Tine Haubner | Essay |

Gut und günstig?

Freiwilliges Engagement an der Grenze zum Niedriglohnsektor

 

„Zeige, beweise, wie ernst es dir mit deinem sozialen Engagement ist,

gerade jetzt, wo es allein auf dich ankommt!

Begreife die fiskalische Not der öffentlichen Hände als eine Tugendprüfung,

und entdecke, was wirkliches Interesse war und was nur Schielen aufs Entgelt!“[1]

Engagement und Schattenwirtschaft?

Freiwilliges Engagement[2] mit der unter Kriminalitätsverdacht stehenden Schattenökonomie in Zusammenhang zu bringen, scheint beinahe ketzerisch – gibt es doch scheinbar so gar nichts daran auszusetzen, wenn sich Menschen aus freien Stücken für das Wohl anderer einsetzen. Die jüngst gegründete Gewerkschaft für Ehrenamt und freiwillige Arbeit (GEFA) vergleicht die gesellschaftliche Haltung gegenüber freiwilligem Engagement in ihrem Imagefilm deshalb mit einem frisch gebackenen Apfelkuchen: „Alle finden’s gut.“

Dennoch gibt es zunächst ganz formale Gründe dafür, dass freiwilliges Engagement als Teil der Schattenwirtschaft gelten kann. „Schattenwirtschaft umfaßt alle wirtschaftlichen Tätigkeiten, die nicht von der amtlichen Statistik erfaßt und damit den Regelungs- und Revenueansprüchen des Staates entzogen sind.“[3] Obwohl das Engagement seit Ende der 1990er-Jahre im Freiwilligensurvey statistisch erfasst wird, gehört es zu einem Bereich von Tätigkeiten, die mit der Verrichtung überwiegend informeller, unbezahlter Arbeit zur gesellschaftlichen Wertschöpfung und Wohlfahrtssteigerung beitragen und sich gleichzeitig dem Zugriff des Staates entziehen. Aus ebenjenen Gründen ist „Shadow State“ neben „Non-Profit“ (oder auch „Third Sector“ genannt) in der angelsächsischen Sozialpolitikforschung schon seit geraumer Zeit eine gebräuchliche Bezeichnung für Freiwilligenarbeit.[4] Auch in der deutschsprachigen Forschung wird das Engagement mitunter in kritischer Absicht mit Schwarzarbeit und informeller Ökonomie in Zusammenhang gebracht.[5] Mittlerweile knirscht es hierzulande beim vermeintlich harmlosen ‚everybody‘s darling‘ der Schattenökonomie im Getriebe: Dass sich Freiwillige seit dem „langen Sommer der Migration“ gegen die staatliche Indienstnahme ihres humanitären Engagements gewerkschaftlich organisieren, zeigt, dass das freiwillige Engagement in seiner derzeitigen Form problematisch geworden ist. Das hängt sowohl mit dem Strukturwandel des Wohlfahrtsstaates als auch mit einer Krise der sozialen Reproduktion zusammen.

Totgesagte leben länger – der Strukturwandel des Engagements

„Das Ehrenamt hat derzeit Konjunktur in Deutschland“, heißt es in dem 2005 erschienenen Band Die freiwillige Gesellschaft. So weit so gut. Wenige Zeilen später wird besagte Konjunktur allerdings mit dem Rückbau des Sozialstaats in Verbindung gebracht: „Der Staat in Deutschland ist ohnehin (wie anderswo auch) an den Leistungsgrenzen seiner Allmachtsansprüche angelangt und wird derzeit […] auf seine Kernfunktionen zurückgeführt.“[6] Während manche diesem Korrespondenzverhältnis von sozialstaatlichem Umbau und wiedererwachtem Gemeinsinn durchaus etwas abgewinnen können,[7] weisen andere auf die Schattenseiten dieser ‚Staffelstabübergabe‘ hin: „Das Gespinst der Engagementpolitik wächst proportional zur Größe der Löcher im Netz der sozialen Sicherung.“[8]

