Christa Binswanger | Rezension | 23.10.2019
Kalkül und Kritik in der Akademie
Rezension zu „Vermessene Räume, gespannte Beziehungen. Unternehmerische Universität und Geschlechterdynamiken“ von Sabine Hark und Johanna Hofbauer (Hg.)

Universitäten unterliegen heute mehr als je zuvor einer Logik der Vermessung. Von den Studierendenzahlen und der Anzahl der abgehaltenen Lehrveranstaltungen über die Beteiligung an akademischer Selbstverwaltung bis hin zur Medienresonanz auf Forschungsergebnisse – akademische Performanz und Wissenstransfer in die Gesellschaft sollen in Form von quantifizierbaren Größen erfasst werden, um die Leistungen von Universitäten messen und (global) miteinander vergleichen zu können. Eine Folge davon ist, dass Quantität, nicht Qualität, im Vordergrund steht. So ist es etwa in Großbritannien bereits üblich, Mitarbeitende zu entlassen, wenn sie den festgelegten jährlichen Output nicht erreichen – unabhängig davon, wie viel ihrer begrenzten Ressourcen jeweils in Unterricht, Administration und Betreuung von Studierenden geflossen sind. Effizienz und Messbarkeit von Resultaten werden so zu einem Gütekriterium für wissenschaftliches Arbeiten und die Vermittlung von Wissen. Jedoch lassen sich weder individuell zu gestaltende Betreuungssituationen noch Forschungsarbeiten einfach in quantifizierbare wissenschaftliche Erfolge übersetzen. Geschlecht spielt in diesem Zusammenhang deshalb eine wichtige Rolle, da geschlechtertypische Erwartungen und Verhaltensweisen an den Universitäten nach wie vor vorherrschend sind. So wird von Akademiker*innen sowohl mehr Emotionalität und Unterstützung gegenüber Studierenden und Mitarbeitenden erwartet als von Akademiker*n, als auch eine größere Bereitschaft, wenig prestigeträchtige Arbeiten zu übernehmen. Kommen Hochschulmitarbeiter*innen diesen Erwartungen nach, so reproduzieren sie vergeschlechtlichte Verhaltensweisen, die zeitintensiv sind und sich meist nicht adäquat in messbare Performanz übersetzen lassen. Der hier diskutierte Sammelband geht diesen Phänomenen nach und fragt nach den – teilweise ungeheuerlichen – Auswirkungen der meritokratischen und unternehmerischen Universität auf die Geschlechterdynamiken in der Akademie.
Die beiden Herausgeberinnen Sabine Hark und Johanna Hofbauer waren in leitender Funktion am europäischen Großprojekt „Entrepreneurial University und GenderChange: Arbeit – Organisation – Wissen“ (2012–2016) beteiligt. Das Projekt fragte danach, wie diese Felder durch Geschlecht gestaltet werden und untersuchte, wie sich die Gestaltung der Felder wiederum geschlechterbezogen auswirkt. Auch einige der Autor*innen des Bandes haben im Projekt mitgewirkt und so ist es nicht zuletzt diesem Forschungszusammenhang geschuldet, dass die zentrale Frage, unter welcher der Band firmiert, die nach den geschlechtsspezifischen Einflüssen der „quantifizierenden Grammatiken der Klassifikation, Differenzbildung und Hierarchisierung“ (S. 10) ist. Dafür wird die zunehmende Bedeutung formeller ebenso wie informeller Mechanismen der Vermessung hochschulischer Räume, wissenschaftlicher Praktiken und akademischer Performanz untersucht. Die Kritik an dieser „große[n] Transformation“ (S. 10) richtet sich gegen die „Fetischisierung von Indikatoren“ (S. 15) sowie gegen die Komplexitätsreduktion und Intransparenz, die durch die Messinstrumente dieser Indikatoren verursacht wird (S. 17 f.). Zudem wird ein selbstkritischer Blick auf universitäre Gleichstellungspolitiken und die Gender Studies geworfen, da sie selbst in ambivalenter Weise in diese Transformationsdynamik eingebunden sind. Der Band macht deutlich, dass die titelgebenden „gespannten Beziehungen“ als eine Folge der starken Hierarchisierung von Universitäten keineswegs neu sind. Neu sind allerdings das globale Ausmaß des Wettbewerbs und die alles durchdringende digitale Logik der Vermessung, die sich rasant ausbreitet und die Ungleichheit der damit verbundenen Geschlechterbeziehungen sogar verschärfen kann, wenn geschlechterstereotypes Verhalten gemessen wird – beispielsweise wenn das vermeintlich objektive Ergebnis ist, dass Akademiker*innen weniger leisten als ihre männlichen Kollegen*, weil sie vermehrt Arbeit verrichten, deren Resultate nicht in gleicher Weise quantifizierbar sind.
