Monika Dommann | Rezension |

Follow the Money & Stop the Flows

Natasha Tusikov kritisiert das Recht jenseits des Rechts

Natasha Tusikov:
Chokepoints. Global Private Regulation on the Internet
USA
320 S., $ 29,95
ISBN 9780520291225

„Chokepoints“ sind jene Nadelöhre, an denen niemand vorbeikommt, der beispielsweise Waren, Wissen oder Geldflüsse von A nach B transferieren will. Domain-Registratoren wie GoDaddy, Onlinezahlungsdienste wie PayPal und Suchmaschinen wie Google sind die Nadelöhre des Internethandels. Im Jargon der Akteur-Netzwerk-Theorie würde man in diesem Zusammenhang von „obligatory passage points“ sprechen. Wie stark die Bande zwischen diesen angesichts ihrer Macht über Daten und Markttransaktionen von Natasha Tusikov als Makrovermittlern bezeichneten Unternehmen und dem US-amerikanischen Staat inzwischen geworden sind, zeigte sich der Öffentlichkeit im Jahr 2010: Nach einer entsprechenden Aufforderung der US-amerikanischen Behörden schlossen Amazon, PayPal, VISA, Mastercard und andere Finanzunternehmen die Leaking-Plattform Wikileaks von ihren Diensten aus. Die im Kontext von Wikileaks bekannt gewordene Allianz zwischen Behörden und Makrovermittlern stellt allerdings bloß die Spitze des Eisberges dar. Tatsächlich ist die zunächst bei der Verfolgung von Kinderpornographie, Waffen- und Medikamentenhandel etablierte Zusammenarbeit in den letzten zehn Jahren auch auf die Ausschaltung illegitimer Märkte im Zusammenhang mit Produktfälschungen und sogenannter Internetpiraterie ausgedehnt worden. Weitgehend unbemerkt durch die Öffentlichkeit hat ein loser Verbund von Inhabern geistiger Eigentumsrechte, zusammen mit einem kleinen Kreis von Interessenvertretern der staatlichen Behörden (hauptsächlich der USA und Großbritannien), an den Nadelöhren des Internets Regulationsmaschinerien mit globaler Ausstrahlung installiert.

Natasha Tusikov beschäftigt sich in ihrer hervorragend recherchierten Studie mit der Entstehung, der Funktionsweise und den gesellschaftlichen Folgen jener privaten Regeln, die im Zusammenhang mit der Regulierung von Produktfälschungen im Internet entstanden sind. Sie bringt damit Licht in die hinter verschlossenen Türen vereinbarten und in technische Operationen eingelagerten Normen zur Kriminalisierung und Eliminierung von gefälschten Markenwaren im Cyberspace, durchleuchtet mit anderen Worten eine Sphäre, die man ein Recht jenseits des Rechts nennen könnte.

Die im Jahr 2010 viel zu früh verstorbene US-amerikanische Soziologin Susan Leigh Star hätte ihre Freude gehabt an dieser Studie der ehemaligen Mitarbeiterin des Criminal Intelligence Service in Kanada, die inzwischen am Department for Social Science der York University in Toronto Kriminologie unterrichtet. Star hatte nämlich (in einem 1999 unter dem Titel „The Ethnography of Infrastructure“ erschienenen Aufsatz) dazu aufgerufen, „boring things“ zu studieren.[1] Der Verweis auf „langweilige Dinge“ im Zusammenhang mit Regeln, Standards, Klassifikationsschemata, technischen Anschlüssen etc. war natürlich die charmanteste Untertreibung in der Geschichte der Science and Technology Studies (STS), ging es doch um ihr alles andere als langweiliges Vorhaben, die in der Forschung weitgehend vernachlässigten sozio-technischen und sozio-epistemischen Verflechtungen endlich auf die Agenda der Sozialtheoretiker_innen zu bringen. Mit ihrer Studie zu den Regulativen und Barrieren, welche die globalen Waren- und Informationsflüsse an den Nadelöhren im Internet steuern, beweist Natasha Tusikov, dass man den von Star als Informations-Infrastrukturen bezeichneten Operationen, die an den Nadelöhren des Internethandels die Grenzen der sanktionierten Waren- und Informationsflüsse definieren, mit sozialwissenschaftlichen Methoden durchaus auf die Schliche kommt. Und dass man diese unsichtbaren Regeln und Operationen damit auch zurück in die so notwendigen politischen Debatten über ein Recht jenseits des Rechts führen kann.