Doch das war nicht immer so. In den 1980er-Jahren galt das Ehrenamt noch als potenzielles Auslaufmodell. Die sinkende Attraktivität oder gar „Krise des Ehrenamts“ wird auf verkrustete Strukturen der Verbandsarbeit, institutionelle Vereinnahmungseffekte und veraltete Selbstaufopferungsideale zurückgeführt. Ein Strukturwandel des traditionellen Ehrenamts wird nicht nur politisch gefordert – er wird in der folgenden Dekade auch faktisch konstatiert. Sowohl die Nachfrage nach unentgeltlicher Daseinsfürsorge als auch das Angebot an Freiwilligen, so eine markante These, hätten sich verändert.[9] Das Ehrenamt verschiebe sich demnach von Großorganisationen und etablierten Trägern hin zu Organisationen kleineren Formats im Bereich zunehmend individualisierter und semiprofessionalisierter Selbst- und Fremdhilfe. Auch die Motive der Engagierten wandeln sich von langjähriger Vereinsmitgliedschaft zu kurzfristigen und (erwerbs-)biografisch passenden Einsätzen.

Dem Strukturwandel entspricht auf der Nachfrageseite die seit dem Ende der 1990er-Jahre steigende gesellschaftspolitische Bedeutung des „neuen Ehrenamts“ beziehungsweise des freiwilligen Engagements. Sie fällt nicht zufällig mit einem ganzen Bündel anderer gesellschaftlicher Wandlungsprozesse zusammen, die als Trias der Krise von Arbeit, Wohlfahrtsstaat und Demokratie[10] oder – unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Reproduktionserfordernisse – unter dem Begriff „Reproduktionskrise“[11] zusammengefasst werden. Sockelarbeitslosigkeit, Rezession und überlastete kommunale Haushalte setzen in Folge der Wiedervereinigung den deutschen Wohlfahrtsstaat unter Druck. Verschiedene Prozesse der Deindustrialisierung und die durch den technologischen Wandel vorangetriebene Substitution geringqualifizierter Arbeit mehren dabei unermüdlich die Reihen jener „Überflüssigen“[12], die nicht vom expandierenden Dienstleistungssektor absorbiert werden. Zudem wird auch die Lage der Familie als – für das konservative deutsche Wohlfahrtsregime zentrale – Instanz informeller Fürsorgeerbringung zunehmend prekär. Steigende weibliche Erwerbsbeteiligung, Flexibilitäts- und Mobilitätserfordernisse in der Erwerbsarbeit, der demografische Wandel sowie der sich aktiv zurücknehmende Sozialstaat erzeugen Versorgungslücken bei der Selbst- und Fürsorge[13], etwa wenn gestresste Eltern um unzureichende Kita-Plätze konkurrieren oder die Pflegebereitschaft Angehöriger durch hohe berufliche Arbeitsbelastung und mangelnde sozialstaatliche Absicherung überstrapaziert wird. Daher richtet sich das Interesse von Seiten des Staates und der Wissenschaft vermehrt auf den nunmehr neu akzentuierten und beforschten „Dritten Sektor“, der jenseits staatlicher Skylla und wirtschaftlicher Charybdis verstärkt als „Tausendsassa“ sozialer Integration beschworen wird.[14] Das freiwillige Engagement gilt dabei vielen als sozialpolitischer Joker des ‚Nach-Wende-Schocks‘ und steht in dem Ruf, die schrumpfende Aufnahmekapazität des Arbeitsmarktes zu kompensieren, überforderte Kommunen zu entlasten, gemeinnützige Betätigung für freigesetzte Industriearbeitskräfte und nicht zuletzt demokratische Partizipationschancen für Abgehängte zu bieten. Tatsächlich tut sich in dieser Hinsicht einiges: Bereits in den 1990er-Jahren ist die sowohl bezahlte als auch unbezahlte Arbeit in der „Schattenökonomie“ des Non-Profit-Sektors hochdynamisch. Schon 1990 finden sich in diesem Bereich 1,3 Millionen bezahlte Arbeitsplätze allein in den alten Bundesländern, was in etwa einer Million Vollzeitarbeitsplätzen entspricht. Fünf Jahre später erreicht die Beschäftigung mit 1,4 Millionen Vollzeitäquivalenten einen Anteil von fast 5 Prozent der Gesamtbeschäftigung: Jeder fünfte Erwachsene ist zu dieser Zeit zudem unentgeltlich in Nonprofit-Organisationen tätig.[15] Auch der unbezahlten Arbeit Freiwilliger kommt dabei ökonomische Bedeutung zu: 2013 erzeugen Freiwillige einen geschätzten Arbeitswert von 35 Milliarden Euro.[16] Eine gesteigerte Nachfrage und sich wandelnde Ansprüche an das Engagement machen schließlich eine neue Anreizstruktur erforderlich. Engagement, so heißt es,[17] sei nicht länger unbezahlt zu haben. Monetarisierung und zunehmende Semiprofessionalisierung sind die Folgen.