Thematisch setzt die Publikation vier Schwerpunkte: Erstens die Einflüsse der Vermessung auf Gender Studies und feministische Kritik, zweitens die Zusammenhänge von Leistungsmaßstäben und Gleichstellung, drittens Gleichstellung und Diversity Management unter den Bedingungen von Evaluierung und viertens Sorgearbeit und Selbstsorge innerhalb der Akademie.
Im ersten Teil stellt Gudrun-Axeli Knapp dar, welchen potenziell korrumpierenden Einfluss die Bologna-Reform auf die akademische Geschlechterforschung hat, denn durch die opportunistische Anpassung an die Prinzipien der unternehmerischen Universität sind die Gender Studies zunehmend widersprüchlichen Anforderungen ausgesetzt (S. 58 ff.). Knapp legt den Finger in so manche Wunde: Obwohl sie der Geschlechterforschung nach wie vor einen gewissen Nonkonformismus zugesteht, der eine besondere Problemwahrnehmung ermöglicht (S. 69 f.), bleibt sie skeptisch, ob und wie die genderkritische Wissensproduktion vor dem Hintergrund des äußeren Anpassungsdrucks ihr subversives Potenzial wahren kann. Zudem führt die Leistungserfassung durch die Rationalisierung mittels metrischer und zeitökonomischer Verfahren zunehmend zu einer „Leistungszerstörung durch Leistungserfassung“ (S. 66).
Der Beitrag von Gabriele Griffin hingegen bewertet die aktuelle Situation nicht ausschließlich negativ, da „das Konzept der unternehmerischen Universität auch Möglichkeiten für feministische Ansätze bietet, die Feminist*innen erkennen und nutzen können“ (S. 74). So problematisch der Begriff des Impacts, der den verändernden Einfluss von Forschung auf die Gesellschaft messen will, auch ist, kann die Geschlechterforschung diesen Einfluss für sich geltend und nutzbar machen. Wenn sich das wissenschaftliche Feld auch hinsichtlich der Frage, ob sein Anliegen primär theoretischer oder aktivistischer Natur sei, unterscheidet, so verbindet es doch der Anspruch, gesellschaftliche Veränderung herbeiführen zu wollen. Auch auf die unternehmerische Universität kann die Geschlechterforschung insofern positiv einwirken, als dass transformatorische Prozesse in Richtung einer (Re-)Aktivierung feministischer Politik gelenkt werden (S. 92).
Im zweiten Teil macht Bettina Heintz geltend, dass die Frage nach den Auswirkungen der Meritokratie auf die Erfolgschancen von Frauen* innerhalb der Akademie in zwei unterschiedliche Strukturlogiken eingebunden ist: Die Wissenschaft als Funktionssystem ist auf das Erbringen wissenschaftlicher Leistung ausgerichtet, während die Universität als Organisation vor allem effizient und erfolgreich funktionieren will. Diskriminierungsmechanismen können sich beispielsweise bei der Transformation von wissenschaftlicher Leistung in Reputation zeigen. Derartige Mechanismen wirken subtil und sind, werden sie nicht in ihrer Funktionsweise erkannt, schwer zu bekämpfen. Trotz vermeintlich transparenter Messungen birgt gerade die Wissenschaft „interpretationsoffene Situationen“, in denen sich Geschlechtszugehörigkeit als Interpretationsressource anbietet, „über die stereotypisierte Bilder und Bewertungen [...] am Ende zu einer Ungleichbehandlung führen können“ (S. 181). Da Frauen* in der Akademie durch Gleichstellungspolitik und Diversity Management derzeit gleichzeitig privilegiert und diskriminiert werden, müssen derlei Überlegungen in die Analyse miteinbezogen werden.
