Dirk Baecker | Interview |

Der Fall vom Himmel

Drei Fragen zum Werk von Bruno Latour

Welches Latour-Buch war für Sie besonders wichtig?

Am Terrestrischen Manifest fasziniert mich bereits der französische Originaltitel, Où atterir? Wo landen? Unter den Haudenosaunee (Irokesen) in Nordamerika erzählt man sich die Legende von Sky Woman, die vom Himmel fiel und im Wasser, das die Erde vollständig bedeckte, zu ertrinken drohte, wäre es nicht zwei Vögeln gelungen, ihren Fall in ihrem Gefieder aufzufangen, und wäre es nicht einer Bisamratte (hier gehen die verschiedenen Versionen der Geschichte auseinander) gelungen, Lehm aus den Tiefen des Ozeans aufzuwirbeln und auf der Schildkröte abzulagern, die sich bereit erklärt hatte, sie auf ewig zu tragen. So lautet die Geschichte zur Entstehung von „Turtle Island“, wie die First Nations Nordamerikas ihren Kontinent nennen. Latour erzählt diese Geschichte zwar nicht, legt aber nahe, dass unsere gegenwärtige Situation sehr ähnlich ist. Wir drohen in der Verschmutzung und Vernichtung unterzugehen, die die Menschen auf der Erde anrichten, und es ist keine Schildkröte in Sicht, die uns den Boden unter unseren Füßen sichert. Der Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energien erfordert ein in vielerlei Hinsicht radikal anderes Gesellschaftsregime – und wir sind weit davon entfernt, es uns auch nur vorstellen zu können.

Was war Latours wichtigster Beitrag zur Soziologie?

Latours wichtigster Beitrag zur Soziologie ist seine Öffnung der Netzwerkidee für heterogene Elemente, das heißt für Lokalitäten, Geschichten, Konventionen, Praktiken, Institutionen, Technologien und Menschen. Sie alle sind Akteure, verbunden durch unbestimmte Mittelglieder, versammelt in einem Kollektiv, dem man nur auf die Spur kommen kann, indem man eine „Infrasprache“ entwickelt, die Vorgänge, Aktivitäten und Assoziationen weit unterhalb der gewohnten Sprache der Soziologie (Rollen, Normen, Handlungen) beschreiben kann. Latour legte als Ethnologe und Philosoph immer Wert auf Abstand zur Soziologie, aber es ist sicherlich nicht verfehlt, darauf hinzuweisen, dass diesem Interesse an einer tiefer gelegten Sprache zeitgenössische Bemühungen um ein Verständnis von Feldern, Netzwerken und Systemen entgegenkommen.

Welches Konzept, welche Intervention Latours sollte man weiterdenken?

Latours Ausführungen über Assoziationen, Kollektive und Existenzweisen werden die Soziologie sicherlich zunehmend beschäftigen. Was hält sie zusammen, wie bleiben sie beweglich, wie ordnen sie Zu- und Abgänge? Wer hier zu schnell auf einen begrifflich neuen, phänomenologisch jedoch alten Typ von emergenten Ganzheiten setzt, hat nicht verstanden, dass die soziologische Herausforderung darin liegt, beschreiben zu können, wie das Heterogene aneinander andockt. Harrison C. White ist hier zurate zu ziehen, der von Kontrollbeziehungen zwischen prekären Identitäten spricht und unter Kontrolle sowohl Selbstbeherrschung als auch Profilierung versteht. Latour setzte kontinuierliche Domänen (Wertsphären, ähnlich den alten Funktionssystemen) in ein Verhältnis zu diskontinuierlichen Netzen (Ungewissheit und Bewegung) und deutete damit an, dass es darum geht, eine Theorie (und Mathematik) des Diskreten zu entwickeln, in der alle Arten von Phänomenen Einschnitte sind, die sich wie Winkel oder Falten immer zugleich abgrenzen und anlehnen. Von einem Kalkül der Lage sprach Leibniz, von einem Kalkül der Probleme Gilles Deleuze, von einem Kalkül der Form George Spencer-Brown. Die Intuitionen liegen bereit.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Gesellschaftstheorie Gruppen / Organisationen / Netzwerke Methoden / Forschung Ökologie / Nachhaltigkeit Wissenschaft

Dirk Baecker

Professor Dr. Dirk Baecker ist Soziologe und lehrt Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke.

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