Heike Kahlert | Rezension | 03.09.2024
Exzellenz und männliche Exklusivität
Rezension zu „Hierarchien. Das Unbehagen der Geschlechter mit dem Harnack-Prinzip. Frauen in der Max-Planck-Gesellschaft“ von Birgit Kolboske
Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte der Max-Planck-Gesellschaft
Dass und wie wissenschaftliche Exzellenz mit geschlechtlicher Ungleichheit einhergeht, ist in der frauen- und geschlechterbezogenen Wissenschaftsforschung belegt. Einen Schwerpunkt bilden dabei Untersuchungen zu Exzellenzprogrammen, etwa zur Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder (2005–2017/2019)[1] oder zur Forschungsförderung des European Research Council der Europäischen Kommission[2]. Hingegen wird den disziplinären Spezifika und Differenzen im Zusammenhang mit Exzellenz sowie den außeruniversitären Einrichtungen der Spitzenforschung aus Geschlechterperspektive bislang weit weniger Aufmerksamkeit zuteil.
Birgit Kolboske kommt das Verdienst zu, mit ihrer hier besprochenen Untersuchung eine auf sorgfältiger Quellenarbeit basierende und detailreiche Längsschnittbetrachtung zum genderbezogenen soziokulturellen und strukturellen Wandlungsprozess der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) in den Jahren 1948 bis 1998 vorgelegt zu haben. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zur empirischen Erforschung von Geschlechterverhältnissen in außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Ziel der Studie, bei der es sich um die stark gekürzte und überarbeitete Fassung der Dissertation der Verfasserin handelt, ist eine aus feministischer Perspektive erforschte Frauen- und Geschlechtergeschichte der MPG. Feministisch meint hier, dass
„[d]ie vorherrschenden Geschlechterverhältnisse und die hierauf bezogenen Karriereverläufe […] ebenso untersucht [werden] wie die langwierigen Transformationsprozesse weg von in der Regel intransparenten Wirkungszusammenhängen informeller (männlicher) Netzwerke hin zu einer modernen, im Sinne von zunehmend an Gleichstellungspolitik orientierten Forschungsinstitution“ (S. 10).
Kolboske untersucht dabei vornehmlich „traditionell frauengeschichtlich“ (S. 11) Frauen als Akteurinnen in der MPG. Dabei fokussiert sie zwei Bereiche, denen je ein Kapitel gewidmet ist: einerseits den Bereich des Büros respektive Vorzimmers, in dem das Gros der weiblichen Angestellten der MPG die meiste Zeit als Sekretärinnen tätig war (Kapitel 2, S. 31 ff.), andererseits den Bereich der Wissenschaft, zu dem in der MPG lange Zeit nur sehr wenige Frauen als Wissenschaftlerinnen Zugang erhalten haben (Kapitel 3, S. 155 ff.). Der geschlechtergeschichtliche Fokus der Studie liegt auf den letzten zehn Jahren des Untersuchungszeitraums, also 1988 bis 1998, in denen sich die MPG mit Fragen der Chancengleichheit auseinanderzusetzen begann (Kapitel 4, S. 351 ff.). Gerahmt werden diese drei, je sehr umfangreichen Kapitel von einer Einleitung (Kapitel 1, S. 9 ff.), die in die leitenden Fragestellungen, den Forschungsstand, das methodische Vorgehen und die Quellen der Studie einführt, sowie einem Schluss (Kapitel 5, S. 467 ff.), der aus einer die Hauptgedanken der Studie bündelnden Quintessenz sowie einem knappen Ausblick auf die Frauen- und Geschlechtergeschichte der MPG von 1998 bis 2023 besteht.