Die verlorene Unschuld des freiwilligen Engagements

Während es zu Beginn der 1990er-Jahre noch scheint, „als wäre das soziale Ehrenamt in einem langsamen, aber unaufhaltsamen Prozeß des Aussterbens begriffen“,[18] übernimmt der „Enabling State“ gemäß der Logik „sozialverpflichteter Selbstführung“ wenig später in zunehmendem Umfang die Regie der „freiwilligen Gesellschaft“. Die rot-grüne Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder initiiert großflächig Modellprojekte zur Stärkung des Engagements. Forschungsberichte werden veröffentlicht, die – wie etwa der erste Freiwilligensurvey oder der erste Engagementbericht – vorhandenes „Sozialkapital“ identifizieren und sich existierender Potenziale sozialen Engagements versichern.[19] 1999 wird die Enquete-Kommission Zukunft des Ehrenamtlichen Engagements eingesetzt, Bundeskanzler Schröder setzt die „zivile Bürgergesellschaft“ auf die bundespolitische Agenda und der Soziologe Ulrich Beck wirbt Ende der 1990er-Jahre in seiner Funktion als Mitglied der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen für „Bürgerarbeit“ und den neuen Sozialtypus des „Gemeinwohlunternehmers“.[20] Die Europäische Union springt eine Dekade später auf diesen Trend auf: Der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament beschließen, 2011 zum „Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit“ zu machen. Im selben Jahr wird unter der Regierung des Kabinetts Merkel der Bundesfreiwilligendienst (BFD) in Reaktion auf die Aussetzung der Wehrpflicht und des Zivildienstes gegründet und 2013 schließlich das „Ehrenamtsstärkungsgesetz“ verabschiedet.

Der Nebeneffekt, dass die Grenzen zwischen dem politisch heftig umworbenen ‚Stützpfeiler‘ gesellschaftlichen Zusammenhalts und dem expandierenden Niedriglohnsektor dabei zunehmend durchlässig werden, wird bereits in den 1990er-Jahren beobachtet und zu diesem Zeitpunkt zumindest in Teilen von Arbeitsforschung und Sozialpädagogik kritisch kommentiert, etwa mit der Feststellung, dass „in Zeiten knapper öffentlicher Ressourcen die sogenannten ‚freiwilligen Helfer‘ von den Trägern […] auch als Ersatz für fehlende bezahlte Kräfte […] eingesetzt“ werden.[21] Nach Ansicht von Beobachtern zeichnet sich das neue Engagement durch zunehmende Monetarisierung, Diffusion in den zweiten Arbeitsmarkt und Subprofessionalisierung aus. Darüber hinaus diene es verstärkt als Instrument zur Kostensenkung und Kompensation von Arbeitslosigkeit.[22] Zwar gilt das Engagement nach wie vor als mittelschichtsdominiert und wird überwiegend von Erwerbstätigen mit höheren Bildungsabschlüssen und durchschnittlichen Einkommensniveaus übernommen. Es mehren sich jedoch auch Hinweise darauf, dass die zunehmende Anzahl von freiwillig engagierten Erwerbslosen und auf Basis eines Mini-Jobs beschäftigten Senior*innen im Zusammenhang mit Altersarmut und der Monetarisierung des Engagements steht. Dieser Zusammenhang wird von politischer Seite sogar aktiv befördert, denn seit 2002 dürfen Arbeitslose wöchentlich bis zu 15 Stunden einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen, ohne mit Leistungskürzungen rechnen zu müssen. Vor allem in strukturschwachen Regionen wird der Bundesfreiwilligendienst (BFD) vermehrt von Erwerbslosen als Ersatz für Erwerbsarbeit in Anspruch genommen. Und das nicht zuletzt, weil 175 Euro des gezahlten „Taschengeldes“ anrechnungsfrei zur Aufstockung des Arbeitslosengeldes II genutzt werden dürfen. Außerdem müssen Erwerbslose während ihres freiwilligen Einsatzes nicht für die Arbeitsplatzvermittlung zur Verfügung stehen. Gerade die „Altersöffnung“ des BFD, die erstmals auch über 27-Jährigen die Übernahme eines Freiwilligendienstes ermöglicht, kann dabei als „ambivalent“ eingestuft werden, weil sie in strukturschwachen Regionen Altersarmut mit dem Ausbau des Niedriglohnsektors zu verzahnen droht.[23]

