Frederike Brandt | Rezension | 17.04.2024
Frauenfeindliche Ressentiments
Rezension zu „Gegen Frauenhass“ von Christina Clemm
Alle zwei bis drei Tage wird eine Frau in Deutschland von ihrem (Ex-)Partner getötet. Femizide bezeichnen das Phänomen, dass Frauen aus frauenverachtenden Motiven getötet werden, letztendlich weil sie Frauen sind.[1] Cristina Clemm beschreibt in ihrer Monografie Gegen Frauenhass die komplexen Mechanismen, aufgrund derer Hass gegen Frauen alarmierend weitverbreitet ist und dennoch geduldet, verschleiert und gefördert wird. Sie fragt sich, warum Gesellschaft, Politik und Justiz dabei versagen, die Sicherheit von Frauen zu gewährleisten. Die Autorin gibt Einblicke in soziale, rechtliche und politische Ebenen, die geschlechterspezifische Gewalt betreffen, beschreibt eingehend, wie diese miteinander verbunden sind und aufeinander wirken. Ihre Perspektive ist einerseits eine rechtswissenschaftliche und soziologische, andererseits stark von ihrer beruflichen Tätigkeit als Anwältin und Aktivistin geprägt.
Die Themenfelder, die Clemm fokussiert, decken ein breites Spektrum des allgegenwärtigen und alltäglichen Frauenhasses ab: von Gewalt gegen Frauen im sozialen Nahraum vor allem durch (Ex-)Partner, im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz, schlicht an allen Orten, an denen sich Frauen und nichtbinäre Personen aufhalten, bis hin zu Gewalt gegen Frauen in Kriegsgebieten, während Fluchterfahrungen, in medizinischen Behandlungen, während der Geburt ihrer Kinder, durch Polizeimitarbeiter und im Menschenhandel. Die Autorin erklärt dabei verschiedene Gewaltformen – wie physische Gewalt, psychische Gewalt, sexualisierte Gewalt, digitale Gewalt und ökonomische Gewalt – in ihrer Wirkweise.[2] Dabei verwendet Clemm einen integrativen Frauenbegriff, das heißt, sie bezieht trans*Frauen und nichtbinäre Personen mit ein und berücksichtigt deren spezifische Erfahrungen. Zwar ist das Geschlechterverhältnis die Strukturkategorie, mit der sie sich vordergründig befasst, dennoch beschreibt sie auch, wie unterschiedliche Diskriminierungsformen – etwa Klassismus, Rassismus, Homophobie und Ableismus – sich gegenseitig verstärken und beeinflussen.
Ein sich in konkreten Taten äußernder Frauenhass gedeihe auf dem Boden eines alltäglichen Sexismus, der Frauen unter anderem einen bestimmten, oft niedrigeren Platz in der Gesellschaft mit klar definiertem Rollenbild zuweise.
Frauenhass beschreibt „nicht eine Emotion, die einen plötzlich und unerwartet überkommt, sondern eine emotionale Gewohnheit oder Geisteshaltung, die auf frauenfeindlichen Ressentiments gründet. Die Ressentiments sind systemisch und systematisch, der Hass ist strukturell, zielgerichtet und dem patriarchalen System nicht nur innewohnend, sondern für dieses stabilisierend.“ (S. 13) Ein sich in konkreten Taten äußernder Frauenhass gedeihe auf dem Boden eines alltäglichen Sexismus, der Frauen unter anderem einen bestimmten, oft niedrigeren Platz in der Gesellschaft mit klar definiertem Rollenbild zuweise. In der Folge erfahren, so Clemm, Frauen aller sozialer Schichten und Milieus[3] sexualisierte und andere Formen von Gewalt, ohne spezifische Ursachen und von vor allem männlichen Täter.[4] Wenn Frauen einer oder mehreren marginalisierten Gruppen angehören, beruflich sehr erfolgreich sind oder traditionellen Rollenerwartungen nicht entsprechen, können sie zusätzlich gefährdet sein. Die vermeintlichen Gründe, die als Auslöser für Gewalt gegen Frauen von Tätern angeführt und im gesellschaftlichen Diskurs reproduziert werden, sind sehr unterschiedlich.
