Herbert Schwaab | Rezension | 20.03.2025
Fernsehen als Medienensemble
Rezension zu „Feldforschung auf dem Sofa. Fernsehen in Haushalten der Gegenwart“ von Vera Klocke

In einer Wohngemeinschaft in Berlin kommen junge Menschen, die in der Computerspielbranche arbeiten, zu einem Fernsehabend zusammen. Im Zentrum des Wohnzimmers steht ein großer Flachbildschirm, auf dem sie sich, gesteuert über eine App auf dem Smartphone, Let’s-Play-Videos und andere YouTube-Clips ansehen. Anschließend suchen sie auf Streaming-Plattformen nach Filmen, die sie schon oft gesehen haben und die sie zudem als DVD oder Blu-Ray besitzen. Die Blu-Ray des ausgewählten Anime-Films schauen sie dann auf einer Playstation, die sie an den Bildschirm anschließen. Dabei liegen sie auf Betten und Sofas, kiffen, trinken und essen Pizza. Der offensichtliche Freizeitmodus hält einen der Mitbewohner allerdings nicht davon ab, zwischendurch Arbeitsdateien anzuschauen, die er von seinem Computer auf den großen Bildschirm übertragen kann (S. 98–108). Eine Projektmanagerin entscheidet sich wiederum bewusst dafür, keinen Fernsehapparat zu besitzen, und damit auch dagegen, dass das Medium einen festen Platz in ihrem Haushaltssetting einnimmt. Sie schaut vorwiegend ein nicht lineares Programm auf ihrem mobilen Notebook, orientiert sich dabei aber neben Anbietern wie Netflix an den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender: „Anna hat Angst vor Routinen, die sich gegen ihren Willen ausbilden, und versucht, sie mit Willenskraft zu durchbrechen.“ (S. 121) Aber obwohl sie sich gegen eine stabile räumliche, mit dem Fernsehen verbundene Ordnung entscheidet und es ihr wichtig zu sein scheint, über die Zeiten ihrer Rezeption selbst zu bestimmen, schaut sie sich auf dem Notebook gerne Live-Spiele der Fußballeuropameisterschaft der Männer an, um „im Moment [zu] sein“ (S. 127). Eine vom Medium entkoppelte Form des Fernsehens ist bei ihr noch immer von den Eigenschaften der Liveness oder der Ko-Präsenz bestimmt, die Fernsehtheorien ihm immer wieder zugeschrieben haben, während die oben beschriebene WG zwar einen klassischen Fernsehapparat nutzt, auf dem sie aber komplett nicht linear schaut.[1] Eine Familie mit Kindern inszeniert dagegen hochgradig ritualisierte Fernsehabende, aber ausschließlich über Streaming-Angebote von Filmen für die ganze Familie, die sie mit einem Beamer auf eine Leinwand projizieren, verbunden mit einer komplizierten und nicht immer erfolgreich über Apps auf dem Smartphone gesteuerten Soundanlage. Die Familie muss die Fernsehsituation also immer wieder von Neuem aufwendig aufbauen (S. 146).
In Vera Klockes Studie Feldforschung auf dem Sofa zum Fernsehen und seinem überaus wandelbaren Ort im Zuhause finden sich diese und viele weitere detailreiche Beschreibungen von Medienrezeptionen aus fünf untersuchten Haushalten. Die Arbeit verortet sich in einer ethnografisch orientierten Fernsehforschung, zudem setzt sich die Autorin mit der Rolle von materieller Realität und von Objekten auseinander. Sie fragt, welche Bedeutung das Fernsehen „als Ding und Praxis aktuell für Haushalte“ (S. 9) (noch) hat, und schließt damit an Alltagsforschende wie Hermann Bausinger an, der bereits in den 1980er-Jahren mit seinen Pionierwerken nicht nur die Rezeption von Fernsehen, sondern auch dessen Zusammenspiel mit der „materiellen Kultur der häuslichen Sphäre“ (S. 27) erkundete, also die Interaktion von Räumen, Menschen, Objekte und Medientechnologien.[2]
Entscheidend für die Arbeit sind ihre ethnografische Ausrichtung, die Methode der teilnehmenden Beobachtung und die dichten Beschreibungen.