Sozialkritische Einschätzungen, die die Expansion des Niedriglohnsektors auch mit der „verlorenen Unschuld“ des Engagements[24] in Zusammenhang bringen, ebben allerdings bis auf wenige Ausnahmen nach der Jahrtausendwende zunehmend ab – obwohl die bereits diagnostizierten Risiken durch den demografischen Wandel und eine sich verschärfende Pflegekrise in den folgenden Jahrzehnten tendenziell zuzunehmen drohen.

Engagement als „neues Standbein im pflegerischen Versorgungsmix“

Unter dem Druck von Fachkräftemangel und steigendem Versorgungsbedarf erlebt das Engagement ab den 1990er-Jahren auch in der Altenpflege eine Renaissance und wird als „neues Standbein im pflegerischen Versorgungsmix“ beworben.[25] Dabei kommt eine für das soziale Ehrenamt typische Dynamik zum Tragen: Die ehemals professionellen Fachkräfte wurden von Laien verdrängt, die nun zu monetär entschädigten sogenannten „Demenzhelfern“ oder „Alltagsbegleitern“ werden. Bei diesem Vorgang kommen der Pflegeversicherung und dem elftem Sozialgesetzbuch insofern Schlüsselrollen zu, als sie, dem Credo „ambulant vor stationär“ verpflichtet, die gesetzliche und finanzielle Grundlage für das Engagement in der Pflege bereitstellen. Das Engagement in Demenz-Betreuungsgruppen oder Helferinnenkreisen zur stundenweisen Entlastung pflegender Angehöriger oder in der Tagesbetreuung wird hier, neben den üblichen Aufwandsentschädigungen und Übungsleiterpauschalen, insbesondere durch „niedrigschwellige Betreuungsleistungen“ abgegolten. Letztere bieten Pflegehaushalten die Möglichkeit, zweckgebundene Leistungen an Freiwillige zu zahlen, was das freiwillige Engagement mitunter in eine nebenberufliche Beschäftigung verwandelt. Die Stundensätze in Höhe von fünf bis zehn Euro werden dadurch nicht zuletzt für Personen interessant, die von geringen Rentenleistungen betroffen sind.[26] Geldzahlungen begleiten das Ehrenamt zwar bereits von Beginn an, der Anteil an Engagierten mit Vergütung steigt jedoch zwischenzeitlich von 12 Prozent im Jahr 1999 auf 16 Prozent im Jahr 2004. Die gesetzlich geforderte Arbeitsmarktneutralität monetarisierten Engagements im Feld der Pflege wird daher mittlerweile von Pflegeexperten angezweifelt.[27] Ein Beispiel: Für die Mehrheit der zweimalig befragten Freiwilligen (79 Prozent) eines Modellvorhabens von 2005 bis 2007 in Nordrhein-Westfalen, die länger als sechs Monate für Pflegebedürftige im Einsatz waren, stellte die stundenweise Vergütung in Höhe von 4 Euro ein signifikantes Motiv der Fortführung des Engagements dar.[28] Darüber hinaus sind gemeinnützige und privat-gewerbliche Anbieter von Pflegedienstleistungen gesetzlich gleichberechtigt, sodass auch im Bereich des freiwilligen Engagements mitunter betriebswirtschaftliche Rationalitätserwägungen angestellt werden. Der daraus resultierenden Konkurrenz zwischen freiwilligem Engagement und ambulanten Pflegediensten wird auf diese Weise politisch erst der Weg geebnet, obgleich sie dem traditionellen Selbstverständnis des Engagements gründlich widerspricht.

Neue Profis und hilflose Helferinnen

Neben der Monetarisierung ist auch die Semiprofessionalisierung des pflegerischen Engagements Bestandteil einer breit gefächerten Anreizpalette. Freiwillige werden in „praxisorientierten Studienprogrammen“ an Universitäten und Hochschulen vorbereitet oder in mehrwöchigen Schulungen zu zertifizierten „Alltags-„ oder „Pflegebegleitern“ ausgebildet und schließlich im Rahmen von „Stellenbeschreibungen freiwilliger Mitarbeiterinnen“ beschäftigt. Dieser Professionalisierungstrend gilt zwar allgemein für das „neue“ Engagement, wird aber im Bereich der Pflege durch die hier geltenden pflegerischen Handlungsanforderungen (etwa im Umgang mit Demenzkranken) begründet und staatlich vorangetrieben. Die Förderung von niedrigschwelligen Betreuungsleistungen ist zudem per Gesetz an die Vorlage eines Konzepts zur Qualitätssicherung gekoppelt: Wer sich als Träger, Verein oder Initiative fördern lassen möchte, muss Schulungen, Crashkurse oder Supervisionsangebote bereitstellen.