Parallel dazu gibt es das Tragödiennarrativ von Tätern, die angeblich völlig verzweifelt, aufgebracht und überraschend ihre (Ex-)Partner*innen töten. Es werde meist bis vor Gericht aufrechterhalten, selbst wenn ein Mann mehrfach zuvor mit der Tötung gedroht habe und/oder bereits gewalttätig wurde. Von frauenverachtenden Taten sei meist nur dann die Rede, wenn der/die Täter mittels rassistischer Interpretationen als Fremde konstruiert werden (S. 58). Die Justiz betrachte und behandele Tötungsdelikte an Frauen als Einzelfälle und klammere damit die Systematik dahinter wider besseren Wissens aus. Eine nur teilweise verschleierte sexistische Grundhaltung, die sich durch die Gesellschaft und ihre medialen Diskurse, die Politik in ihrer Gesetzgebung, die Justiz in ihren Rechtsverfahren sowie die polizeilichen Ermittlungen zieht, sorgt dafür, dass Frauenhass weder verhindert noch aufgeklärt wird. Die Autorin fragt zu Recht, warum Gewalt gegen Frauen, der die Weltgesundheitsorganisation (WHO) pandemisches Ausmaß attestiert, nicht als Thema der inneren Sicherheit betrachtet wird (S. 91 f.).
Christina Clemm referiert den interdisziplinären wissenschaftlichen Forschungsstand und bezieht diesen fortwährend auf ihre berufliche Tätigkeit als Anwältin, aus der sie exemplarisch und anonymisiert von unterschiedlichen Fällen sowie ihren Mandant*innen berichtet. Sie schildert, auf welche vielfältigen Hindernisse Frauen oder die Angehörigen von getöteten Frauen stoßen, sobald sie die Gewalttaten strafrechtlich anzeigen. Jede dritte in Deutschland lebende Frau habe seit ihrem 16. Lebensjahr sexualisierte Gewalt oder körperliche Gewalt erfahren;[5] von tausend Taten kämen circa hundert zur Anzeige, bei lediglich acht würden die Täter verurteilt (S. 168 f.). Staatliche Behörden wie Polizei und Justiz seien diesen Fällen nicht gewachsen, in der bedrückenden Mehrzahl von Fällen (wenn sie denn zur Strafanzeige gebracht werden) zeige sich ein systematisches Systemversagen. Nicht selten schädigten die staatlichen Verfahren, die die Gewalttaten aufklären sollen, die Betroffenen zusätzlich. In besonderem Maße träfe dies zu, wenn Vertreter*innen staatlicher Behörden, wie zum Beispiel Polizisten, die Gewalt verübten.[6]
Zu oft, so Clemm weiter, würden Betroffene nicht ernst genommen, sondern als Personen diskreditiert. Wie es auch Sara Ahmed beschreibt, werden Personen, die sexualisierte Gewalt problematisieren, selbst zum Problem: „Wenn du ein Problem aufdeckst, verursachst Du es auch.“[7] Auch wenn sich die Ausführungen überwiegend auf das deutsche Rechtssystem beziehen, zieht die Autorin Vergleiche zu anderen Staaten. „In Spanien werden Männer, die ihre (Ex-)Partnerinnen mit dem Tode bedrohen, mit Fußfesseln versehen, die der Betroffenen anzeigen, wenn sie sich ihr auf eine gewisse Distanz nähern. In Deutschland wird den Frauen geraten, die Stadt zu verlassen und darauf zu hoffen, dass er sie nicht findet.“ (S. 51) Selbst die absurde Handlungsanweisung, die Stadt zu verlassen, können die Betroffenen bei überlaufenden Frauenhäusern und wegen oftmals gemeinsamer Kinder schlecht umsetzen. Denn es gilt: „Nur weil ein Mann die Mutter seiner Kinder schlägt, ist er noch lange kein schlechter Vater.“ (S. 110) So können sich Frauen meist nicht vor den gewalttätigen (Ex-)Partnern schützen.
Die Autorin wendet sich mitunter hoffnungslos fragend an die Leser*innen, wie es zu dieser frauenfeindlichen Lage in allen gesellschaftlichen Bereichen kommen konnte und warum sie sich insgesamt so hartnäckig hält. Clemm formuliert aber auch Maßnahmen, deren Umsetzung sie für notwendig hält, um Frauen künftig ein sicheres Leben zu ermöglichen: flächendeckend spezialisierte und finanzierte Beratungsstellen, eine flächendeckende Hochrisikoeinschätzung und Hochsicherheitsmaßnahmen für besonders gefährdete Frauen, Pflichtfortbildung für Richter*innen, Ermittlungsbeamt*innen und Rechtsanwält*innen, zügige und diskriminierungsfreie Ermittlungsverfahren, das Recht von Betroffenen, sich zu keinem Zeitpunkt mit den Tätern in einem Raum befinden zu müssen – um nur einige davon zu nennen (u.a. S. 232 f.).
Die Forschungen zu Gewalt gegen Frauen beziehungsweise Gewalt im Geschlechterverhältnis und die der sogenannten Gewaltsoziologie stellen leider selten einen Bezug zueinander her.
