Igor Biberman | Rezension |

Keine „Stunde Null“

Rezension zu „Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland. Geschichte und Gegenwart“ von Jannis Panagiotidis und Hans-Christian Petersen

Jannis Panagiotidis / Hans-Christian Petersen:
Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland. Geschichte und Gegenwart
Deutschland
Weinheim 2024: Beltz Juventa
238 S., 25,00 EUR
ISBN 978-3-7799-6823-8

Im[1] Frühjahr 2022 geriet der Fleischhersteller Tönnies aufgrund seiner Anwerbeversuche an der polnisch-ukrainischen Grenze in die Negativschlagzeilen. Der Schlachtbetrieb hatte kurz nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine Recruiter:innen an den polnischen EU-Grenzübergang bei Przemyśl entsandt, um geflüchtete Ukrainer:innen direkt bei der Ankunft zur Arbeit für das westfälische Unternehmen zu verpflichten. Die angebotenen Verträge sahen eine Sammelunterbringung in Werkswohnungen vor. Die Kosten dafür sollten den Angestellten vom Lohn abgezogen werden.[2] Der Fleischhersteller musste schließlich zurückrudern: Den Vorstoß habe man „zu voreilig“ gestartet, man hätte doch nur helfen wollen.[3] Tarifrechtler:innen bewerteten den Vorfall anders: Der Fleischkonzern habe die geflohenen Menschen zu eigenen Konditionen vor der Konkurrenz abgreifen wollen.[4] Da Ukrainer:innen die Aussicht auf eine Arbeitserlaubnis in Deutschland hatten, wurden sie im Niedriglohnsektor als begehrte Arbeitsressource gesehen.

Osteuropäer:innen zunächst und vor allem als „billige Arbeitskräfte“ zu betrachten, ist Teil einer rassifizierenden und kolonial geprägten Zuschreibung, die in Deutschland einer langen und ungebrochenen Wahrnehmungstradition folgt. Doch in den Diskursen über Rassismus und die postmigrantische Gesellschaft wurde dieses Problem lange Zeit kaum wahrgenommen. Das allgemeine Wissen über die Kontinuitäten von antislawischem Rassismus ist daher begrenzt, und auch wissenschaftlich werde das Thema zu selten aufgegriffen. Zu diesem Schluss kommen Jannis Panagiotidis und Hans-Christian Petersen in ihrer Monografie Antiosteuropäischer Rassismus. Geschichte und Gegenwart.

Panagiotidis ist wissenschaftlicher Direktor des Research Center for the History of Transformations (RECET) an der Universität Wien. Der Historiker Petersen arbeitet unter anderem zur russlanddeutschen Geschichte am Bundesinstitut für Geschichte und Kultur des östlichen Europas. In den letzten Jahren nahmen beide Forscher häufig an Diskussionsveranstaltungen teil, die von Aktivist:innen aus osteuropäischen Communities organisiert wurden.[5] In solchen Austauschformaten, etwa über die Online-Plattform O[s]tklick, fordern Betroffene die Sichtbarmachung und Anerkennung ihrer Erfahrungen ein. In diesem Zusammenhang entstand die Idee, die in der kollektiven Debatte aufgegriffenen Diskussionslinien in einem Buch zusammenzuführen, wobei die Autoren ursprünglich einen längeren Essay ins Auge gefasst hatten (S. 9). Daraus wurde letztlich ein prägnanter Grundlagenband, der überblicksartig neuere Forschungsergebnisse zusammenträgt und einen multiperspektivischen Zugang zum historischen und gegenwärtigen Rassismus gegen Osteuropäer:innen in Deutschland ermöglicht.

In ihrem Buch verwenden die Autoren bewusst den Begriff des „antiosteuropäischen Rassismus“, was zu Irritationen führen kann, da der Begriff auf Osteuropa als vermeintlich einheitlichen geografischen Raum fokussiert, dessen Kultur und Bevölkerung von außen mit abwertenden Kategorisierungen belegt werden. Im Gegensatz zum geläufigeren „Antislawismus“ sei dieser Terminus, so die Autoren, jedoch besser geeignet, die Vielfalt an Diskriminierungsformen gegen marginalisierte Gruppen aus Osteuropa zu erfassen, da er explizit nicht nur die Abwertung einer Bevölkerungsgruppe aufgrund biologistischer Zuschreibungen in den Blick nimmt (S. 16).