Das Harnack-Prinzip als Alleinstellungsmerkmal des Forschungsverständnisses der Max-Planck-Gesellschaft
Die MPG wurde am 26. Februar 1948 in Göttingen als Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) gegründet. Diese existierte seit 1911 und galt als Organisation für Grundlagenforschung ihrer Zeit. Viele KWG-Institute waren unter der nationalsozialistischen Herrschaft für Forschungsaufgaben in Verbindung mit dem Krieg in Dienst genommen worden, auch hatten einzelne Wissenschaftler ethische Forschungsregeln verletzt; die Situation vieler KWG-Institute war infolge des Krieges chaotisch und unklar. Die Alliierten ermöglichten nach 1945 einen Neuanfang unter der Leitung des international renommierten und politisch unbescholtenen Physik-Nobelpreisträger Max Planck.[3]
Bis heute sind die MPG und ihre Institute nach dem Harnack-Prinzip organisiert, dessen Name auf den ersten Präsidenten der KWG, Adolf von Harnack, zurückgeht. Es handelt sich um ein persönlichkeitszentriertes Strukturprinzip, das die MPG als Leitprinzip von anderen Forschungseinrichtungen unterscheidet und bis heute als Gradmesser für ihren Erfolg betrachtet wird.[4] Demnach werden traditionell die vermeintlich besten Köpfe als Wissenschaftliche Mitglieder (in der Regel Direktor:innen) berufen: „Max-Planck-Institute entstehen nur um weltweit führende Spitzenforscherinnen und -forscher herum. Diese bestimmen ihre Themen selbst, sie erhalten beste Arbeitsbedingungen und haben freie Hand bei der Auswahl ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ (S. 177) sowie „alleinige Verfügungsgewalt“ (S. 318) über das Personal, etwa bei Beförderungen und der wissenschaftlichen Schwerpunktsetzung. Die Annahme der vermeintlichen Einzigartigkeit des genialen Wissenschaftlers (beziehungsweise der genialen Wissenschaftlerin) trägt zudem im Arbeitskontext dazu bei, insbesondere an der Spitze niemanden gleichberechtigt neben sich zu dulden.
Das Harnack-Prinzip hat nach Kolboske Ungleichheit zwar nicht eingeführt, aber mit dem Anspruch geschlechtsneutraler Objektivität gesellschaftliche Ungleichheitsvorstellungen übernommen und in einer spezifischen Form nicht nur reproduziert, sondern verstärkt und dauerhaft manifestiert. Zugleich werde das Harnack-Prinzip seit geraumer Zeit auch kritisiert:
„So gilt seine klassische Auslegung, dass Institute um geniale Direktor:innen herum etabliert werden, als überholt. Um die MPG global wettbewerbsfähig zu halten, bestimmen inzwischen innovative Forschungskonzepte die Erneuerung bzw. Umorientierung eines Instituts – für die dann passend exzellente Leitungskräfte gesucht werden.“ (S. 472)
– eine Entwicklung, die jedoch im Untersuchungszeitraum der Studie noch nicht zum Tragen kommt.
Die Arbeitswelt von Sekretärinnen in der Max-Planck-Gesellschaft
Im ersten der umfangreichen Hauptkapitel (S. 31 ff.) steht die Büroarbeit in der MPG im Mittelpunkt. Kolboske charakterisiert diese als Frauenarbeit und zeichnet den Wandel dieses in Untersuchungen zu Hochschule und Forschung häufig vernachlässigten Arbeitsbereichs von der (früheren) Wissenschaftsunterstützung zur (heutigen) Wissenschaftskoordination beziehungsweise zum (heutigen) Wissenschaftsmanagement nach. Bezeichnenderweise muss die Verfasserin dafür zunächst wesentlich auf Sekundäranalysen vorhandener Literatur zur Entwicklung der Büroarbeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Informationen aus (Telefon-)Gesprächen mit ehemaligen Sekretärinnen aus dem Präsidialbüro der MPG zurückgreifen; empirisches Material liegt zu diesem Arbeitsbereich nur in eingeschränktem Umfang vor, etwa in Form von Personalunterlagen, Stellenausschreibungen und (erst) seit 1974 auch statistischen Erhebungen zu den Mitarbeiter:innen der MPG.