Eine solche über Versicherungsleistungen subventionierte Quasi-Professionalisierung des freiwilligen Engagements dient auch als Legitimationsgrundlage für den Einsatz von Laien in pflegerischen Arbeitskontexten. Der so ermöglichte gemeinsame Einsatz von Freiwilligen und ambulanten Fachkräften in Pflegehaushalten trägt jedoch maßgeblich dazu bei, die ohnehin beschwerlichen Professionalisierungsbemühungen in der Pflege zu konterkarieren. Durch den hohen Anteil an Laien wird die für „vollständige Professionen“ charakteristische Möglichkeit einer monopolisierten Leistungserbringung nämlich untergraben. Und obwohl pflegende Tätigkeiten generell in dem Ruf stehen, „einfache Dienstleistungsarbeiten“ zu sein – wenngleich sie aufgrund ihrer graduellen Rationalisierungsresistenz wohl schwerlich als „routine service works“ einzustufen sind –, kristallisieren sich durch die Schöpfung diverser Assistenz- oder Betreuungsprofile an ihren Rändern zunehmend hybride Beschäftigungsformen heraus. So wird schließlich das berufliche Negativimage der „Jederfrautätigkeit“ reproduziert. Andererseits nutzen ambulante Dienste mitunter den Einsatz Freiwilliger betrügerisch zu ihren Gunsten aus, indem etwa fremde, von Laien erbrachte Leistungen als professionelle Eigenleistungen abgerechnet werden.[29] Auf Seiten der Freiwilligen wiederum führt eine eigenwillige Dynamik aus Verantwortungsübernahme, Vertrauen, Anerkennung und moralischem Pflichtgefühl zu qualifikatorischen Grenzüberschreitungen, wenn beispielsweise engagierte Laien selbst Injektionen und Medikamente verabreichen. Dass aber eine dreitägige Schulung als Demenzhelferin eine dreijährige Ausbildung zur examinierten Fachpflegekraft nicht ersetzen kann, wird spätestens in medizinischen Notfallsituationen deutlich, in denen Freiwillige als hilflose Helfer*innen aufgeschmissen sind.

Community Kapitalismus[30]

