Janosch Schobin | Rezension |

Im Spiegellabyrinth der Gesellschaft

Rezension zu „Tertiarität. Studien zur Sozialontologie“ von Joachim Fischer

Joachim Fischer:
Tertiarität. Studien zur Sozialontologie
Deutschland
Weilerswist 2022: Velbrück Wissenschaft
324 S., 34,90 EUR
ISBN 9783958321588

Joachim Fischers „Tertiarität. Studien zur Sozialontologie“ ist ein bescheidenes Buch, dessen Hauptthese leise vorgetragen wird, das es aber nichtsdestotrotz in sich hat: Das lange Essay versucht zu zeigen, dass es nur einer kleinen Begriffskorrektur bedarf, um die meisten theoretischen Gegensätze der Soziologie aufzulösen. Entscheidend ist nämlich, so argumentiert Fischer, dass die Differenz zwischen Sozialtheorien des Anderen und Sozialtheorien des Dritten in der Soziologie korrekt austariert, gewichtet und beachtet wird: „Die hier versammelten sozialontologischen Studien sollen in ihrer Vorläufigkeit zeigen, dass die Figuration der Triade bzw. die ,dreifache Kontingenz‘ sich als Schlüssel zur Vermittlung zwischen ,Intersubjektivität‘ und ,Transsubjektivität‘, von Handlungs- und Strukturtheorien des Sozialen erweist – und ,Tertiarität‘ als ein Grundbegriff der Geistes-, der Sozial und Kulturwissenschaften fungieren könnte.“ (S. 58)

Ich hege manchen Zweifel an dieser These. Aber bevor ich meine Bedenken darlege, zunächst zum Argumentationsgang des Buches.

In einem ersten Schritt zeigt Fischer, dass sich Sozialtheorien des Dritten nicht auf Sozialtheorien des Anderen reduzieren lassen. Jede Sozialwissenschaft braucht, neben einer Psychologie und einer Anthropologie, eine Sozialtheorie, die ihr als Herzstück, Basis und implizite Grundlage dient (vgl. S. 140 ff.). Für den Sozialontologen Fischer ist klar, dass auf dieser Ebene gezeigt werden muss, dass eine Theorie des Dritten eine nicht abgeleitete Vorbedingung für jede Art von Soziologie darstellt. Sein Gewährsmann ist hier Simmel. Dessen Grundeinsicht, dass mit der Figur des Dritten formale Möglichkeiten des Sozialen entstehen, die sich nicht aus dyadischen Formen ableiten lassen, aber auch nicht mehr durch eine Figur des „Vierten“ überboten werden können, bildet eine Art axiomatisches Fundament des Buches. Vier Argumente stützen Fischer zufolge Simmels These von der „Irreduzibilität“ und der „Vollständigkeit“ des Dritten: Das sprachformale Argument, das Sozialisierungsargument, das Institutionalisierungsargument und das Polymorphie-Argument. Ich gebe die beiden aus meiner Sicht stärksten Argumente hier knapp wieder: Das sprachformale und das Polymorphieargument.

Ersteres basiert auf der Überlegung, dass das „System der Personalpronomen, […] in jeder Sprache als Kern bei der Zuordnung der Kommunikationsrollen (Humboldt 1963 [1830-1835]), fungiert.“ (S. 148) Das Argument hat demnach zwei Seiten: die der Sprachstruktur und die der Kommunikationsrollen. Zum einen führt Fischer aus, dass die meisten bekannten Sprachen neben der ersten Person (Ich, Wir) über die zweite (Du, Ihr) und die dritte Person (Er, Sie, Sie, Es) verfügen. Allerdings gibt es keine bekannte Sprache, die ein Personalpronomen für die vierte Person hat: „Die Auszeichnung der dritten Personenstelle kann man daran erkennen, dass die Denkökonomie der Sprache eine vierte oder fünfte singulare Personenstelle nicht vorsieht.“ (S. 149). Das ist die Seite der Sprachstruktur, die mit den Kommunikationsrollen korrespondiert: „Wofür steht die dritte Personenstelle? Einerseits ermöglicht sie die systematische Unterscheidung zwischen Kommunikation unter Anwesenden und Kommunikation über Abwesende […]. Andererseits ist die dritte Personalstelle notwendig, um bestimmte Pluralpositionen im Sprechen überhaupt zu erreichen: das ,Wir‘ lässt sich nämlich dyadisch bilden – aus Ich und Du, aber das ein Sprecher ,Ihr‘ oder ,Sie‘ zu zwei anderen sagt, setzt eine dritte Personalstelle notwendig voraus.“ (S. 149)

Die „Irreduzibilität“ und die „Vollständigkeit“ des Anderen und des Dritten macht sie zu basalen Kategorien jeder Sozialtheorie.