Insbesondere die Erinnerungen ehemaliger Chefsekretärinnen im Präsidialbüro geben interessante Einblicke in den beruflichen Alltag in den Vorzimmern früherer MPG-Präsidenten und die dort herrschende Geschlechterhierarchie zwischen den im Untersuchungszeitraum fast ausnahmslos männlichen Chefs und ihren Büromitarbeiterinnen. Kolboske arbeitet heraus, dass die Vorzimmer als Zentralen fungier(t)en, in denen Informationen koordiniert, kontrolliert, verhandelt und wenn nötig auch Konflikte gelöst werden. Dabei tritt eine Besonderheit der MPG zutage, die sich im Übrigen auch auf anderen Hierarchieebenen der Forschungseinrichtung finden lässt: Die Sekretärinnen vermitteln „das Gefühl, Teil einer großen, erfolgreichen und berühmten Familie zu sein“ (S. 147). Im Zuge dessen „kommt die familiale Rollenverteilung zum Tragen: Die damit verbundenen tradierten familialen Bilder und Erwartungshaltungen verschaffen der Sekretärin in ihrer Rolle als Hausfrau oder Mutter eine gewisse Binnenmacht, während der Vorgesetzte (Vater) Autorität repräsentiert, die sie akzeptiert und zu akzeptieren hat.“ (S. 147, Herv. im Original) Daraus resultiere bei den Sekretärinnen eine Aufopferungsbereitschaft bis hin zur Selbstausbeutung, die mit persönlicher Anerkennung durch ihre (männlichen) Vorgesetzten, nicht aber monetär entlohnt werde.
Kolboske zufolge ist heutzutage an die Stelle dieser familialisierten Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnisse ein professionalisiertes Wissenschaftsmanagement getreten, das überwiegend von Frauen, häufig mit akademischem Hintergrund, durchgeführt und auch etwas besser bezahlt wird: Da nur wenige Frauen eine Stelle in der Forschung finden, wechseln sie in die Wissenschaftskoordination – ohne dass sich generell Geschlechterhierarchien ändern.
Eine ,Sisterhood of Science‘? Wissenschaftskarrieren von Frauen in der Max-Planck-Gesellschaft
Im zweiten großen Kapitel (S. 155 ff.) befasst sich Kolboske mit dem Bereich der Wissenschaft und erörtert, wie sich die In- oder Exklusion von MPG-Wissenschaftlerinnen in unterschiedlichen Führungspositionen und auf verschiedenen Besoldungsstufen im Untersuchungszeitraum dargestellt haben: Was hat Wissenschaftskarrieren von Frauen in der MPG gefördert, was blockiert? Welche Rolle spielte dabei das Harnack-Prinzip in Verbindung mit der Verpflichtung zu einer für vermeintlich objektiv und geschlechtsneutral gehaltenen wissenschaftlichen Exzellenz? Wie lässt sich erklären, dass – ohne vergeschlechtlichte Zuschreibungen und daraus resultierende gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen – das Harnack-Prinzip dazu instrumentalisiert wurde, die Spitzenpositionen der MPG über Jahrzehnte hinweg nahezu ausnahmslos mit Männern zu besetzen und eine patriarchale Wissenschaftsstruktur aufrecht zu erhalten?
Dieses Kapitel ist von der These geleitet, dass das Harnack-Prinzip
„die habituelle Verankerung der etablierten Akteure – also den im gesamten Untersuchungszeitraum fast ausnahmslos männlichen Wissenschaftlichen Mitgliedern und Direktoren – für ihr Verständnis guter wissenschaftlicher Arbeit sowie die Frage [bildet], wer über deren Qualität zu befinden hat, und last, but by no means least: wer als zugehörig anerkannt wird – und wer eben nicht. Damit strukturierte das Harnack-Prinzip in der MPG ebenso wie zuvor in der KWG die klar patriarchale Hierarchie – und hat entscheidend zum ,akademischen Frauensterben‘ in der MPG beigetragen: Wissenschaftlerinnen durften bestenfalls als Ausnahmeerscheinungen mitmachen.“ (S. 182, Herv. im Original)
Eindrücklich zeigt Kolboske anhand der Biografien von weiblichen Wissenschaftlichen MPG-Mitgliedern – im 50 Jahre umfassenden Untersuchungszeitraum wurden 13 weibliche und 678 männliche Wissenschaftliche Mitglieder berufen –, dass Antisemitismus, Klasse und Geschlecht als wesentliche Exklusionskriterien und Einflussfaktoren fungierten und insbesondere das Geschlecht die Wissenschaftskarrieren in der MPG bestimmte. Demnach folgten die männlichen Direktoren dem Zeitgeist sowie einem traditionellen Geschlechterrollen- und Wissenschaftsverständnis und behinderten den Aufstieg von Frauen in der MPG nach Kräften: Diese konnten den geforderten hohen Qualitätsstandards angeblich nur in seltenen Fällen gerecht werden. Das derart geschlechtsspezifisch ausgelegte Harnack-Prinzip erweist sich als darwinistisch: Nicht die vermeintlich besten Köpfe setzten sich durch, es herrschte ein „,survival of the fittest‘“ (S. 341). Die aus diesen Kämpfen hervorgehenden Gewinner waren in aller Regel männlich, konnten als Institutsdirektoren unangefochten über die Karrieren ihrer Kolleginnen entscheiden und sicherten ihre Macht in männerdominierten Auswahlgremien sowie etablierten Netzwerken ab, die Frauen tendenziell ausschlossen. Eine ,Sisterhood of Science‘ – als Gegenstück zur ,Bruderschaft der Forscher‘ – hingegen ist in den ersten drei Generationen weiblicher Wissenschaftlicher Mitglieder in der MPG nicht entstanden, allein schon wegen ihrer geringen Zahl, vor allem aber auch weil die betreffenden Wissenschaftlerinnen die Geschlechterdiskriminierung nicht thematisierten.