Gegenwärtig scheint das freiwillige Engagement in der Bundesrepublik einem neuen Hoch entgegenzustreben: Dem zweiten Engagementbericht der Bundesregierung von 2016 zufolge hat sich die Anzahl aktiv Engagierter in beinahe allen Altersgruppen erhöht. Gegenwärtig engagieren sich laut Bundesfamilienministerium über 40 Prozent der Bevölkerung und damit 10 Prozent mehr als noch vor 15 Jahren. Was auch immer die treibenden Kräfte dieser Hilfsbereitschaft sein mögen: Dass sich die Zivilgesellschaft nicht nur in der Pflege, sondern auch im Kontext der Flüchtlingshilfe oder dem Aufbau kommunaler Infrastrukturen in abgehängten ländlichen Regionen in die Seile hängt, spielt dem Abbau sozialstaatlicher Daseinsfürsorge in die Hände. Nicht zufällig avancieren zivile Gemeinschaften auch in anderen Ländern zunehmend zu einer bestandsrelevanten Ressource kommunaler Daseinsvorsorge und gesellschaftlicher Konsolidierung in Krisenzeiten. Die „Big Society“, das moralische Leitideal des ehemaligen britischen Premierministers David Cameron, mag der Vergangenheit angehören. Jedoch realisiert sich das Vorhaben, staatliche Reproduktionskosten verstärkt an zivilgesellschaftliche Gemeinschaften zu delegieren, seither in Gestalt eines „social investment market“.[31] Während die privatwirtschaftliche Verwertung des „Sozialkapitals“ in den liberalen Wohlfahrtsstaaten vergleichsweise fortgeschritten zu sein scheint, verfolgt die „konservative“ „mixed economy of welfare“ der Bundesrepublik dagegen die Strategie einer (neu-)subsidiären Nutzung informeller Laienpflege – zum Beispiel durch Freiwillige. Doch wie kann man sich einer solchen auf Kosteneinsparung abzielenden Hybridisierung sozialer Daseinsfürsorge entgegenstellen, ohne freiwilliges Engagement schlicht einzustellen? Eine Möglichkeit bietet das „rebellische Engagement“[32]. Damit ist zwar sehr wohl die Aufforderung verbunden, mitzumachen und sich zu engagieren – schließlich geht es etwa im Bereich der Pflege oder in der Flüchtlingshilfe nicht bloß um zusätzliche Hilfe, sondern um unverzichtbare humanitäre Unterstützung.[33] Gleichzeitig verbindet sich mit dem Begriff aber der Anspruch, sich nicht allein mit der eigenen Hilfeleistung zufriedenzugeben, sondern den Staat an seine Verantwortung zu erinnern. Initiativen wie das Medibüro Berlin, das auf ehrenamtlicher Basis eine Gesundheitsversorgung für Geflüchtete anbietet, schließt durch seine Arbeit zwar staatliche Versorgungslücken, nutzt seine Tätigkeit aber gleichzeitig auch, um auf ebendiese Lücken politisierend und skandalisierend hinzuweisen. Unter dem Slogan „Es ist uns keine Ehre!“ hat etwa das Medinetz in Halle zu einem Aktionstag für ein rebellisches Engagement aufgerufen. Darin heißt es: „Wir sind im letzten Jahr oft gelobt worden, unsere Arbeit wurde ausgezeichnet und gefördert, aber unseren Zielen für die Gesellschaft sind wir nicht näher gekommen, im Gegenteil.“ Rebellisches Engagement steht so nicht primär für ein politisches Handlungsdilemma zwischen Hilfsbereitschaft und Lückenbüßerdasein, sondern vor allem für einen kritisch-reflektierten und eigensinnigen Umgang mit gesellschaftlichen Verantwortungszuweisungen.