Die begriffliche Öffnung ermöglicht es, die intersektionale Verschränkung von Antislawismus mit Antisemitismus und Antiziganismus zu fassen. Exemplarisch blicken die Autoren in ihrem Werk auf historische Formen hybrider Rassismen, etwa das Konstrukt des „Ostjuden“ (S. 67) oder das des „jüdischen Bolschewismus“ (S. 96 ff.).

Panagiotidis und Petersen verfolgen in ihrem Buch zwei übergreifende Argumentationslinien. Im ersten Teil fragen sie, wie koloniale Diskurse und Praktiken die lange Verflechtungs- und Expansionsgeschichte Deutschlands im östlichen Europa prägten. Im zweiten Teil blicken die Autoren auf Ost-West-Migration aus verschiedenen Perspektiven: Zum einen beleuchten sie Migrationsdebatten innerhalb der deutschen Gesellschaft und fragen, wie diese den Umgang mit der Zuwanderung aus Osteuropa beeinflusst haben. Zum anderen wollen die Autoren den Erfahrungsrahmen der Migrant:innen selbst abbilden.

Damit tragen Panagiotidis und Petersen einem aktuellen Forschungstrend Rechnung. In den Osteuropa-Studien – deren Institutionengeschichte und fachliche Genese in gesonderten Unterabschnitten des Buches ebenfalls kritisch reflektiert wird –, werden Konzepte von Dekolonialisierung seit geraumer Zeit stärker diskutiert.

Die Autoren gehen in ihrer Studie chronologisch vor. Sie zeigen dabei, wie das östliche Europa seit der Frühaufklärung als fremd und vermeintlich rückschrittlich beschrieben wurde. Der ‚Osten' war als imaginierter Raum zwischen Orient und Okzident verortet. Die geografischen Gebiete, welche unter diese Bezeichnung fielen, konnten je nach Kontext und willkürlicher Zuschreibung variieren (S. 31). Diese Denktradition lieferte ab dem 18. Jahrhundert die Grundlage zur Rechtfertigung deutscher Vorherrschaftsansprüche.

Der „koloniale Blick“ auf den Osten Europas war dabei, wie die Autoren eindrücklich verdeutlichen, kein Nischenphänomen, sondern in allen gesellschaftlichen Schichten vertreten und breit anschlussfähig. Sehr aufschlussreich ist hierzu der Exkurs zu Debatten über den östlichen Grenzverlauf des Bundgebietes in der Pauskirchenversammlung (Kapitel 3).[6] In der deutschsprachigen Historiografie wird die Nationalversammlung von 1848/1849 gemeinhin als „Demokratiewerkstatt“ gewürdigt, ihre Abgeordneten gelten als Vorkämpfer bürgerlicher Rechte (S. 37). Allerdings unterstützten sie, wie die Autoren zeigen, fraktionsübergreifend Hegemonialfantasien, basierend auf der Annahme einer kulturellen Höherwertigkeit als Mittel zur Durchsetzung deutscher Ansprüche in (Süd-)Osteuropa (S. 46). Auch Anklänge völkischer „Boden“-Diskurse blieben unwidersprochen. Wiederholt wurde in diesem Kontext das Schreckgespenst des aufkeimenden Panslawismus beschworen.