Die Anfänge von Gleichstellungspolitik in der Max-Planck-Gesellschaft
Im dritten und letzten umfangreichen Kapitel (S. 351 ff.) zeichnet Kolboske den gleichstellungspolitischen Aufbruch der MPG in den Jahren 1988 bis 1998 nach – einem Zeitraum also, in dem in Deutschland die regelmäßige bundesweite politische Berichterstattung über die Entwicklung der Frauenanteile in der Wissenschaft begann, sich zentrale wissenschaftspolitische Akteure wie etwa der Wissenschaftsrat mit der Chancengleichheit der Geschlechter in Hochschule und Forschung auseinanderzusetzen anfingen und auf Bundesebene ein erstes Frauenfördergesetz für die Bundesverwaltung in Kraft trat. Zeitgleich sah sich die MPG nach einer ersten systematischen Bestandsaufnahme ihrer Personalstruktur Ende der 1980er-Jahre mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich kritisch mit der Unterrepräsentanz von Wissenschaftlerinnen in den eigenen Reihen zu beschäftigen und bildete hierzu 1990 einen Wissenschaftlerinnenausschuss. Zentrale interne Anstöße zur Diskussion über Frauenförderung gab zudem der Gesamtbetriebsrat der MPG, in dem sich 1987 ein Frauenausschuss gegründet hatte.
Kolboske rekonstruiert zunächst die Interaktionsbeziehungen der geschlechterpolitischen Aushandlungsprozesse zwischen den verschiedenen Akteur:innen innerhalb der MPG und untersucht sodann die daraus resultierenden Förderleitlinien und die in den verschiedenen Gremien entwickelten Gleichstellungsmaßnahmen sowie deren Wirkung. Als treibende gleichstellungspolitische Kraft stellt die Autorin den Frauenausschuss des Gesamtbetriebsrats heraus, der in manchen Aspekten durch den Wissenschaftlerinnenausschuss unterstützt wurde und Rückenwind durch die Befürchtung der MPG erhielt, dass es zu finanziellen Einbußen oder gar externen Einmischungen bei der Auswahl des wissenschaftlichen Personals beziehungsweise gar der Einführung einer (Frauen-)Quote im wissenschaftlichen Bereich kommen könnte, wenn die gesetzlichen Vorgaben nicht eingehalten würden. Damit wurde ein Gleichstellungsprozess in der MPG angestoßen, der zunächst vor allem hinsichtlich der Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf erfolgreich war und dazu führte, dass die MPG 2006 als erste Wissenschaftsorganisation mit dem „berufundfamilie“-Audit zertifiziert wurde. Bezogen auf die Erhöhung des Frauenanteils in der Wissenschaft jedoch zeigte sich anfänglich kaum eine Veränderung.