  1. Wolfgang Engler, Bürger ohne Arbeit für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft, Berlin 2010, S. 246.
  2. In diesem Beitrag findet der Begriff des „freiwilligen Engagements“ Verwendung, der sich (zusammen mit dem des „bürgerschaftlichen Engagements“) seit den 1990er-Jahren etabliert hat als Bezeichnung für „freiwillig übernommene Arbeiten und Aufgaben, die unbezahlt oder gegen geringe Aufwandsentschädigung ausgeübt werden“ (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen, und Jugend (2016): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Zusammenfassung zentraler Ergebnisse des Vierten Freiwilligensurveys, S. 10). Es handelt sich ferner um Tätigkeiten, mit denen die Engagierten einen eigenen Nutzen verbinden und die sie zeitlich befristet sowie passend zu erwerbsbiografischen Lebensabschnitten in kleineren Projekten und Initiativen ausüben. Der Begriff des „Ehrenamts“ wird demgegenüber im Kontext des älteren Typus langjähriger, freiwillig-gemeinwohldienlicher und oftmals christlich motivierter Tätigkeit bei etablierten Trägern und Großorganisationen (wie Kirchen und Wohlfahrtsverbänden) mit sozialem Pflichtgefühl und altruistischer Einstellung verwendet (vgl. Ludgera Vogt, Das Kapital der Bürger. Theorie und Praxis zivilgesellschaftlichen Engagements, Frankfurt am Main 2005, S. 48 ff.).
  3. Hans-Dietrich Evers, Schattenwirtschaft, Subsistenzproduktion und informeller Sektor. Wirtschaftliches Handeln jenseits von Markt und Staat. In: Soziologie wirtschaftlichen Handelns. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 28/1987, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 353.
  4. „Shadow State“, „Non-Profit-“ oder „Third Sector“ sind angelsächsische Bezeichnungen unterschiedlicher Bedeutungsgehalte und -schwerpunktsetzungen, die allesamt für den „Voluntary Sector“ verwendet werden und insbesondere auf den informellen Charakter dieses Wirtschaftsbereiches verweisen. Daher dienen sie hier als Aufhänger, „catchwords“ sowie begriffliche Marker für den Fokus auf informelle Pflegearbeit (Martin Powell, The Mixed Economy of Welfare and the Social Division of Welfare, in: ders. (Hg.), Understanding the Mixed Economy of Welfare, Bristol 2007, S. 9.). Während „Shadow State“ primär den informellen Charakter dieses Sektors jenseits staatlicher Regulierung und Revenueansprüche kennzeichnet, verweist „Non-Profit“ vor allem auf den hohen Anteil gemeinnütziger Leistungsanbieter in diesem Bereich. „Third Sector“ (oder „Dritter Sektor“) schließlich wurde in den 1970er-Jahren, unter anderem inspiriert von Jeremy Rifkin und Anthony Giddens, als Sammelbegriff für einen sozioökonomischen Bereich zwischen Staat und Markt eingeführt (vgl. Jeremy Rifkin, Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, Frankfurt am Main / New York 1995, S. 180). In diesem Bereich sind staatlich oder parastaatlich kofinanzierte und regulierte Sozialdienstleistungen in freier Trägerschaft beheimatet (Adalbert Evers, Arbeit und Engagement bei sozialen Dienstleistungen – welches Leitbild?, in: WSI-Mitteilungen (2002), 9, S. 539–545.), die nicht gewinnorientiert arbeiten. Das für die Erforschung des Sektors vielzitierte internationale „Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project“ definiert den Bereich als formell strukturiert, organisatorisch vom Staat unabhängig, nicht gewinnorientiert, eigenständig verwaltet und als teilweise von freiwilligen Beiträgen getragen. Zwangsverbände, Kirchen und Glaubensgemeinschaften sind davon ausdrücklich ausgenommen. (vgl. Eckhard Priller / Annette Zimmer (Hg.), Der Dritte Sektor international. Mehr Markt – weniger Staat? Berlin 2001.).
  5. Markus Hilpert, Zwischen Zivilgesellschaft, Selbsthilfe und Schwarzarbeit, in: WSI-Mitteilungen 54 (2001), 3, S. 196.
  6. Peter Nitschke, Zivilgesellschaft und Ehrenamt in Deutschland: Eine Einleitung, in: ders. (Hg.), Die freiwillige Gesellschaft. Über das Ehrenamt in Deutschland, Frankfurt am Main 2005, S. 10.
  7. Uwe Jean Heuser / Gero von Randow, Freiwillige vor! Der Gemeinsinn wächst – trotz Geldfiebers und schwarzer Konten. Ehrlichkeit und Mitmenschlichkeit gehen nicht unter, in: Zeit online, 16.03.2000, http://www.zeit.de/2000/12/200012.tugend_.xml.
  8. Claudia Pinl, Freiwillig zu Diensten? Über die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit, Frankfurt am Main 2013, S. 72.
  9. Karin Beher / Reinhard Liebig / Thomas Rauschenbach, Strukturwandel des Ehrenamts. Gemeinwohlorientierung im Modernisierungsprozeß, Weinheim/München 2000.
  10. Sebastian Braun, Bürgerschaftliches Engagement – Konjunktur und Ambivalenz einer gesellschaftspolitischen Debatte, in: Leviathan 29 (2001), 1, S. 83–109.
  11. Kerstin Jürgens, Deutschland in der Reproduktionskrise, in: Leviathan 38 (2010), 4, S. 559–587.
  12. Vgl. dazu unter anderem Heinz Bude / Andreas Willisch (Hg.), Exklusion. Die Debatte über die „Überflüssigen“, Frankfurt am Main 2008.