Die Autorin gibt im ersten Teil der Arbeit einen guten Überblick zu Studien, die ein Interesse an denjenigen materiellen Realitäten und Praxen haben, die die Rezeption von Medien rahmen. Die für die Arbeit wichtigen Stichwortgeber reichen von Vertretern der britischen Cultural Studies wie David Morley,[3] die den Objektcharakter von Fernsehen ebenso in den Blick nehmen wie das Zuhause und die – ähnlich wie Bausinger – mit teilnehmender Betrachtung gearbeitet haben (S. 46 f.), bis zu Daniel Miller als Vertreter der Material Cultural Studies, die Objekte und das Alltägliche erkunden (S. 28).[4] Klocke beschäftigt sich mit dem ebenfalls in den Cultural Studies entwickelten Domestizierungsansatz, der sich auf häusliche Arrangements und Routinen im Zusammenhang mit Mediennutzung konzentriert (S. 53).[5] Sie versucht, begrifflich und methodisch an die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) anzuschließen, vor allem weil diese ein neues Vokabular und eine neue Perspektive zur Erkundung von als gleichrangig betrachteten Relationen zwischen Subjekten und Objekten anbietet (S. 68 f.).[6] Entscheidend für die Arbeit sind ihre ethnografische Ausrichtung, die Methode der teilnehmenden Beobachtung und die dichten Beschreibungen (S. 55). Damit geht eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle als Forscherin einher, die auch in klassischen ethnografischen Arbeiten zu finden ist (S. 83).
Der Theorieteil ist zum einen deswegen gelungen, weil er auch innovative Methoden wie das Erstellen von digitalen Skizzen der Räume, in denen ferngeschaut wird, beinhaltet und sich sehr genau mit den Formen der (ethnografischen) Gesprächsführung beschäftigt, die Klocke in ihren fünf Haushaltsstudien anwendet. Zum anderen macht er deutlich und erinnert uns wieder daran, was eine auf den Alltag ausgerichtete ethnografische Zuschauerforschung leisten kann. Sie ist gerade in Kombination mit Theorien wie der ANT, die unsere Aufmerksamkeit auf die Materialität der Lebenswelt und das gleichberechtigte Zusammenspiel von Menschen, Medien und Objekte lenken, aktuell und relevant. Aus diesem Grund lässt sich vielleicht nachsehen, dass Klocke in den nun folgenden dichten Beschreibungen wenig Versuche unternimmt, sie auf die dargelegten Theorien zu beziehen.
Die Autorin hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit unterschiedlichen Menschen in deren Zuhause fernzusehen, sie dabei zu beobachten, Fragen zu stellen, aber auch einfach nur Chips zu essen. Daraus entwickelt sie ihren eigenen ethnografischen Ansatz, der im zweiten Teil in sehr ausführliche Beschreibungen der Fernsehsettings und -praxen in ausgewählten Haushalten mündet. Klockes Forschung ist vor allem deswegen relevant, weil sich das Medium Fernsehen in den letzten Jahren extrem zu wandeln scheint und der Eindruck entsteht, es würde komplett verdrängt werden von Streaming-Plattformen wie Netflix. Dagegen insistiert unter anderem die Fernsehwissenschaftlerin Jana Zündel mit ihrer Studie Fernsehserien im medien-kulturellen Wandel darauf, dass Fernsehen nicht verschwindet. Es habe sich schon immer in einem Veränderungsprozess befunden und sich bereits vor dem Siegeszug der Streaming-Anbieter in heterogene und hybride Darstellungsformen ausdifferenziert.[7] Weil die „Kontinuität des Fernsehens […] sein Wandel“[8] sei, spricht Zündel von Fernsehens (Plural); auch um deutlich zu machen, dass wir es trotz der vielen Transformationen immer noch mit Fernsehen zu tun haben.
Vera Klocke nimmt beides in den Blick: sowohl die relativ stabilen Anordnungen des Zuhauses inklusive der davon abhängenden Gewohnheiten und Praxen als auch die ständige und sehr differente Neuaushandlung der Fernsehorte und -rezeption.
Vera Klocke liefert dazu die perfekte Illustration, gerade weil sie beides in den Blick nimmt: sowohl die relativ stabilen Anordnungen des Zuhauses inklusive der davon abhängenden Gewohnheiten und Praxen als auch die ständige und sehr differente Neuaushandlung der Fernsehorte und -rezeption. Die oben beschriebene Familie, die ihre Fernsehsituation immer wieder neu aufbauen muss, ist ein Beispiel für die Entwicklungsdynamik eines Mediums, das immer noch als Fernsehen bezeichnet werden kann, auch wenn sich seine Materialität in Beamer, Notebooks, DVD-Player, Spielkonsolen, Smartphones oder an Computer angeschlossene Bildschirme auffächert und sich das geschaute Fernsehen nicht mehr aus einem linearen Sendemedium generiert, sondern aus dessen Mediatheken und Live-Streams oder von Streaming-Anbietern wie Netflix oder Amazon Prime.