Im Kaiserreich erfreuten sich sogenannte Ostmarkromane, in denen die „Germanisierung“ (S. 55) vermeintlich unberührter Landschaften in den östlichen Provinzen Preußens imaginiert wurde, großer Popularität. Der zeitgenössische Begriff „Ostmark“ wurde synonym für Gebiete verwendet, die Preußen im Zuge der drei Teilungen Polen-Litauens 1772, 1775 und 1795 sowie nach dem Wiener Kongress 1815 gewaltsam in seinen Herrschaftsbereich eingliedert hatte. Der Terminus knüpfte, so Panagiotidis und Petersen, an „die mittelalterliche Reichsgeschichte an und [prägte] das Bild eines seit Jahrhunderten bestehenden deutsch-polnischen Konflikts in dieser Region“ (S. 57). Zu den bekanntesten Beispielen zählt Gustav Freytags Roman Soll und Haben. Weshalb die Autoren auch Effie Briest (1895) von Theodor Fontane dem Genre zuordnen, wird der Leser:in aus der kurzen Darstellung nicht ersichtlich. Zur Popularisierung antislawischer Ressentiments trugen auch bekannte Wissenschaftler bei. So ist die antislawische Haltung in den Schriften und Reden Max Webers umfassend bekannt (S. 65 ff.). Die wissenschaftliche Reputation des Nationalökonomen verlieh den von ihm vertretenen Ansichten zusätzliche Glaubwürdigkeit. Derlei Ressentiments schlugen sich im Kaiserreich ab den 1880er-Jahren zunehmend in realpolitischen Maßnahmen nieder, die auf Marginalisierung und räumliche Verdrängung der ansässigen Bevölkerung in den preußischen Teilungsgebieten Polens zielten. Beispielsweise wurde mit der „Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen“ 1886 eine Institution geschaffen, um polnischen Adeligen Landgüter abzukaufen, die anschließend deutschen Bauern zugeteilt wurden (S. 68 f.). Ob man übergreifend von einer „kolonialen Praxis“ sprechen könne, sei in der Forschung, wie die Autoren mit Verweis auf Sebastian Conrad, Agnieszka Pufelska, Felix Ackermann und andere zeigen, nicht abschließend geklärt. Der grundlegende Unterschied zu deutschen Überseekolonien sei etwa, dass der ansässigen polnischen Bevölkerung in Ostpreußen ebenso wie polnischen Arbeitsmigrant:innen in Ruhrgebiet seit der Reichsgründung 1871 die Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde (S. 60 f.).

Der koloniale Blick auf Osteuropa hatte in Deutschland, wie die Autoren im ersten Drittel ihres Buches nachweisen, eine lange Vorgeschichte. Die Kulmination dieser prozesshaften Entwicklung sehen Panagiotidis und Petersen mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs erreicht (Kapitel 6). Die Eroberung vom „Lebensraum im Osten“ sollte nach den Plänen der NS-Führung durch eine verbrecherische Kriegsdoktrin umgesetzt werden. Dieser „Generalplan Ost“, so die Autoren, „kombinierte Elemente von Ausbeutungskolonialismus und Siedlungskolonialismus: Osteuropa und speziell die Schwarzerdegebiete der Sowjetunion sollten das Deutsche Reich mit Nahrung und Rohstoffen versorgen und gleichzeitig der Ort deutscher Pioniersiedlungen werden“ (S. 95). Der einheimischen Bevölkerung war das Schicksal der Zwangsumsiedlung, Versklavung, Ermordung zugedacht.

Panagiotidis und Petersen berufen sich in ihrer Darstellung auf Dieter Pohls Monografie aus dem Jahr 2007 als wichtige Grundlagenarbeit zum deutschen Vernichtungskrieg in der UdSSR.[7] In Anlehnung an Pohl schreiben die Autoren über deutsche Versorgungspläne, in denen Hungersnöte in den Besatzungsgebieten strategisch einkalkuliert wurden: „Während für die Ukraine und das Baltikum noch eine Grundversorgung bestehen bleiben sollte, waren die ,Großrussen‘, also die ethnischen Russen vor allem in der Mitte und im Norden der Russischen Föderation völlig von der Versorgung abzuriegeln, insbesondere die Einwohner von Großstädten.“ (S. 102)