Tusikov erschloss sich das empirische Material durch rund 90 Interviews, die sie zwischen 2009 und 2013 durchführte, in jener Zeitspanne, als der kleine eingeschworene Kreis (bestehend aus Anwälten von Internetfirmen, Rechteinhabern und Exponent_innen des Staates) eine Reihe von „non bending enforcement agreements“ vereinbarte. Und durch die Lektüre von Dokumenten, die Tusikov auf bestechende Art und Weise gegen den Strich zu bürsten versteht. Die entsprechenden Vereinbarungen, Rechtsfälle, Gesetzesvorlagen, Protokolle parlamentarischer Kommissionen, Jahresberichte von Internetunternehmen, Verlautbarungen von Wirtschaftsverbänden und Positionspapiere zivilgesellschaftlicher Gruppierungen bringt ihre Analyse nun endlich zum Sprechen.

Dass Gesetze zum Schutz des geistigen Eigentums durch einen kleinen Kreis von Rechteinhabern und der am Markt etablierten Intermediäre formuliert werden, hat eine lange Tradition, etwa in der Geschichte des US-amerikanischen Copyrights, wo die Betreiber neuer Vertriebs- und Verwertungsmedien (wie etwa des Phonographen, des Radios oder des Videos) immer erst verzögert an die Verhandlungstische gelassen wurden.[2] Es ist auch nicht neu, dass sich die Rechteinhaber und Vermittler im Rahmen von Gentlemen’s Agreements privat einigen, wie etwa die Geschichte der Bibliothekskopie lehrt. Neu ist allerdings, dass Staaten gar nicht mehr auf die Erlassung von Gesetzen drängen, sondern – auch um die langwierigen Diskussionen im Rahmen von Gesetzgebungsprozessen zu umgehen – gleich die flexibleren Formen der nichtbindenden Vereinbarungen mit den Vermittlern vorziehen. Sie operieren gar nicht mehr mit dem Recht, sondern setzen direkt bei der Kappung von Internetzugängen und Geldflüssen an.

Die Folgen dieser Vereinbarungen schlagen sich auf  mehreren Ebenen nieder, womit sich ein ganzes Aggregat rechtstheoretischer Fragen ergibt: Erstens werden durch die technikgestützten Maßnahmen der Makrovermittler zur Umsetzung der Richtlinien auch rechtlich legale, oder zumindest moralisch durchaus legitime Inhalte aus dem Netz gekippt. Zweitens werden durch die automatisierten Verfahren die Beschuldigten prophylaktisch rein auf der Basis von Verdachtsmomenten (aber nicht auf der Grundlage rechtskräftiger Urteile) angeschwärzt und von den Netzdiensten ausgeschlossen. Und drittens wird eine politische Debatte über die Legalität oder Illegalität von Markttransaktionen, über die involvierten ästhetischen, sozialen und politischen Werte sowie über die gesellschaftliche Wünschbarkeit von Imitationen – man denke etwa an die Produktion von Generika – umschifft.[3]

Anhand von Fallstudien, die sich mit der Zahlung (via PayPal, VISA und Mastercard), der Werbung (via Google, Yahoo, Bing), den Suchmaschinen (Google), den Domainregistratoren (am Beispiel von GoDaddy) und den Onlinemarktplätzen (eBay und Taobao) beschäftigen, analysiert Tusikov das Zusammenspiel zwischen den staatlichen und privaten Akteuren. Sie zeigt, wie die Kanalisierung privater und staatlicher Interessen funktioniert. Zugleich verweist sie auf jene, die bei diesem verdeckten Spiel außen vor bleiben, das heißt nicht nur die Konsumenten, sondern die Zivilgesellschaft. Zudem stellt Tusikov die Freiwilligkeit der Vereinbarungen in Frage, indem sie Interviewpartner zitiert, deren Aussagen bezeugen, dass die Behörden mit strengeren Gesetzen gedroht hätten, sollten sie sich nicht kooperativ zeigen.