Das Polymorphie-Argument wiederum fußt auf der Beobachtung, dass die Sozialkategorie des Anderen eine ganze Reihe von distinkten Figuren einschließt, die sich untereinander in ihrer dyadischen Konstituiertheit ähneln, aber nicht aufeinander zurückgeführt werden können. Als Beispiele nennt Fischer unter anderem Dialog, Kooperation, Tausch, Vertrag, Konflikt, Anerkennung, Freundschaft, Liebe, Fürsorge, Herr und Knecht, Sadismus und Masochismus (S.152). Der springende Punkt ist nun, dass die Figur des Dritten ebenfalls über einen solchen Formenreichtum verfügt, die Figur des Vierten oder des Fünften allerdings nicht: „,Der/die Dritte‘ als Kategorie umschließt ein Spektrum verschiedenster, nicht aufeinander rückführbarer Formen und Funktionen, wie sonst nur die Kategorie des Anderen. Deshalb nennt Simmel den Dritten eine ,formale soziologische Bereicherung‘ – er evoziert und generiert eine Fülle von neuen ,Formen‘ von Figurationen, die sich nicht auf dyadische Konstellationen zurückbringen, immer aber minimal als eine Dreieckskonstellation aufklären lassen. Der Vierte oder Fünfte bringen keine solche Typenfülle wie der Andere oder der Dritte hervor, so dass sich vermuten lässt, dass in pluralen Konstellationen sich dyadische und triadische Figurationen wiederholen, überkreuzen und vervielfältigen.“ (S. 154) Auf den Punkt gebracht konstatiert Fischer also, dass es die Ausdifferenzierung der sozialen Figuren des Dritten und das Fehlen einer solchen Ausdifferenzierung aller anderen Figuren ist, durch die sich die „Irreduzibilität“ und die „Vollständigkeit“ des Anderen und des Dritten als basale Kategorien jeder Sozialtheorie ausweist.

In einem zweiten Schritt will Fischer mittels einiger „Erprobungen“ zeigen, dass es analytisch fruchtbar ist, die Differenz von Sozialtheorien des Anderen und des Dritten in soziologische Analysen zu integrieren, etwa, indem sich alte Gegensätze auflösen: Anhand der Figur des/der Schiedsrichter:in demonstriert er etwa, wie sich die Diskrepanz zwischen der interaktionstheoretischen (Habermas) und der kommunikationstheoretischen (Luhmann) Konzeption des Rechts drittentheoretisch aufschlüsseln lässt (S. 228 ff.) Er zeigt aber auch, wie sich das System der Marktkonkurrenz über die Figur des kaufenden Publikums drittentheoretisch verstehen lässt (S. 240 ff.) oder weshalb das lebende Fossil Familie in hypermodernen Gesellschaften weiter sein Unwesen treibt (weil jede Gesellschaft auf einen „Quellfond“ angewiesen ist, in dem seine neuen Mitglieder mit den wesentlichen Spielarten des „Anderen“ und des „Dritten“ vertraut gemacht werden, S. 276 ff.). Hervorzuheben ist dabei, dass Joachim Fischer die vielen, durchaus konträr laufenden traditionellen Theoriestränge geschickt mit neuerer Forschung verknüpft. Er will zeigen, dass mit einer Theorie des Dritten nicht nur die Klassiker miteinander versöhnt werden, sondern auch die jungen Wilden etwas anfangen können. Diese Ausführungen lesen sich ausnahmslos sehr anregend.