Dieter Pohl geht in seinem Buch davon aus, dass die Großstädte auch deshalb ins Visier der deutschen Vernichtungsstrategien gerieten, weil dort die „ethnisch russische Bevölkerung“ dominierte.[8] Diese ethnische Zuschreibung liest sich irritierend, waren doch, wie sowohl Pohl[9] als auch Panagiotidis und Petersen festhalten, neben dem eingekreisten Leningrad vor allem die ukrainische Stadt Charkiv, die Donbas-Region und die Krim vom systematisch herbeigeführten Hungersterben betroffen (ebd.). Pohls Monografie ist viele Jahre vor dem Beginn des russischen Krieges im Donbas 2014 entstanden. Um seine Kriegsziele zu legitimieren, führte Russland von Beginn an die Behauptung ins Feld, die ‚mehrheitlich russischsprachige‘ Bevölkerung in der Ostukraine würde kulturell wie ethnisch der „russischen Welt“ angehören. Seitdem hat sich die Osteuropaforschung tiefgehend mit kolonialen Narrativen Russlands befasst. Dennoch dominiert in der deutschen Öffentlichkeit die Deutung, dass Russland der „Hauptlasttragende“ des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion gewesen sei. Die Geschichten der Ukrainer:innen, Belaruss:innen sowie vieler anderer werden häufig ausgeblendet. Vor diesem Hintergrund hätte sich die Leser:in an dieser Stelle des Buches eine stärkere Einordnung, auch im Hinblick auf einen möglichen Reflexionsbedarf in der zitierten Forschung, gewünscht.[10]

Sehr prägnant zeigen Panagiotidis und Petersen in ihrer Darstellung, wie mit dem intersektionalen Feindbild des „jüdischen Bolschewisten“ eine Rechtfertigungsgrundlage für die willkürliche und systematische Ermordung der Zivilbevölkerung geschaffen wurde. Wahlweise behielten es sich die NS-Ideologen aber auch vor, Slawinnen und Slawen in der „Rassenhierarchie“ gegenüber Jüdinnen und Juden heraufzustufen, wenn es konkreten Zielen, etwa ihrem Einsatz als „rassisch unerwünschte Arbeitskräfteressource“ entsprach (S. 106). Um die flächendeckende Feindseligkeit und die Diskriminierung herauszuarbeiten, mit der Millionen verschleppter Zwangsarbeiter:innen in NS-Deutschland alltäglich konfrontiert waren, stützen sich die Autoren unter anderem auf die 1995 erschienene Studie von Ulrich Herbert.[11]

Die Niederlage der Wehrmacht brachte den Vernichtungskrieg in Osteuropa zum Erliegen. Nicht einfach beizulegen war, so Panagiotidis und Petersen, „antiosteuropäischer und antislawischer Rassismus, [der] in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet [war], als kollektives Feindbild und als millionenfache, mörderische Praxis an der ,Ostfront‘. Es spricht nichts dafür, dass diese Linien 1945 abrupt endeten.“ (S. 117)

Während fraglich bleibt, ob die direkte Begegnung auch zu einem Abbau von Vorurteilen in der deutschen Bevölkerung beigetragen haben könnte (vgl. S. 110), haben die Erfahrungen der Deutschen mit Zwangsarbeiter:innen indirekt auch den Umgang mit Arbeitsmigration nach 1945 geprägt.

Die Nachkriegsordnung brachte zuerst große Migrationsbewegungen, dann aber massive Einschränkungen der globalen Migration mit sich. Wie die Autoren mit Verweis auf Tara Zahara darlegen, erfolgten große Zuwanderungsbewegungen im langen 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit von Ost- nach Westeuropa und Nordamerika. Durch Schließung des Eisernen Vorhangs wurde die Ost-West-Migration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts größtenteils blockiert, wobei sich in der Folge die Bedeutung der Süd-Nord-Migration zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs in Westeuropa erhöhte (S. 136 ff.). Der Mauerfall und der absehbare Kollaps der Sowjetunion – verbunden mit der Einreise einer großen Zahl an Aussiedler:innen und Kontingentflüchtlingen – beflügelten ab 1989 erneut die aufkeimende Angstdebatte über eine bevorstehende Welle der Armutsmigration. Gelabelt wurde die Drohkulisse dabei als „Völkerwanderung aus dem Osten“ (S. 149 ff.).