Die Überzeugung, dass Wissenschaftlerinnen nur in Ausnahmefällen den hohen Standards der vom Harnack-Prinzip vorgegebenen wissenschaftlichen Exzellenz genügen konnten, führte nämlich zu einer restriktiven Berufungspolitik und einer nur halbherzigen Umsetzung der MPG-intern vereinbarten Gleichstellungsmaßnahmen. Diese konnten erst mit Einführung eines C3-Stellen-Sonderprogramms, bei dem es im Übrigen lediglich um neun Professuren für Frauen ging, nicht nur nummerische, sondern vor allem auch symbolische Erfolge erzielen. So gelang es sukzessiv, die tradierte Geschlechterordnung der MPG aufzubrechen und einen Kulturwandel zu befördern, den Kolboske als „Erkenntnis, dass die ‚besten Köpfe‘ durchaus auch auf den Schultern von Frauen sitzen können“ (S. 11), beschreibt.
Kontinuität und Wandel von Geschlechterhierarchien in der Max-Planck-Gesellschaft
Kolboskes Studie basiert durchweg auf gründlich ausgewerteten und größtenteils bisher nicht untersuchten Quellen, die aus zahlreichen Dokumenten verschiedener schriftlicher wie mündlicher Datensorten bestehen, und auf umfangreiche Archivarbeiten verweisen. Die drei daraus resultierenden großen Kapitel sind durchweg gut und flüssig lesbar, allerdings zum Teil auch angesichts ihrer epischen Breite etwas langatmig.[5] Neben dem Detailreichtum, der historische Quellenarbeit auszeichnet und ihr Einzigartigkeit verleiht, hätte sich zumindest die soziologisch geprägte Rezensentin mehr darstellerische Zuspitzungen, argumentative Engführungen und theoretische Einordnungen gewünscht, beispielsweise im Hinblick auf die zentrale These der Studie. Die verwendeten fachsprachlichen Begriffe und Konzepte werden kaum erläutert, und ein konsistenter theoretischer Rahmen scheint zwar vorhanden zu sein, wird aber nicht ausgeführt und konsequent für die Interpretation der Befunde genutzt, zumal die drei großen Kapitel relativ unverbunden nebeneinanderstehen; argumentativ hätten sie jedoch intensiver aufeinander bezogen und verbunden werden können. Schließlich wird die im Buchtitel angelegte Verknüpfung mit Judith Butlers einflussreicher Publikation Das Unbehagen der Geschlechter[6] nicht näher erläutert.
Worin besteht nun „Das Unbehagen der Geschlechter mit dem Harnack-Prinzip“ und was haben die im Titel des Buches prominent gesetzten „Hierarchien“ damit zu tun? Während nach Kolboske das Unbehagen der Wissenschaftlerinnen mit dem Harnack-Prinzip daraus resultierte, dass es als Frauen exkludierendes Kriterium wirkt(e), erlebten die MPG-Wissenschaftler ihr Unbehagen mit dem Harnack-Prinzip immer dann, „wenn sie hätten anerkennen müssen, dass der jeweilig ,beste Kopf‘ auf den Schultern einer Frau saß, was weder in ihre Weltanschauung und schon gar nicht in ihren exklusiven Männerbund passte“ (S. 341). Das männliche Unbehagen manifestierte sich demnach nicht nur in der Sorge, die wissenschaftliche Deutungshoheit zu verlieren, sondern auch in der Frage, wer dem Anspruch des Harnack-Prinzips standhielt und wer nicht.
„Als diskursiv gebildetes Konstrukt übte das Harnack-Prinzip unter dem Vorwand einer angeblich objektiv messbaren Tatsache – Exzellenz – Herrschaft und Macht aus. So gesehen ging es bei dem Unbehagen der Geschlechter mit dem Harnack-Prinzip immer auch um einen Unterwerfungsprozess in machtdurchzogenen, diskursiven Strukturen.“ (S. 341)
Zumindest im Untersuchungszeitraum haben Frauen in diesem Unterwerfungsprozess überwiegend, wenn möglicherweise auch nur unbewusst, mitgespielt: Die Chefsekretärinnen erhielten darüber persönliche Anerkennung von ihren Vorgesetzten, und insbesondere die frühen weiblichen Wissenschaftlichen Mitglieder negierten mehrheitlich ihre Diskriminierung qua Geschlecht im Glauben an die Objektivität und Geschlechtsneutralität von Exzellenz, wohl auch, um ihre Besonderung als Frauen in der Wissenschaft möglichst klein zu halten. Erst die gesamtgesellschaftlich zunehmende Aufmerksamkeit für Chancenungleichheit im Geschlechterverhältnis brachte auch in der MPG eine institutionalisierte Gleichstellungspolitik und einen genderbezogenen soziokulturellen wie strukturellen Wandlungsprozess in Gang.