Auch die Praxis des Fernsehens hat sich auf viele Weisen verändert, wie die dichten Beschreibungen und ihre Auswertungen zeigen: So weisen die beobachteten Personen dem Fernsehen oft keinen festen Ort mehr zu (S. 178), ebenso spielt das Internet in den untersuchten Haushalten eine wichtige Rolle (S. 179) und ist vollkommen in den Alltag integriert. Für einige Haushalte verweist Klocke auf eine Ko-Existenz des neuen und alten Fernsehens: In der oben beschriebenen medienaffinen Wohngemeinschaft findet einerseits ein komplexer und variantenreicher Mediengebrauch statt, andererseits hält die Gruppe am Objekt Fernseher fest, das noch immer als großer Flachbildschirm seinen Platz im Wohnraum einnimmt. Klockes Formulierung, „dass das Fernsehen das Medienensemble ist“ (S. 185), erfasst besonders gut die heterogene materielle und praktische Realität des Mediums, die sie an den untersuchten Haushalten herausarbeiten kann.
Das sich aus unterschiedlichen Komponenten immer wieder neu konfigurierende Fernsehen fügt sich nicht nahtlos in den Alltag ein, vielmehr berichten die Protagonist:innen immer wieder von Überforderung und einer Tendenz zu langen, zermürbenden Entscheidungsprozessen, die entweder zum Abbruch oder zu einer Rückkehr zu den immer noch attraktiven Live-Inhalten wie Fußballspielen führen. Die bewusste Ritualisierung von Fernsehen in gemeinsamen Fernsehabenden, wie bei der untersuchten Familie, begreift die Autorin als ein weiteres Mittel, um Überforderung und Überangebot zu begegnen (S. 192).
Feldforschung auf dem Sofa macht gerade durch die genauen Beobachtungen und das behutsame Eindringen in häusliche Räume des Fernsehens deutlich, dass wir nicht vom Ende des Fernsehens sprechen können, sondern von einer lebendigen, widersprüchlichen, reichen, vielfältigen und zum Teil auch bizarren Fernsehkultur. Klockes Erkundungen tragen zur begrifflichen Schärfe bei, weil sie plakativen Unterscheidungen widerspricht – etwa der zwischen einem alten, entspannten Lean-back- und einem neuen, konzentrierten Sit-forward-Modus beim Fernsehen: Die Zuschauenden lehnen sich nach wie vor wie beim ‚alten‘ Fernsehen bequem zurück und schauen dennoch gezielt ausgesuchte Inhalte; sie entwickeln auch dann habitualisiertes Verhalten und Automatismen, wenn sie mit den komplexen Arrangements verschiedener Mediengeräte operieren, um fernzuschauen (S. 195). Es sind Erkenntnisse wie diese, die Vera Klockes scheinbar so simple Form der dichten Beschreibung des Fernsehalltags überaus produktiv für die Fernsehforschung machen.
Fußnoten
- John Ellis, Fernsehen als kulturelle Form, in: Ralf Adelmann / Jan O. Hesse / Judith Keilbach / Markus Stauff / Matthias Thiele (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie, Geschichte, Analyse, Konstanz 2001, S. 44–73, hier S. 65.
- Vgl. Hermann Bausinger, Alltag, Technik, Medien, in: Harry Pross / Claus-Dieter Rath (Hg.), Rituale der Medienkommunikation. Gänge durch den Medienalltag, Berlin 1983, S. 24–36.
- Vgl. David Morley, The ‚Nationwide‘ Audience. Structure and Decoding, London 1980.
- Vgl. Daniel Miller, Der Trost der Dinge. Fünfzehn Porträts aus dem London von heute, übers. von Frank Jakubzik, Berlin 2010.
- Vgl. Jutta Röser / Kathrin Friederike Müller / Stephan Niemand / Ulrike Roth, Das mediatisierte Zuhause im Wandel. Eine qualitative Panelstudie zur Verhäuslichung des Internets, Wiesbaden 2019.
- Vgl. Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, übers. von Gustav Roßler, Frankfurt am Main 2010.
- Jana Zündel, Fernsehserien im medienkulturellen Wandel, Köln 2022, S. 18.
- Ebd., S. 122.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Digitalisierung Kultur Medien
Empfehlungen
Auf dem Weg zu einer Theorie der digitalen Gesellschaft
Rezension zu „Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft“ von Armin Nassehi
Zeig Dich im Zauberspieglein
Rezension zu „Body-Bilder. Körperkultur, Digitalisierung und soziale Netzwerke“ von Jörg Scheller und „Gesichtserkennung. Vernetzte Bilder, körperlose Masken“ von Roland Meyer
Kapitalismus, digital
Rezension zu „Theorien des digitalen Kapitalismus. Arbeit und Ökonomie, Politik und Subjekt“ von Tanja Carstensen, Simon Schaupp und Sebastian Sevignani (Hg.)