Strukturell setzte sich dieser Diskurs in der protektionistischen Haltung der deutschen Politik, der Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft hinsichtlich der EU-Osterweiterung im Jahr 2004 und der damit verbundenen Ausweitung des Schengenraumes fort. Neoliberale Reformprozesse, wie Marktliberalisierung und Privatisierung, waren für postsozialistische Gesellschaften eine wesentliche Voraussetzung, um die wirtschaftlichen Beitrittskriterien der EU zu erfüllen. Sie führten zu sinkenden Löhnen und steigender Arbeitslosigkeit in den Transformationsgesellschaften und somit zu einem „Migrationsdruck“ (S. 162). Je weiter die Beitrittsverhandlungen voranschritten, desto lauter wurden in Deutschland angsterfüllte Stimmen, die vor „billiger“ Konkurrenz durch Osteuropäer:innen auf dem Arbeitsmarkt warnten und Migrationsbeschränkungen einforderten. In Brüssel wurde diese Position von der SPD-geführten Bundesregierung vertreten. Bundeskanzler Gerhard Schröder trat entschieden für Regularien ein, die es bestehenden Mitgliedsstaaten ermöglichen würden, den Zugang zu sozialversicherungspflichtigen Arbeitsstellen für Bürger:innen der Beitrittsländer einzuschränken. Saisonarbeiter:innen als tragende Stütze der deutschen Landwirtschaft sollten davon ausgenommen bleiben. In der Beschlussfassung wurde schließlich ein Übergangszeitraum von bis zu sieben Jahren vereinbart, in dem EU-Staaten entsprechende Zuwanderungssperren in Kraft setzen konnten (S. 159). Im vorletzten Kapitel des Buches setzen sich Panagiotidis und Petersen mit der Arbeitsmarkteinbindung von Arbeitnehmer:innen aus dem östlichen EU-Raum nach der Aufhebung der Mobilitätsbegrenzung im Jahr 2011 auseinander. Anhand einschlägiger Studien führen Sie aus, dass osteuropäische EU-Bürger:innen in Deutschland überproportional häufig im Niedriglohnsektor – oft unterhalb ihrer Qualifikation – beschäftigt und unter erhöhtem Risiko der Arbeitsausbeutung in Leih- oder Zeitarbeitsverträge eingebunden sind. Spezifische Branchen wie Pflege, Lebensmittelproduktion und Sexarbeit werden von den Autoren in einzelnen Abschnitten betrachtet.

Panagiotidis und Petersen arbeiten in ihrem Werk mit einer breiten Quellenbasis. In allen Kapiteln ziehen sie vielfältige literarische und journalistische Texte heran und bieten aufschlussreiche Analyseansätze für das reichhaltig abgedruckte Bildmaterial an. Um nachwirkende Fremdheitszuschreibungen offenzulegen, zitieren sie unter anderem Reiseberichte aus dem 16. und 17. Jahrhundert, Schriften Immanuel Kants, Johann Gottfried Herders, Johann Georg Forsters oder Georg Wilhelm Friedrich Hegels (Kapitel 2); sie analysieren Redeprotokolle der Frankfurter Nationalversammlung (Kapitel 3) und Ostmarkenromane aus dem Deutschen Kaiserreich (Kapitel 4). Die Erfahrungen der Opfer von NS-Zwangsarbeit werten sie anhand von Zeitzeugeninterviews aus (Kapitel 6). In Kapitel 7 verdeutlichen die Autoren am Beispiel von Wahlplakaten der CDU und NPD, wie panikheischende Darstellungen eines im Osten lauernden Kommunismus die politische Ikonografie der Bundesrepublik und damit alltägliche Sichtgewohnheiten prägten. Anhand von Artikeln aus dem Spiegel, die zwischen 1948 und 1989 erschienen sind, zeichnen Panagiotidis und Petersen wechselnde Stimmungen gegenüber Arbeits- und Fluchtmigration aus den Ländern des „Ostblocks“ nach (Kapitel 8). Sehr anschaulich gelingt es dem Autorenduo in Kapitel 9, abwertende und diskriminierende Rhetorik in Online-Werbetexten von Leiharbeitsfirmen und auf Osteuropa spezialisierten Vermittlungsagenturen aufzuschlüsseln (S. 167 ff.).