Kolboske reißt im Ausblick kurz an, wie sich seit 1999 die Gleichstellungspolitik in der MPG entwickelt hat und welche Erfolge sie seither verzeichnen kann. Gleichwohl wäre es interessant, die auf Geschlechterhierarchien bezogenen Entwicklungen in der MPG seit 1999 in einem nächsten Untersuchungsschritt detaillierter zu betrachten und dabei erneut die Entwicklungen in den Büros beziehungsweise im Wissenschaftsmanagement, in den Wissenschaftskarrieren von Frauen und in der Gleichstellungspolitik in den Blick zu nehmen und miteinander in Beziehung zu setzen, gerade auch angesichts der im vorliegenden Buch angesprochenen jüngeren Kritik und Revision des Harnack-Prinzips. Forschungsleitend könnten dabei die Fragen sein, ob, wie und inwiefern es in der MPG im 21. Jahrhundert gelingt, wissenschaftliche Exzellenz und Gleichstellung der Geschlechter, aber möglicherweise auch die Berücksichtigung von Diversität, strukturell und soziokulturell in Einklang zu bringen, welche Hemmnisse dabei auftreten und wie diese überwunden werden könnten. Mit der Erforschung dieser Fragen könnte nicht nur ein Beitrag zur Schließung einer aktuellen Forschungslücke geleistet werden, sondern könnten möglicherweise auch Anstöße für die Weiterentwicklung einer gleichstellungsbezogenen Wissenschaftspolitik gegeben werden, die gleichermaßen die Förderung der Exzellenz und der Chancengleichheit in der deutschen Wissenschaftslandschaft auf ihre Agenda setzt.
Fußnoten
- Siehe etwa Anita Engels / Sandra Beaufaÿs / Nadine V. Kegen / Stephanie Zuber, Bestenauswahl und Ungleichheit. Eine soziologische Studie zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Exzellenzinitiative, Frankfurt am Main / New York 2015; Heike Kahlert, A Letter from the President – or: How the German Universities Excellence Initiative Became a Driver of Gender Change in the German Science Policy Discourse, in: Sociologica – International Journal for Sociological Debate 17 (2023), 2, S. 73–91, https://doi.org/10.6092/issn.1971-8853/17087.
- Zum Beispiel Barbara Hönig, Europe’s New Scientific Elite: Social Mechanisms of Science in the European Research Area, London / New York 2017.
- Max-Planck-Gesellschaft, Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, (20.7.2024).
- Hubert Laitko, Das Harnack-Prinzip als institutionelles Markenzeichen: Faktisches und Symbolisches, in: Dieter Hoffmann / Birgit Kolboske / Jürgen Renn (Hg.), „Dem Anwenden muss das Erkennen vorausgehen“: Auf dem Weg zu einer Geschichte der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft, Berlin 2015, S. 135–194.
- Die Verfasserin dankt Florian Schmaltz explizit für „seine Unbeirrbarkeit und Liebe zum Detail“ und dafür, dass er aus ihr als studierter Politologin und Philologin eine Historikerin gemacht habe (S. 479). Florian Schmaltz studierte Geschichte, Literaturwissenschaften, Philosophie an der Universität Hamburg und der Freien Universität Berlin. Von 2014 bis 2022 war er Projektleiter des „Forschungsprogramms Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft“ am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und Ko-Vorsitzender der Historischen Kommission „Geschichte der Medizinischen Fakultär [sic] der Reichsuniversität Straßburg“ (2016–2022).“ – Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) e. V., Florian Schmaltz – Vita, https://zzf-potsdam.de/de/mitarbeiter/florian-schmaltz (22.7.2024).
- Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Gender Geschichte Methoden / Forschung Rassismus / Diskriminierung Soziale Ungleichheit Wissenschaft
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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