Bernd Bösel | Rezension | 23.05.2023
Jenseits westlicher Emotionskategorien
Rezension zu „Between Us. How Cultures Create Emotions“ von Batja Mesquita

Eines gleich vorweg: Batja Mesquita schrieb ihr Buch Between Us. How Cultures Create Emotions eindeutig für den US-amerikanischen Sachbuchmarkt. Daraus ergibt sich eine Reihe kultureller Eigenheiten, wie etwa sehr persönliche bis tatsächlich private Erfahrungen anekdotenhaft wiederzugeben, sich auf die (Überzeugungs-)Kraft von Akronymen wie WEIRD, MINE und OURS zu verlassen (dazu gleich mehr) oder weitgehend auf Begriffsarbeit zu verzichten, was gerade beim Grundbegriff der Kultur schmerzt. Schwer vorstellbar, dass das Buch in dieser Form auf Deutsch veröffentlicht worden wäre. Um aber sogleich die Erträge des gut recherchierten sowie auf eigenen Forschungsergebnissen beruhenden Buchs auf selbiges anzuwenden: Wie sich die emotionale Beziehung zwischen Autorin und Leserschaft hier gestaltet, ist einer bestimmten kulturellen Situierung geschuldet, die anderswo nicht geteilt wird. Auf diese emotionskulturelle Differenz muss sich einlassen können, wer das Buch mit Gewinn lesen möchte.
Between Us ist die Bilanz der dreißig Jahre umspannenden Forschungskarriere von Batja Mesquita, die der Klappentext als Sozialpsychologin, Affektwissenschaftlerin und Pionierin der Kulturpsychologie vorstellt. Ihre Arbeit lässt sich einer zeitgenössischen Strömung der Affekt- und Emotionspsychologie zuordnen, die auf unterschiedlichen Wegen versucht, die alteingesessenen Essenzialismen in der Theoretisierung des affektiven und emotionalen Lebens abzubauen. Ein Meilenstein in dieser Richtung war Lisa Feldman Barretts How Emotions Are Made (2017), das auf neurowissenschaftlicher Grundlage den Nachweis führte, dass die Vorstellung einer eindeutigen Korrelation zwischen subjektiv erlebter Emotion und objektiv feststellbaren physiologischen Erregungskonturen keine empirische Basis hat. Mesquita arbeitet seit Jahren mit Barrett zusammen und teilt mit ihr die Überzeugung, dass die lange vorherrschende Sicht auf Emotionen als evolutionär entwickelte und daher universelle autonome Reaktionen auf bestimmte Reize einen biologischen Essenzialismus darstellt, der in keiner Weise mehr haltbar ist. Einfach gesagt: Basisemotionen gibt es ebenso wenig wie deren angeblich universelle Ausdrucksformen. Dies weist sie mithilfe der Sozial- und Kulturpsychologie nach, die qualitative Emotionsforschung mit inter- und multikulturellen Gruppen durchführt. Sie stellt dabei eine weitreichende Frage: Nehmen wir einmal an, dass Emotionen, je nach Sozialisation, tatsächlich nicht nur anders ausgedrückt, sondern auch anders erlebt und empfunden werden. Besteht dann keine Aussicht mehr auf Verständigung, weil wir nicht davon ausgehen können, dass Menschen unterschiedlicher Kulturen und Milieus emotionale Grunderfahrungen teilen? Ist der westliche Humanismus damit hinfällig?
Interne Zustände und externe Relationen
An dieser Stelle ist eine kurze Auseinandersetzung mit den von Mesquita sehr effektvoll eingesetzten Akronymen unerlässlich. WEIRD springt einem als erstes ins Auge, es steht für „Western, Educated, Industrialized, Rich, and Democratic“ und spielt bewusst mit dem englischen Wort für „seltsam“ (weird). Den Kontext und die Konnotation der Einführung des Akronyms durch Joseph Henrich in den 2010er-Jahren erläutert Mesquita allerdings nicht (auch wenn sie ihn in den Endnoten referenziert). Henrichs Monumentalwerk The WEIRDest People in the World von 2020 stellt weitreichende Thesen zum europäischen Sonderweg der Individualisierung und Entsolidarisierung von traditionellen sozialen Strukturen wie Familien und Clans auf.[1]
Die Hegemonie des westlichen Verständnisses von Emotionen inspiriert Mesquita zur Einführung der offenbar selbstgeprägten Akronyme MINE („Mental, INside the person, and Essentialist“) und OURS („OUtside the person, Relational, and Situated“), die zwei einander offensichtlich fundamental widerstreitende Modelle zur Interpretation von Emotionen bezeichnen (S. 23 f.). Den Konflikt beleuchtet Mesquita in ihrem Buch mithilfe unzähliger Befunde von Anthropolog*innen sowie durch eigene, mit Kolleg*innen durchgeführte empirische Studien zur Erklärung interkultureller Missverständnisse bezüglich emotionaler Situationen und Performanzen.