  13. Cornelia Klinger, Selbst- und Lebenssorge als Gegenstand sozialphilosophischer Reflexionen auf die Moderne, in: Brigitte Aulenbacher et al. (Hg.), Sorge: Arbeit, Verhältnisse, Regime, Soziale Welt, Sonderband 20, Baden-Baden 2014, S. 21–39.
  14. Christian Stecker, Nonprofit-Sektor, Sozialkapital und Zivilgesellschaft – Konzepte, Funktionen und Wirkungen, in: Nitschke (Hg.), Die freiwillige Gesellschaft, S. 17.
  15. Vgl. Priller / Zimmer (Hg.), Der Dritte Sektor international.
  16. Siehe Pinl, Freiwillig zu Diensten?, S. 36.
  17. Sebastian Braun, Bürgerschaftliches Engagement – Konjunktur und Ambivalenz einer gesellschaftspolitischen Debatte, in: Leviathan 29 (2001), 1, S. 101.
  18. Thomas Rauschenbach / Siegfried Müller / Ulrich Otto, Vom öffentlichen und privaten Nutzen des sozialen Ehrenamtes, in: Siegfried Müller / Thomas Rauschenbach (Hg.): Das soziale Ehrenamt. Nützliche Arbeit zum Nulltarif, Weinheim/München 1992, S. 7.
  19. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen, und Jugend, Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009. Zivilgesellschaft, soziales Kapital und freiwilliges Engagement in Deutschland, 1999-2004-2009, München 2010. Sowie: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen, und Jugend, Erster Engagementbericht 2012. Für eine Kultur der Mitverantwortung, Berlin 2012.
  20. Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen, Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen. Teil 3: Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage, Bonn 1997, S. 158.
  21. Ursula Rabe-Kleberg, Wenn der Beruf zum Ehrenamt wird. Auf dem Weg zu neuartigen Arbeitsverhältnissen in sozialen Berufen?, in: Müller / Rauschenbach (Hg.), Das soziale Ehrenamt, S. 97.
  22. Ulrich Bendele, Soziale Hilfen zu Discountpreisen. Unbezahlte Ehren-Arbeit in der Grauzone des Arbeitsmarktes, in: Müller / Rauschenbach (Hg.), Das soziale Ehrenamt, S. 79 f.
  23. Gisela Jakob, Freiwilligendienste zwischen Staat und Zivilgesellschaft, in: betrifft: Bürgergesellschaft 40, Oktober 2013, hrsg. vom Arbeitskreis Bürgergesellschaft und Aktivierender Staat in der Friedrich-Ebert-Stiftung.
  24. Rauschenbach/Müller/Otto, Vom öffentlichen und privaten Nutzen des sozialen Ehrenamtes, S. 7 f.
  25. Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP), Freiwilliges Engagement im pflegerischen Versorgungsmix, in: ZQP-Themenreport 2013, S. 9.
  26. Tine Haubner, Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft. Laienpflege in Deutschland, Frankfurt am Main / New York 2017, S. 304.
  27. Thomas Klie / Philipp Stemmer, Freiwilligkeit im Spannungsfeld ökonomischer Kalküle. Analyse und Kategorisierungskonzept zur Monetarisierung freiwilligen Engagements, Teil 1 und 2, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 91 (2011), 2, S. 80–84.
  28. André Fringer et al., Das Ehrenamt bei der Unterstützung von Pflegebedürftigen und ihren Familien: Profil und Motive, in: Pflege: die wissenschaftliche Zeitschrift für Pflegeberufe 23 (2010), 3, S. 173–180.
  29. Haubner, Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft, S. 302.
  30. Der Begriff „Community-Kapitalismus“ entstammt der gemeinsamen Diskussion mit Silke van Dyk und Emma Dowling und dient als begriffliche Klammer unserer unterschiedlichen Forschungsarbeiten zu affektiver Arbeit und politischer Ökonomie (Emma Dowling, Valorised but not valued? Affective remuneration, social reproduction and feminist politics beyond the crisis, in: British Politics 11 (2016), S. 452–468), Wohlfahrtsstaatswandel und Engagement (Silke van Dyk, Post-Wage Politics and the Rise of Community Capitalism, in: Work, Employment and Society Vol. 32 (2018), 3, S. 528–545) und der sozialpolitischen Indienstnahme sorgender Gemeinschaften (Haubner, Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft, S. 450 f.).
  31. Emma Dowling / David Harvie, Harnessing the Social. State, Crisis and (Big) Society, in: Sociology 48 (2014), 5, S. 869–886.
  32. Silke van Dyk / Emma Dowling / Tine Haubner, Für ein rebellisches Engagement, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (2016), 2, S. 37–40.
  33. Silke van Dyk / Elène Misbach, Zur politischen Ökonomie des Helfens. Flüchtlingspolitik und Engagement im flexiblen Kapitalismus, in: Prokla 183 (2016), 2, S. 205–227.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher, Karsten Malowitz.

Kategorien: Geld / Finanzen

Tine Haubner

Dr. Tine Haubner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Politische Soziologie des Instituts für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Care-Forschung, soziale Ungleichheit und kritische Arbeitssoziologie sowie kritische Gesellschaftstheorien und qualitative Sozialforschung. Sie promovierte mit einer Arbeit zur sozialpolitischen Regulierung der gegenwärtigen Altenpflegekrise in Deutschland.

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