Im letzten Kapitel stehen autobiografische Romane von Migrant:innen der zweiten Generation im Fokus. Für ihre übergreifende Narrationsanalyse haben Panagiotidis und Petersen exemplarisch zehn Bücher ausgewählt, die allesamt in den letzten sieben Jahren erschienen sind, darunter Wer wir sind von Lena Gorelik (2021) und Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters von Dmitrij Kapitelman (2018). Die Verfasser:innen dieser autobiografischen Romane beschreiben, wie sie die Ankunft in Deutschland, die Erfahrungen von Anderssein und Ausgrenzung, Anpassung und Unsichtbarkeit durchlebt haben – aber auch ihre persönlichen Wege, eine Sprache zu finden, die es ihnen ermöglichte, das Erlebte in Worte zu fassen und zu reflektieren. Panagiotidis und Petersen führen die unterschiedlichen Narrationsstränge zusammen. Sie kommen dabei zu dem Schluss, dass Rassismus als Analysebegriff für viele der hier geschilderten Erfahrungen tragfähig sei.

Mit ihrem Buch stellen die Autoren der Fachöffentlichkeit – und nicht nur der – eine kompakte Bestandsaufnahme zu ihrem Forschungsfeld zur Verfügung. Der ausführliche Literaturapparat ist äußerst hilfreich, will man einen fundierten Überblick über die bestehenden Arbeiten zu kolonialen Diskursen und Praktiken in Bezug auf Osteuropa sowie deren Fortwirken bis in die Gegenwart erhalten. Ebenso heben die Autoren Forschungsdesiderate, etwa im Bereich aktueller empirischer Forschung, hervor. Am Ende ihres Buches formulieren Panagiotidis und Petersen daher auch kein Nachwort, sondern einen Ausblick und ein Plädoyer: Die Erforschung des antiosteuropäischen Rassismus sowie die öffentliche Debatte darüber stehen erst am Anfang und müssen fortgeführt werden. Das Buch bietet dafür eine solide Grundlage.

  1. Eine kürzere Fassung dieser Rezension erschien am 26.11.2024 bei H-Soz-Kult, (redaktionell betreut von Jan-Holger Kirsch).
  2. Robert Bongen / Sebastian Friedrich, Nutzt Tönnies die Not der Flüchtlinge aus?, in: ARD.de, 30. März 2022 [4. Oktober 2024]; Eiken Bruhn, Tönnies wirbt ukrainische Geflüchtete an. Aus der Not Profit schlagen, in: taz, 31. März 2022, [4. Oktober 2024].
  3. Christoph Höland, „Sorry, zu voreilig“: Tönnies stoppt Anwerbung ukrainischer Geflüchteten, in Redaktionsnetzwerk Deutschland, 31. März 2022 [4. Oktober 2024].
  4. Ebd.
  5. Vgl. Zoom-Talk: Antislawismus – mit Prof. Dr. Jannis Panagiotidis & Prof. Dr. Hans-Christian Petersen, in: O[s]tklick, 17. Januar 2024,[4. Oktober 2024]
  6. Das Kapitel 3 „Die Paulskirche und der Osten“ ist zuvor in abgewandelter Form als Aufsatz erschienen in: Hans-Christian Petersen, Deutsche Antworten auf die „Slawische Frage“. Das östliche Europa als kolonialer Raum in den Debatten der Frankfurter Paulskirche, in: Michael Fahlbusch / Ingo Haar / Anja Lobenstein-Reichmann / Julien Reitzenstein (Hg.), Völkische Wissenschaften: Ursprünge, Ideologien und Nachwirkungen, Berlin 2020, S. 54–79.
  7. Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2007.
  8. Ebd., S. 183.
  9. Ebd., S. 188.
  10. Nach der Veröffentlichung erschienen und daher nicht mehr von Panagiotidis und Petersen berücksichtigt werden konnte die thematisch einschlägige, aktuelle Monografie von Tatjana Tönsmeyer (dies., Unter deutscher Besatzung. Europa 1939–1945, München 2024).
  11. Ulrich Herbert, Arbeit, Volkstum, Weltanschauung: Über Fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1995.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky, Jan-Holger Kirsch.

Kategorien: Geschichte Kolonialismus / Postkolonialismus Migration / Flucht / Integration Rassismus / Diskriminierung

Igor Biberman

Igor Biberman ist Historiker. Er arbeitet als Volontär in der Redaktion der Zeitschrift Mittelweg 36 und des Internetportals Soziopolis am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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