Aber bevor ich das Lob vertiefe, möchte ich auf meine Zweifel zu sprechen kommen: Mein erster Einwand bezieht sich auf die etwas wohlwollende Rezeption des Simmel‘schen Axioms, das Fischer dem im Buch entwickelten Gedankengang zugrunde legt. Es gibt einige Einwände gegen die Argumentation, dass eine Sozialtheorie des Dritten die einzige und letzte Sozialtheorie ist, die es braucht, um die Soziologie als Gesellschaftswissenschaft zu konstituieren. Am einfachsten lassen sich diese Einwände anhand der Argumente erläutern, die Fischer anführt, um die „Irreduzibilität“ und „Vollständigkeit“ einer Theorie des Dritten zu belegen. Etwa hinsichtlich des sprachformalen Arguments: Hier ist zunächst anzumerken, dass die Frage der Pronomina um einiges komplizierter ist, als das Buch suggeriert. Es gibt eine Fülle von Sprachen, die ohne explizite Personalpronomen für die dritte Person auskommen (etwa Sanskrit) und sich mit anderen grammatikalischen Konstruktionen (etwa Demonstrativpronomen) behelfen, um das auszudrücken, was im Deutschen oder Englischen durch Personalpronomen für dritten Personen vermittelt wird („ich verbeuge mich vor ihm“ wird etwa zu „vor jenem verbeuge ich mich“). Sicher kann man hier einwenden, dass diese Sprachen die Kommunikationsrolle eines Dritten vielleicht noch nicht in ihre grammatikalische Struktur inkorporiert haben, aber nichtsdestotrotz sprachpragmatisch über eine solche verfügen. Aber das sind Ehrenrettungen, die schnell gegen sich selbst gewendet werden können: Man könnte auch die Auffassung vertreten, dass es in solchen Sprachen sehr wohl möglich ist, die Figur des Dritten durch ein Vokabular zum Ausdruck zu bringen, das auf einer Sprachtheorie des Anderen, also des Zweiten basiert. Oder etwas abstrakter: Der Dritte ist ein Zweiter für zwei Andere, also auch nur ein Anderer (oder ein Anderes) unter Anderen. Dass es keine Sprachen gibt, die eine Figur des Vierten (oder Fünften, etc.) in ihr System der Pronomina inkorporieren, scheint dagegen treffender. Aber auch hier liegt der Fall nicht ganz so klar, wie Fischer es darstellt. Etwa könnte man die Frage der sogenannten obviaten dritten Person diskutieren, die im Deutschen oder Englischen genutzt wird, um Konstellationen zu beschreiben, in denen ein Dritter sich auf einen anderen Dritten (oder eben einen Vierten) bezieht. Die sind im Deutschen oft zweideutig („Sie ging zu ihrer Mutter“ – wessen Mutter gemeint ist, variiert in Abhängigkeit davon, auf welche dritte Person das Possessivpronomen „ihrer“ zielt). Und das ist die Crux: Aus Joachim Fischers Perspektive müsste man gegen ein solches Argument einwenden, dass es offenbar möglich ist, eine Kommunikationsrolle des Vierten in Kategorien des Dritten zum Ausdruck zu bringen, ohne dass ein explizites grammatikalisches Pronomen dafür notwendig wäre. You can’t have it both ways.

Dass es ein differenziertes Formenrepertoire der Sozialfiguren des Anderen und des Dritten gibt – wer sollte das bezweifeln?

Auch das Polymorphie-Argument ist weniger überzeugend, als in „Tertiarität“ dargestellt. Gegen den ersten Part des Arguments ist dabei kaum etwas einzuwenden: Dass es ein differenziertes Formenrepertoire der Sozialfiguren des Anderen und des Dritten gibt – wer sollte das bezweifeln? Ganz anders steht es aber um die Behauptung, dass keine fundamental neuen sozialen Formen mehr entstehen, wenn Relationen in vierer, fünfer oder anderen Konstellationen betrachtet werden, da diese stets nur auf „Wiederholungen“, „Kreuzungen“ und „Vervielfältigungen“ der Figuren des Anderen und des Dritten basierten.

