichen Überlegungen es wert sind, verfolgt zu werden, weil ich glaube, dass damit wirkliche Probleme in der Welt bearbeitet oder vielleicht sogar geklärt werden können. Bei aller nötigen Komplexität und Abstraktion habe ich durchaus den Anspruch, Texte zu schreiben, die für Laien zumindest nicht prinzipiell unverständlich sind, sondern die mit genügend Zeit und Interesse durchdrungen werden können.
Erkennt man einen gelungenen Text also daran, dass er so komplex wie nötig und so verständlich wie möglich ist?
Den Komplexitätsgrad halte ich in der Tat für entscheidend: Ein Text sollte weder unter- noch überkomplex sein. Ausschläge in die eine wie die andere Richtung sind problematisch, denn entweder werden wichtige Aspekte, die man explizieren sollte, nicht erläutert oder ein Sachverhalt wird auf langweilige und ermüdende Art geradezu übererklärt.
Außerdem würde ich – etwas diffus gesprochen – sagen: Ein gelungener Text fließt. Der Textfluss ist zu unterscheiden von begrifflicher Präzision oder argumentativer Stringenz. Texte können inhaltlich überzeugend und trotzdem sperrig, geradezu roh in ihrem Ausdruck sein – oder sie lesen sich eben wie geschliffen.
Welche Rolle spielt die Belletristik, wenn es darum geht, solche fließenden oder geschliffenen Texte zu verfassen?
Wer viel Belletristik liest, entwickelt im besten Falle eine Sensibilität für Sprache und ein Gespür für den Rhythmus von Texten. In meiner Vorstellung hat belletristisches Lesen keinen direkten, sondern eher einen subkutanen Einfluss auf das wissenschaftliche Schreiben. Wir bewegen uns dadurch selbstverständlicher in unserem Sprachraum. So gesehen sind wir eingelassen in ein Sprachgefühl, das banal oder eben elaborierter sein kann und das wir – unter anderem durch Belletristik – weiter ausbilden können. Ich vermute, dass alle begnadeten Stilist*innen – auch des wissenschaftlichen Schreibens – einen guten Zugang zu Literatur haben.
Wer oder was ermächtigt Sie zum Schreiben?
Niemand. Oder vielleicht der etwas naiv klingende ernsthafte Glaube daran, dass sich das, was in den Texten verhandelt wird, auf die Welt auswirken kann. Die Klärungen, die hier versucht werden, können sich – jedenfalls potenziell – auf soziale Akteure, auf deren Welt- und Selbstbezug und auf kollektive Handlungsfähigkeit auswirken und übertragen. Dadurch kann ich einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass unsere Gesellschaft und unsere Situation – ich sage mal – klarer wird. Und damit veränderbar. Denn die meisten Begriffe, mit denen ich mich beschäftigt habe und in der ein oder anderen Form noch beschäftige, von „Entfremdung“, über „Ausbeutung“ oder „Solidarität“, bis hin zu „Fortschritt“ und „Regression“, spielen eine Rolle für das Selbstverständnis von Akteuren. Sie haben etwas damit zu tun, wie man seine eigene Lage versteht, wie man sich ins Verhältnis zu den anderen und zur Welt setzt und welche Probleme man identifiziert. Auch wenn es naiv klingt, bin ich überzeugt, dass es nicht sinnlos ist, gerade über komplexe Zusammenhänge und Sachverhalte philosophisch nachzudenken. Hier kommen wir wieder an den Anfang unseres Gesprächs: Die Philosophie ist kein abgeschlossenes Wissen, das es zu vermitteln gelte. Vielmehr braucht es Philosoph*innen, die sich aktiv in Diskussionen einschalten und einschreiben – an der Universität wie in der Gesellschaft. Mitunter verirrt sich das philosophische Denken dabei in der Eiswüste der Abstraktion, dann braucht es einen Kompass, um wieder zurückzufinden. Dadurch dauert es teilweise sehr lange, bis man wieder bei dem konkreten Problem angekommen ist, das einen anfangs interessiert hat. Aber es gibt den Weg dorthin.
Stimmen Sie als wissenschaftliche Autorin überein mit Ihren Texten, die ja das Ergebnis dieses ausgiebigen Nachdenkens sind?
Eigentlich stimmt man nie vollständig überein mit den Texten, die man schreibt. Denn das Schreiben ist ein Äußerungsprozess, dessen Produkt, der Text, einem letztlich immer auch etwas fremd gegenübertritt. Manchmal gefällt mir, was mir da begegnet, und manchmal nicht. Aber es gibt immer ein Moment der Begegnung, eben weil mir die Inhalte als Text in gewisser Hinsicht fremd geworden sind. Und deshalb muss man an einem bestimmten Punkt der inhaltlichen Auseinandersetzung anfangen zu schreiben: um den eigenen Gedanken als etwas Fremdes zu begegnen.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Universität
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