Tusikov weist darauf hin, dass in der Debatte über die sogenannte Piraterie der Zusammenhang zwischen Logistik und Produktimitation und die mannigfaltigen Implikationen der Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Westen und dem Osten ausgeblendet werden: Dass Produkte in China imitiert werden, ist auch eine unmittelbare Folge der Auslagerung der Produktion vom Westen in den Osten. Mit der Verschiebung der Arbeitsplätze findet nämlich auch ein Transfer von Wissen statt, der sich gegen die Interessen der Rechteinhaber wenden kann, wie das Beispiel der Elektronikimitationen von Silicon- Valley-Produkten aus China zeigt.

Dass die Follow-the-Money-Strategie einen viel schnelleren und wirksameren Einfluss auf die Unterbindung der Zirkulation unerwünschter Produktimitationen hat als der langwierige Weg über die Gesetzgebung und etwaige Gerichtsverfahren, liegt auf der Hand. Doch ist es politisch problematisch, dass die nicht öffentlichen Verhandlungen, bei denen die Makrovermittler in die Pflicht genommen werden sollten, sobald es zu Verstößen gegen geistiges Eigentum kommt, genau zu dem Zeitpunkt begannen, als entsprechende Gesetzesvorlagen (Stop Online Piracy Act/SOPA und Protect Intellectual Property Act/PIPA 2012) nicht nur im US-amerikanischen Kongress, sondern auch in der Internetöffentlichkeit auf Widerstand stießen. Tusikov kritisiert die mangelnde Transparenz dieser Vereinbarungen: Während entsprechende Memoranden der Europäischen Union immerhin online publiziert wurden, sind die amerikanischen Absprachen meist nicht öffentlich zugänglich. Außerdem hat dieses in Kooperation mit den Makrovermittlern errichtete Anti-Piraterie-Regime den Effekt, dass (wiederum durch die Hintertür) US-amerikanisches und europäisches Recht stillschweigend globalisiert wird. Die Gewinne aus diesen Regelungen fließen einseitig auf die Konten der multinational operierenden Rechteinhaber im Westen. Neue asiatische Player (wie die Alibaba Group und ihre Internetbörse Taobao) erkaufen sich den Internetzugang quasi mit der Akzeptanz der US-amerikanischen Regeln.

Tusikovs Buch liefert eine Kritik an der Ausdehnung von Rechtsmitteln, die zunächst zur Bekämpfung von Terrorismus oder Kinderpornographie entwickelt wurden, inzwischen aber auf beliebige andere gesellschaftliche Bereiche angewandt werden. Und es ist eine Kritik am veränderten Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, das damit gleichsam durch die Hintertür Einzug gehalten hat.

Die von Tusikov präsentierte Analyse einer neuen Form des Regierens an den Nadelöhren des Internethandels zwecks Ausschaltung von Produktfälschungen setzt eine Diskussion fort, die in den 1990er-Jahren einerseits im Kontext der Science and Technology Studies etwa durch Bruno Latours Überlegungen zum Berliner Schlüssel lanciert wurde,[4] andererseits innerhalb der Rechtswissenschaft insbesondere durch Lawrence Lessigs berühmt gewordenes Diktum vom technischen Code als neuem Recht.[5] Rechtstheoretische Fragen werden in Tusikovs empirisch eindrucksvoller Studie zwar angedeutet, jedoch nicht vertieft, was rechtsphilosophisch und rechtssoziologisch interessierte Leser_innen enttäuschen wird. Doch ließen sich solche Bezüge leicht herstellen. Gunther Teubner hat bereits in den 1990er-Jahren mit den Werkzeugen der Systemtheorie die gesellschaftlichen Implikationen einer Renaissance der Lex Mercatoria im Kontext der Globalisierung umrissen.[6] Der in Frankfurt am Main lehrende Jurist sprach von einem globalen Recht, das nicht mehr an ein Territorium gebunden sei, auch nicht mehr primär in legislativen Prozessen entwickelt werde, sondern selbstorganisiert entstehe. Es sei deshalb für Druck und Einflussnahmen organisierter und ökonomisch potenter Interessen ausgesprochen anfällig. Deshalb sei es korrupt, im wortwörtlichen Sinne „verdorben“. Teubner wies darauf hin, dass der Lex Mercatoria die politische Legitimität fehle, was diese Rechtspraxis notorisch angreifbar mache. Tusikovs Befunde bezüglich der Einflussnahme US-amerikanischer Behörden im Zusammenhang mit dem Schutz des Geistigen Eigentums bestätigen Teubners Einschätzungen eindrücklich. Teubner forderte schon damals eine Repolitisierung solcher interner Regulierungen. Auch Natasha Tusikovs Plädoyer für eine globale Internet-Charta zum Schluss des Buches muss als ein Aufruf verstanden werden, den Staat wieder ins Spiel zu bringen, und zwar nicht den Staat der organisierten Partikularinteressen, wie er etwa durch die Allianz zwischen dem Staat und den Makrovermittlern in Erscheinung tritt, sondern den Staat als Hüter der Res Publica.