Gerade bei interkulturellen Forschungen zeigte sich immer wieder, dass Proband*innen aus anderen Kulturen Fragestellungen wie etwa diejenige nach der empfundenen Intensität von Emotionen, die in westlichen Kulturen selbstverständlich sind, als sinnlos ablehnen. Emotionen, so Mesquitas weitreichende Folgerung, würden eben nicht universell im Innenleben einer Person verortet, sondern seien in vielen Kulturen gerade im Zwischenraum zwischen Personen lokalisiert. Sie wären, anders gesagt, keine internen Zustände, sondern relationale Episoden. Es komme also auf die Kultur an, ob Emotionen primär als interne Zustände oder umgekehrt als externe Relationen aufgefasst würden.
Auf Grundlage dieser Unterscheidung räumt Between Us mit vielen scheinbar selbstverständlichen Annahmen bezüglich Emotionen auf. Am stärksten ist das Buch dann, wenn es sich mit den in westlichen liberalen Demokratien weitverbreiteten Sichtweisen auf Emotionen wie Liebe oder Glück (happiness) auseinandersetzt. Dabei zeigt es mühelos, wie kulturell (und oftmals auch historisch) begrenzt deren Zentralstellung tatsächlich ist. Das mag theoriegeschichtlich nicht immer neu sein, und das Buch greift gelegentlich auch auf die Ergebnisse der Emotionsgeschichtsschreibung zurück, die ja schon seit Jahren floriert.
Emotionskategorien und emotionale Sozialisation
Durchaus bestechend und überraschend sind allerdings die vielen Belege dafür, dass die hegemonialen westlichen Emotionskategorien in nichtwestlichen Kontexten oftmals nur eine untergeordnete Rolle spielen. Als soziale Regulatoren wirken dort stattdessen ganz andere Emotionen, für die es in den westlichen Sprachen kein Pendant gibt. Between Us setzt sich mit einer Reihe solcher unübersetzbarer Emotionskategorien auseinander: zum Beispiel amae (S. 68), das im Japanischen in etwa das Gefühl völliger Abhängigkeit von nährender Zuwendung meint; oder malu, einer in Taiwan sozial erwünschten Form der Schamhaftigkeit (S. 60), die sicherstellen soll, dass Heranwachsende ihren Platz in der Gemeinschaft erkennen; oder tahotsy, einer bei den Bara auf Madagaskar in der Erziehung zentral gestellten und bewusst erzeugten Furcht vor älteren Verwandten (S. 64). Beispiele wie diese dienen dazu, die kulturellen Eigenheiten des jeweils zur Verfügung stehenden Emotionsvokabulars zu verdeutlichen. Übersetzen lassen sich deren Vokabeln nur, insofern man Vereinfachungen oder ungewollte Assimilierungen an die Eigenheiten der Zielsprache in Kauf nimmt.
Mesquita warnt auch davor, zu glauben, man könne das entsprechende emotionale Erleben nachvollziehen, sobald man die entsprechenden fremdsprachlichen Vokabeln erlernt habe. Sie liefert ein weitaus überzeugenderes Modell emotionaler Sozialisation: Es sind die Interpretationen von Erziehenden, die Kinder und Heranwachsende darin anleiten, bestimmte wiederkehrende emotionale Episoden mit einer bestimmten Vokabel zu belegen. Dabei wird zugleich eine normative Dimension vermittelt, die Mesquita absichtlich simplifizierend als Vermittlung des kulturell jeweils als ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ eingestuften emotionalen Verhaltens beschreibt. „In each culture, caregivers teach their children the emotions that support the cultural social norms and values.“ (S. 80) Daraus folgt, dass einer Kultur anzugehören bedeutet, bestimmte Emotionen eher zu haben als andere, weil sie positiver konnotiert sind.
Insgesamt zielt das Buch vor allem auf interkulturelle Begegnung ab und will dazu beitragen, emotionskulturelle Vorurteile abzubauen und Missverständnisse zu verhindern. Im Kapitel „Learning the Waltz“ vergleicht Mesquita beispielsweise die niederländische Emotionskultur, in der sie selbst sozialisiert wurde, mit dem Tango, die US-amerikanische dagegen mit dem Walzer. Als sie von den Niederlanden in die USA übersiedelte, musste sie erst mühsam lernen, ihre metaphorischen Tangoschritte sein zu lassen und stattdessen den Walzer mitzutanzen. Solche Vergleiche können erhellend sein, man kann sie aber auch überstrapazieren.[2]
Fehlende Begriffsarbeit und Kulturrelativismus
Der Fokus des Buchs auf die kulturelle Prägung des emotionalen Lebens und der emotionalen Performanz ist für die Affekt- und Emotionsforschung enorm ertragreich. Er bringt allerdings auch mindestens zwei Gefahren mit sich. Erstens bleibt der Kulturbegriff, wie eingangs angedeutet, theoretisch völlig unterbelichtet. Die Autorin setzt ihn in etwa mit Ethnizität gleich, wodurch andere Faktoren aus dem Blick geraten – zum Beispiel die durchaus konflikthaften Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern verschiedener Generationen, Milieus, Klassen und Geschlechter innerhalb dessen, was Mesquita als Kultur zusammenfasst. Zweitens scheint das Buch Kulturrelativismus zu betreiben. Wenn Mesquita fragt, ob Zorn eine gesunde Zutat für jede Beziehung ist, oder ob Scham immer selbstdestruktiv sein muss, fällt die Antwort recht simpel aus: Es kommt ganz darauf an, in welcher Kultur jemand sozialisiert wurde. Der hier drohenden Gleichgültigkeit allen emotionalen Sozialisierungsformen gegenüber entkommt das Buch nur, indem es – unter Anrufung einer ziemlich vage bleibenden Humanität – Ratschläge für interkulturelle Begegnungen gibt.