Im dritten Teil zeigen die Beiträge von Sara Ahmed sowie von Julia Nentwich und Ursula Offenberger auf, dass Gleichstellungs- und Diversity-Maßnahmen sowohl als machtvolle Verbündete als auch als Verschleierungsinstrumente zum Einsatz kommen können. Denn auch die Gleichstellungsbeauftragten nutzen diese unternehmerischen Instrumente, um ihre Anliegen auf die institutionelle Agenda zu bringen und ihre Forderungen politisch durchzusetzen. Möglichkeitsräume können sich hier immer auch als unheilige Allianzen entpuppen, denen wiederum kritisch mit Zahlen begegnet werden muss – das sei die konstitutive Ambivalenz, die das Verhältnis von Chancengleichheit und Vermessung der Universität prägt.
Im vierten Teil, der sich mit akademischer Sorgearbeit beschäftigt, steht die Sorge um Akademiker*innen im Vordergrund. Rosalind Gill fordert dazu auf, das Schweigen über physisches und psychisches Leiden an der vermessenden Hochschule zu brechen. Dabei macht die Autorin slow academia (S. 363) als das zentrale Konzept stark, das die notwendige Entschleunigung einfordert sowie Machtstrukturen und Ungleichbehandlung kritisiert. Dadurch soll gemeinschaftlich eine affektiv gestützte und dialogisch verhandelte Kritik formuliert werden – entgegen der Eigenverantwortung und Einsamkeit in der Akademie, die Gill als Resultat eines „toxischen individualisierenden Diskurses“ (S. 364) identifiziert.
In ihrem Buch „Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity“[1] hat die Gender-Theoretikerin Eve Sedgwick das paranoid reading als eine kritische Forschungshaltung beschrieben, die prinzipiell davon ausgeht, dass in den untersuchten Forschungsgegenständen diskriminierende Strukturen und institutionelle Bedingungen bestehen. Eine solche paranoide Lektüre ist angeleitet von einer Hermeneutik des Verdachts. Daneben entwickelt Sedgwick in diesem späten Text jedoch auch ein reparative reading, also eine von einer wiederherstellenden Weltsicht angeleitete Lektüre als ebenso relevante Forschungshaltung, die sie als Ergänzung zum paranoid reading versteht. Sie geht von einem Selbst aus, das noch im Werden ist und mit der Fähigkeit sich zu entwickeln über eine Ressource verfügt, die Veränderung denkbar und möglich macht. Eine wiederherstellende Weltsicht soll dem Subjekt Möglichkeiten eröffnen, eine dichotome Weltsicht aufzubrechen und Handlungsspielräume auszuloten. Der hier diskutierte Sammelband zeichnet sich durch eine ähnliche Komplementärstruktur aus: Während in einigen Beiträgen die Hermeneutik des Verdachts dominiert, benennen andere Kapitel Spannungsverhältnisse, die ein reparatives Potenzial aufweisen – wohlgemerkt ohne dabei die diskriminierenden Praktiken der vermessenden Hochschulen zu verharmlosen. So stellen Kressl et. al. vergeschlechtlichte Subjektivierungsweisen in Österreich in ihrer Ambivalenz zwischen entgrenzten Anforderungen, dem Kampf gegen Prekarisierung und lustvollem akademischem Arbeiten dar (S. 188 ff). Auch die Aussage von Griffin, dass die Gender Studies von der Forderung nach Impact profitieren könnten, indem sie sich offensiv positionierten, eröffnet Denkmöglichkeiten. Im Sinne Sedgwicks soll für ein feministisches Selbst plädiert werden, das sich als unfertig versteht und im Angesicht aktueller Entwicklungen nach ermächtigender Unterstützung dabei fragt, diskriminierende Dichotomien zu durchbrechen. Insgesamt schärft die Zusammenführung der verschiedenen Ansätze und Perspektiven das Bewusstsein dafür, wie wichtig die Fähigkeit zur (Selbst-)Kritik, ein reflektiertes Verhältnis zur Akademie und die Sorge für sich selbst wie auch für andere sind – auch in der Geschlechterforschung.
Fußnoten
- Eve Kosofsky Sedgwick, Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re so Paranoid, You Probably Think This Essay Is About You, in: dies. (Hg.), Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity, Durham/London 2003, S. 123–151.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart, Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Gender Universität Kapitalismus / Postkapitalismus
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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