Ob sich die politischen Kräfte der Zivilgesellschaft entsprechend werden organisieren können, wird sich in Zukunft weisen müssen. Doch werden derartige Initiativen wahrscheinlich nicht darum herumkommen, sich unter Zuhilfenahme avancierter Technik zu verbünden, um jener flexiblen und rechnergestützten Kontrollgesellschaft entgegenzutreten, die Gilles Deleuze bereits zu Beginn der 1990er-Jahre in seinem Postskriptum zur Kontrollgesellschaft in aller Deutlichkeit auf den Punkt gebracht hat.[7] Es wird weiterhin darüber nachzudenken sein, wie einem Regime, das auf elektronischen Karten mit Passwörtern basiert, die den Zugang zu Geldmitteln selbstverständlich nicht nur ermöglichen, sondern auch blockieren können, Paroli geboten werden kann. Dass an den Chokepoints auch neue Protestformen entstehen können, zeigt der Web Blackout Protest gegen SOPA und PIPA im Jahr 2012, als Portale wie Wikipedia als Zeichen des Protests ihren Inhalt für kurze Zeit vom Netz nahmen und stattdessen einen Hinweis auf das geplante Gesetz publizierten.

  1. Susan Leigh Star, The Ethnography of Infrastructure, in: American Behavioral Scientist 43 (1999), S. 377–391, hier S. 377.
  2. Vgl. Jessica Litman, Copyright Legislation and Technological Change, in: Oregon Law Review 68 (1989), 2, S. 275–361; Peter Baldwin, The Copyright Wars. Three Centuries of Trans-Atlantic Battle, Princeton, NJ/Oxford 2014; Monika Dommann, Autoren und Apparate. Die Geschichte des Copyrights im Medienwandel, Frankfurt am Main 2014.
  3. Mit den kultur- und sozialitätskonstitutiven Funktionen mimetischer Praktiken beschäftigt sich derzeit die DFG/SNF Forschergruppe „Medien und Mimesis“. Vgl. insbesondere auch das Promotionsprojekt von Wendelin Brühwiler zur Geschichte der Auseinandersetzungen um Markenschutzregelungen an der Schwelle zwischen bürokratischen und marktförmigen Interaktionen.
  4. Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, übers. v. Gustav Roßler, Berlin 1996 (Orig.: La clef de Berlin et autres leçons d'un amateur de sciences, Paris 1993).
  5. Lawrence Lessig, Code and Other Laws of Cyberspace, New York 1999.
  6. Gunther Teubner, ,Global Bukowina’. Legal Pluralism in the World Society, in: ders. (Hg.), Global Law Without a State, Aldershot 1997, S. 3–28.
  7. Gilles Deleuze, Postscript on the Societies of Control, in: October 59 (1992), S. 3–7 [Orig.: Post-scriptum sur les sociétés de controle, in: L’autre journal 1 (Mai 1990)].

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Recht Globalisierung / Weltgesellschaft Digitalisierung

Monika Dommann

Monika Dommann ist Professorin für Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar der Universität Zürich und zurzeit Fellow am Collegium Helveticum der ETH und der UZH. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte materieller Kulturen, die Geschichte immaterieller Güter, die Geschichte der Logistik und der Rechenzentren sowie die Geschichte und Theorie von Bildern und Sound.

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