Auf eine solche praktisch orientierte Anwendung läuft Between Us schließlich auch zu. Mesquita bietet im letzten Kapitel eine „toolbox for unpacking emotional episodes“ (S. 201) an, die dazu dienen soll, das menschliche Gegenüber in der ihm eigenen emotionalen Besonderheit ernst zu nehmen. Sie fordert dazu auf, im Dialog herauszufinden, worum es in einer emotional aufgeladenen Episode tatsächlich geht, welches Emotionsvokabular geeignet erscheint, dies angemessen auszudrücken, und welchen weiteren Verlauf die Interaktion idealerweise nehmen sollte. Mesquitas Warnung vor der Zuversicht, aufgrund des eigenen Erfahrungswissens erkennen zu können, was und wie die andere Person fühlt, bleibt nach der Lektüre ebenso eindrücklich zurück wie ihre Kritik an der Naivität des Empathiediskurses, der stets von Neuem übersehe, dass bloße Empathie nicht ausreicht, um kulturelle Differenzen zu überbrücken, weil man so doch wieder nur die eigene Emotionskultur auf eine andere projiziert.
So ist es trotz der genannten Einschränkungen am Ende gut vorstellbar, dass Mesquitas Erkenntnisse auch auf andere soziale Kategorien als „Kultur“ sinnvoll übertragen werden können. Mitunter greift sie selbst auf Begriffe wie Performativität zurück, für die es in den Geistes- und Sozialwissenschaften bereits reichhaltige Theorieangebote gibt, aber leider ohne diese auch nur ansatzweise einzubeziehen. Gelegenheit dazu hätte es schon im ersten Kapitel gegeben, wenn sie selbstironisch beschreibt, wie sie im US-amerikanischen Kontext durch ihr emotionales „underperforming“ (S. 2) zunächst für Irritation sorgte; oder wie sich umgekehrt ihre hollandischen Gäste über die emotionalen Übertreibungen vonseiten der Amerikaner*innen mokiert hätten (S. 4). Auch benutzt Mesquita häufig die Phrase „doing emotions“. Hier hätte sie zumindest in einer Endnote die Brücke zu Judith Butler oder anderen Theoretiker*innen schlagen müssen, die schon seit den 1980er-Jahren zur Performativität des „doing gender“ arbeiten. Trotzdem bietet ihr Buch fruchtbare Anschlussmöglichkeiten für Grenzgänger*innen der Affect Studies und Emotionstheorien, insbesondere an die Arbeiten von Sara Ahmed zu emotionalen Kulturpolitiken.
Fußnoten
- Die deutsche Übersetzung besorgten Frank Lachmann und Jan-Erik Strasser 2022 für den Suhrkamp-Verlag. Die notwendige und sicherlich kontroverse Debatte über das Werk und seine Annahmen über die Folgen der Familienpolitik des Christentums kann hier nicht geführt werden; für Mesquitas Arbeit dient Henrichs Akronym auch nur dazu, die Hegemonie und ‚Natürlichkeit‘ der im Westen so verbreiteten Sicht auf Emotionen als primär individuelle Phänomene radikal infrage zu stellen. So etwa wenn sie die in den USA vorherrschende positive Psychologie aufgrund ihres unreflektierten Universalismus kritisiert: „For all the progress ‚positive psychology‘ research has made in understanding flourishing, it has missed out on culture; the enterprise has been WEIRD.” (S. 111)
- Wer an eine andere Sach- und Fachbuchkultur gewöhnt ist, wird daher die gelegentlichen Begriffsangebote, wie etwa die „emotionale Akkulturation“, nur zu gerne aufgreifen (S. 171). Diese bleibe eine Herausforderung, zu der sich Mesquita – ausnahmsweise – auch politisch äußert. So sei der vor Kurzem in den Niederlanden eingeführte „Integrationstest“ mit der Erwartung an Migrant*innen verbunden, innerhalb von fünf Jahren vollumfänglich an der neuen Kultur zu partizipieren. Das reiche für den emotionalen Akkulturationsprozess sicherlich nicht aus, wie Mesquita zu bedenken gibt. Eine völlige Angleichung des ‚emotionalen Profils‘ an die Mehrheitskultur sei bei Migrantenfamilien vielmehr erst in der dritten Generation zu erwarten.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Affekte / Emotionen Kommunikation Kultur Psychologie / Psychoanalyse
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