Das leuchtet überhaupt nicht ein. Warum sollte etwa mit einer Figur des Vierten nicht eine irreduzible Komplexitätssteigerung und ein formaler Sprung verbunden sein? Und wenn nicht mit einem Vierten, wieso dann nicht mit einem Zwanzigsten, Hundertesten oder Tausendsten? Vielleicht hat es Simmel nur an theoretischer Phantasie gefehlt. Vielleicht zeigt sich an der mangelnden sprachlichen Differenzierung solcher Formen auch eine typische kognitive Beschränkung des Menschen. Mithilfe mathematischer Graphentheorie, die die formale Grundlage soziologischer Netzwerktheorie bildet, lässt sich dieser Einwand explizieren: Jeder vollständige Graph zwischen N Knoten ist der „natürliche, kleinste Repräsentant“ (der sogenannte „Core“) einer Klasse homomorpher („gleichförmiger“) Graphen. Die Gleichförmigkeit bezieht sich dabei auf die Erhaltung der relationalen Struktur. Streng formal betrachtet entspricht also jeder abstrakten Anzahl von N sich relationierenden Elementen mindestens eine relationale Struktur, die sich nicht mit weniger Grundelementen erzeugen lässt. Auf Simmels Axiom übertragen: Ein Dritter ist nicht einfach ein anderer Anderer, aber ein Vierter soll als ein anderer Dritter oder ein Fünfter adäquat als ein dritter Dritter verstanden werden können. Aus der rekursiven Operation des „Anderen“ kann die des „Dritten“ angeblich nicht hervorgehen, aber aus der rekursiven Kreuzung von „Anderen“ und „Dritten“ soll jede beliebige andere soziale Form entstehen können. Mich überzeugt das nicht. Das Polymorphie-Argument, das Fischer von Simmel ableitet, bedient sich einer Scheinplausibilität, die theoretisch genauer zu befragen wäre, als „Tertiarität“ dies tut. Kein Empiriker wird das Fehlen von irreduziblen Kategorien, die Sozialwissenschaftler:innen aber auch Menschen im Alltag nutzen, um soziale Konstellationen zu beschreiben, als Beleg dafür gelten lassen, dass es bestimmte Konstellation schlicht nicht gibt. Sowohl der Umstand, dass Menschen grundsätzlich schlecht darin sind, die Komplexität von Gruppen- und Netzwerkprozessen kognitiv zu verstehen[1] als auch die Tatsache, dass die mathematische Theorie, die wir brauchen, um diese zu beschreiben, mindestens avanciert ist,[2] sollten zu denken geben. Das Fehlen einer sprachlich artikulierten „Polymorphie“ für Sozialfiguren des Vierten, Fünften und so weiter kann einfach die Fabrikation einer Spezies sein, die die Welt gern einfacher hätte, als sie ist.

So viel zur Kritik am Fundament des Arguments. Erhebliche Zweifel habe ich jedoch auch an den Effekten, die eine drittentheoretischen Wende der Sozialwissenschaften zeitigen soll. Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier soll nicht so sehr die Vermutung kritisiert werden, dass die Kombination von Sozialtheorien des Anderen mit Sozialtheorien des Dritten in vielen Fällen zu einer Soziologie führt, die bestimmte Sachverhalte besser beobachten, beschreiben und erklären kann. Die prinzipielle Fruchtbarkeit der Unterscheidung soll explizit nicht infrage gestellt werden. „Tertiarität“ belegt durch seine „Erprobungen“ eindrücklich, dass in der Unterscheidung analytisches Potenzial steckt. Das ist andererseits aber auch nicht sonderlich überraschend: Wo eine halbwegs sinnvolle Differenz bisher unterschlagen wurde, muss ihre Einführung einen korrigierenden Effekt aufweisen. Das heißt aber noch lange nicht, dass es sich um die einzige und letzte Unterscheidung handelt, die es braucht, um irgendetwas adäquat zu verstehen.

Wer die mageren Erfolge anwendungsorientierter Sozialwissenschaften kennt, den erfasst immer mal wieder der Wunsch, die Flinte ins Korn zu werfen.