Gegen Frauenhass bearbeitet intersektional und interdisziplinär viele Facetten des alltäglichen Frauenhasses, mit eindrücklichen Beschreibungen aus Clemms anwaltlicher Tätigkeit, die einen tiefen und hochaktuellen Einblick in das deutsche Rechtssystem gewähren. Aus gewaltsoziologischer Perspektive wären eine theoretische Diskussion und Einbettung des spezifischen Gewaltbegriffs und seiner Grenzen wünschenswert. Die Forschungen zu Gewalt gegen Frauen beziehungsweise Gewalt im Geschlechterverhältnis und die der sogenannten Gewaltsoziologie stellen leider selten einen Bezug zueinander her. Die Auseinandersetzung mit und die Bekämpfung von Frauenhass, für die Clemm einen Beitrag leistet, sollten wir, so ihr Plädoyer, gesamtgesellschaftlich und aktiv vorantreiben. Frauenhass sei weder ein Frauen- noch ein Nischenthema. In einer Gesellschaft, in der fast alle Täter von Gewalt gegen Frauen männlich seien, müsse ihre Bekämpfung auch ein explizites Männerthema werden. Statt Mädchen beizubringen, sich zu beschützen, sollten wir laut Clemm Täterpräventionsmaßnahmen durchführen. Denn potenziell könne nicht nur jedes Kind Frauenhass erfahren, es könne auch jedes Kind zum Täter heranwachsen. Es sind keine tragischen Einzelfälle, sondern es ist ein gravierendes kollektives Problem.
Das Buch bietet mit seinem leser*innenfreundlichen Schreibstil auch fachfremden Personen einen guten Einstieg. Konkrete Beschreibungen von exemplarischen Fällen machen theoretische und abstrakte Konzepte besonders gut nachvollziehbar. Auch Personen, die bereits zum Thema arbeiten, bekommen einen interdisziplinären Einblick, beispielsweise als Soziologin in die rechtliche Auslegung konkreter Fälle. Als Leser*in wünscht man sich an einigen Stellen weitere Ergänzungen hinsichtlich der so verzwickten frauenverachtenden Aspekte des Alltags. Diese fehlen schlichtweg deswegen, weil es diesbezüglich riesige Wissenslücken gibt, auf die auch Christina Clemm verweist.[8] Die Wissenslücken sind kein Zufall, sondern das Ergebnis einer strukturellen Bagatellisierung der Gewalt gegen sowie der Hasserfahrungen von Frauen und nichtbinären Personen. Clemms Forderung ist eindeutig: Es muss sich noch vieles ändern, damit wir Frauen sicher und frei sind.
Fußnoten
- Juristisch sei dieser Begriff noch nicht etabliert (S. 41). Die staatlichen juristischen Strukturen sehen in ihnen meist tragische Einzelfälle.
- Es ist an dieser Stelle aus Platzgründen nicht möglich, auf alle Gewaltformen im Einzelnen einzugehen.
- Es sind durchaus auch Männer von Gewalt im sozialen Nahraum und sexualisierter Gewalt betroffen. Nicht selten wird diese Gewalt ebenfalls von Männern ausgeführt. Auch hier Bedarf es Aufklärung, weiterer Forschung und besserer Hilfsangebote.
- Siehe dazu auch Susan Brownmiller, Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft, übers. von Ivonne Carroux, Frankfurt am Main 1980.
- Ursula Müller / Monika Schröttle, Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland im Auftrag vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2004.
- So sind unter anderem sexuelle Übergriffe durch Polizisten bekannt. Polizisten, die Täter häuslicher Gewalt sind, werden nicht vom Dienst suspendiert, obwohl sie als Berufswaffenträger ein erhöhtes Risiko darstellen (S. 197).
- „Wie ich bereits erwähnt habe, machst du etwas konkreter, wenn du es als sexistisch oder rassistisch benennst, sodass es anderen einfacher erklärt werden kann. Doch für diejenigen, die kein Gespür dafür haben, wenn du über Rassismus oder Sexismus sprichst, ist das Zur-Sprache-Bringen ein Zur-Existenz-Bringen. Wenn Du ein Problem aufdeckst, verursachst du es auch.“ Sara Ahmed, Feministisch leben! Manifest für Spaßverderberinnen, übers. von Emilia Gagalski, Münster 2017, S. 56 f.; dies., Complaint!, Durham 2021.
- Siehe hierzu die Ausführungen über Forschungsmethoden zu sexualisierter Gewalt und Gewalt im sozialen Nahraum, die als ergänzende Lektüre dienen können: Cornelia Helfferich / Barbara Kavemann / Heinz Kindler (Hg.), Forschungsmanual Gewalt. Grundlagen der empirischen Erhebung von Gewalt in Paarbeziehungen und sexualisierter Gewalt, Wiesbaden 2016.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Affekte / Emotionen Gender Gewalt Politik Recht
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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