Eine Behauptung, die mir etwas weit hergeholt vorkommt, ist, dass eine Integration der Perspektiven den soziologischen Fundamentalgegensatz zwischen Handlungs- und Strukturtheorien aufzulösen vermag (siehe Zitat oben). Zunächst einmal laboriert die Soziologie mindestens seit 40 Jahren an Theorien, die eine solche Integration vorzunehmen suchen: Spätestens seit Ende der 1970er-Jahre ist eine ganze Bandbreite rekursiver Strukturationstheorien entstanden, die, mit Fischer gesprochen, immer beides berücksichtigen:[3] Eine Theorie des Anderen und eine des Dritten – oder wie es typischerweise genannt wird: Die Handlungs- und die Strukturebene. Die Grundprobleme der Soziologie haben sie aber nicht gelöst. Bestenfalls haben rekursive Strukturationstheorien besser sichtbar gemacht, wie wenig wir von Gesellschaften verstehen. Das ist bereits ein großer Verdienst, der der Hybris von System- und Diskurstheorien, von Handlungs- und Strukturtheorien, von Institutionen- und Interaktionstheorien einiges entgegengesetzt hat. Aber eine Alternative konnten sie nicht anbieten; das Struktur-Handlungsproblem ist so unverstanden wie eh und je. So ist etwa der Zusammenhang von diskursiven Normen und soziale Praktiken wahnsinnig kompliziert. Und empirisch fundierte Theorien, die versuchen, dieses Problems habhaft zu werden, sind kaum mehr als Ansammlungen inkonsistenter Heuristiken. Wer etwa – wie ich – in der angewendeten Nachhaltigkeitsforschung unterwegs ist, bekommt irgendwann und gegen jede Vernunft den Impuls, die Sache für den frühen Luhmann zu entscheiden: Handlungs- und Kommunikationssysteme leben auf unterschiedlichen Planeten und haben bis auf zufällige „Interpenetrationen“ kaum etwas miteinander zu tun. Wer die mageren Erfolge anwendungsorientierter Sozialwissenschaften kennt, den erfasst immer mal wieder der Wunsch, die Flinte ins Korn zu werfen. Aber der empirische Zusammenhang zwischen sozialen Normen und sozialen Praktiken ist dann doch zu offensichtlich, um einfach aufzugeben. Nichtsdestotrotz spielen die Sozialwissenschaften, die Soziologie eingeschlossen, momentan ein trumpfarmes Blatt. Und ich habe die Vermutung, dass sich auch „Tertiarität“ in die Theorieangebote einreihen wird, die vergeblich versuchen, diese Lücken durch begriffliche Interventionen zu schließen. Konkret bedeutet das, dass die wesentliche Leistung, die Fischers sozialtheoretisches Argument zu erbringen hätte, die theoretische Durchdringung des Wechselspiels zwischen Anderem und Dritten wäre. Aber dahingehend macht das Buch leider wenig Angebote. Es verbleibt auch in seinen „Erprobungen“ vor allem im Ungefähren, kombiniert alte theoretische Gegensätze geschickt mit jüngerer Empirie, ohne allzu konkret zu werden. Das ist intellektuell durchaus anregend, erklärt aber wenig – und ist vielleicht auch die Last eines generationellen Projekts. Die Annahme, dass eine soziologische Theorie etwas taugt, wenn sie durch das Aufzeigen eines interessanten Gegensatzes einen bestimmten Gegenstandsbereich aufschlüsselt und analytisch zugänglich macht, ist in der „Boomer-Soziologie“ keine Ausnahme. Die nachfolgende Generation ist hingegen mit einer Welt konfrontiert, die vor mehr als nur einem Abgrund steht. Gesellschaftliche Selbstbeobachtung, die im Ungefähren verbleibt, ist da zu wenig. Damit wir die Dinge ändern können, müssen wir sie so gut verstehen, dass wir sie in ihrem Ablauf kausal erklären können. Ich denke nicht, dass uns „Tertiarität“ in dieser Hinsicht weitergebracht hat, aber, und das ist durchaus versöhnlich gemeint: So viel und so anregend Argumentiertes wie in „Tertiarität“ bekommt man sehr selten zu lesen. Es handelt sich um die mustergültige Skizze eines langen Holzwegs, der aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart führt. Jede:r theoretisch interessierte:r Sozialwissenschaftler:in sollte „Tertiarität“ daher genau studieren – etwas Besseres haben wir nicht.

  1. Für einen Überblick siehe etwa Raina A. Brands, Cognitive social structures in social network research: A review, in: J. Organiz. Behav 34 (2013), 1, S. 82–103.
  2. Siehe das etwa das Interview mit Christian Steglich, abrufbar unter https://www.soziopolis.de/die-augen-der-soziologie-was-mathematische-modelle-sichtbar-machen.pdf (29.11.2023).
  3. Etwa Anthony Giddens, The constitution of society. Outline of the theory of structuration, Berkeley 1986; James S. Coleman, Foundations of social theory, Harvard 1990; Harrison C. White, Identity and Control, Princeton 2012, um nur einige zu nennen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Gesellschaft Gesellschaftstheorie Gruppen / Organisationen / Netzwerke Wissenschaft

Janosch Schobin

Janosch Schobin, Dr. rer. pol., leitet die BMBF-Nachwuchsgruppe "DecarbFriends" an der Universität Kassel. Seine Forschungsgebiete sind unter anderem Freundschaftssoziologie, Soziologie sozialer Isolation, Techniksoziologie und Soziologie des Spiel(en)s.

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