Lea Elsässer, Linus Westheuser, Jens Bisky | Interview | 05.12.2024
Leute ohne akademischen Hintergrund sitzen kaum noch mit am Tisch
Ein Gespräch mit Lea Elsässer und Linus Westheuser über politische Ungleichheit und die soziale Krise des Parteiensystems
Die AfD habe sich als „Arbeiterpartei“ etabliert, hieß es in ersten Analysen nach den Landtagswahlen im vergangenen Herbst in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Diese Partei sei ein „Feind der Beschäftigten“ warnt unterdessen der Deutsche Gewerkschaftsbund. Derlei Zuschreibungen werden zu Argumenten im Wahlkampf, oft wiederholt, gern geglaubt. Man kann darauf wetten, dass sie auch nach der bevorstehenden Bundestagswahl im Februar 2025 zur Deutung der Ergebnisse herangezogen werden. Wie aber hängen Verteilungskonflikte, die Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten und der eigenen sozialen Position tatsächlich mit dem Wahlverhalten zusammen? Welche Rolle spielt so etwas wie Klassenbewusstsein? Über die soziale Krise des Parteiensystems haben wir mit der Politikwissenschaftlerin Lea Elsässer und dem Soziologen Linus Westheuser gesprochen.
Herr Westheuser, Sie sprachen jüngst in einem Artikel von einer „sozialen Krise des Parteiensystems“. Über eine Krise des Parteiensystems wird so lange schon gesprochen, wie ich zurückdenken kann. Auch die Erosion der Volksparteien wird seit Jahrzehnten beklagt. Wie sieht es gegenwärtig aus? Ist die Gründung etwa des BSW ein Krisensymptom oder vielmehr ein Zeichen von Vitalität?
Linus Westheuser: Die Krise des Parteiensystems ist natürlich älter, aber gegenwärtig mehren sich spürbar die morbiden Symptome. Im Inneren des Parteiensystems kommt es zu einer Fragmentierung und zum Auftreten neuer „challengers“, also anti-systemischer Herausforderer-Parteien wie der AfD. Nach außen erodiert zugleich die Fähigkeit der Parteien, Bürger:innen an sich zu binden und als Vermittlerinnen zwischen Staat und Gesellschaft zu fungieren. Eine neue, hitzige Form der Politisierung und eine schleichende Entpolitisierung breiter Bevölkerungsteile gehen so auf eigentümliche Weise Hand in Hand. Von einer sozialen Krise kann man sprechen, weil beide Prozesse gesellschaftlich ungleich ablaufen. Man sah das beispielsweise daran, dass bei der Europawahl 2024 die Volks- und Regierungsparteien besonders geringe Zustimmung unter jenen Leuten fanden, die sich selber als „Arbeiter:innen“ einordneten oder angaben, einen niedrigen Lebensstandard zu haben. Während die Volksparteien in der Gesamtbevölkerung knapp die Hälfte der Stimmen auf sich vereinen konnten, waren es unter Arbeiter:innen und Geringverdiener:innen nur 30 Prozent. Die Ampelparteien erreichten in diesen Gruppen nur 20 Prozent der Stimmen, deutlich weniger als die AfD, die in beiden Gruppen reüssierte. Der rechte Rand erstarkt also, während das Zentrum des Parteiensystems geschwächt wird. Zugleich sehen wir eine Erosion der Parteibindungen und des Vertrauens in politische Institutionen. All diese Prozesse sind in der unteren Hälfte der sozialen Hierarchie, speziell in der Arbeiterklasse, besonders ausgeprägt. Hier ist die Abkehr vom politischen System am weitesten fortgeschritten, und hier sind auch Herausforderer-Parteien wie AfD oder BSW am stärksten.
Lea Elsässer: Schaut man nur darauf, mit wie viel Prozent Parteien bei Wahlen abgeschnitten haben, wird oft nicht bedacht, wer überhaupt daran teilgenommen hat – wer also überhaupt noch am politischen Prozess partizipiert. Die Verschiebung der Wählerstimmen lässt sich nicht vernünftig analysieren, ohne die Nicht-Wähler:innen mit einzubeziehen. In vielen Ländern steigt deren Zahl. Immer mehr Leute gehen gar nicht mehr zur Wahl – und das ist besonders in den unteren Klassen und Einkommensgruppen ausgeprägt. Daher geht die Schere in der politischen Partizipation insgesamt auseinander. Fragen wir Leute, wie gut sie sich repräsentiert fühlen, können wir diese soziale Kluft deutlich erkennen. Die ökonomisch Schlechtergestellten fühlen sich auch politisch schlecht oder gar nicht repräsentiert. Die Ausdifferenzierung des Parteiensystems geht mit dem Rückzug vieler aus dem politischen System einher, gerade in den weniger privilegierten Gruppen.
Schaffen es nicht gerade die Anti-System-Parteien, Leute, die sich vorher – aus welchen Gründen auch immer – zurückgezogen haben, wieder politisch zu mobilisieren und wieder zur Wahlteilnahme zu bewegen?
Lea Elsässer: Das ist eines der verkürzten, oft gehörten Narrative. Aber es stimmt so nicht. Bei einigen Wahlen ließ sich beobachten, dass radikal rechte Parteien frühere Nicht-Wähler:innen mobilisiert haben, bei anderen Wahlen nicht. Feststellen können wir, dass eine Polarisierung von Wahlkämpfen – also wenn die Menschen das Gefühl haben, es gehe bei einer Wahl um ganz viel – die Wahlteilnahme insgesamt erhöht. Davon profitieren jedoch unterschiedliche Parteien. Bei der letzten Bundestagswahl hat nicht die AfD besonders viele Nicht-Wähler:innen mobilisieren können, sondern die SPD. In dem verkürzten Argument, Anti-System-Parteien profitierten in besonderem Maße von der Mobilisierung von Nichtwähler:innen, liegt auch eine große Gefahr – zumindest dann, wenn man daraus die Schlussfolgerung zieht: besser sie wählen gar nicht, als sie wählen rechts. Damit entlässt man Gesellschaft und Politik aus der Verantwortung, genau nachzufragen, warum sich diese Leute vom politischen Betrieb abgewendet haben.
Linus Westheuser: Zu fragen wäre auch, als was diese Wähler:innen mobilisiert werden. Klassischerweise sind demokratische Rechte ja nicht nur dazu da, alle paar Jahre mal Dampf abzulassen. Stattdessen sollen sie weniger privilegierten Gruppen eine Form organisierter Macht verschaffen, die sie aufgrund ihrer ökonomischen Position nicht hätten, und damit ein Korrektiv für die Ungleichheit bilden, die dem Kapitalismus inhärent ist. Genau diese Form der Macht bilden rechtsradikale Parteien aber nicht aus. Sie mobilisieren die Leute über ihre Ressentiments und über horizontale Anspruchskonkurrenzen zwischen Gruppen. Aber sie konstituieren die Benachteiligten nicht zu einer Gruppe, die imstande wäre, ihre eigenen Interessen durchzusetzen.
Das Epizentrum der gegenwärtigen Krise des Parteiensystems liege in der Arbeiterklasse, haben Sie, Herr Westheuser, gesagt; Frau Elsässer hat gerade darauf hingewiesen, dass in erster Linie die unten sich abwenden. Warum? Wer nur stark beschränkte ökonomische Macht hat, sollte doch bestrebt sein, seine politische Macht einzusetzen.
Linus Westheuser: Da wirkt eine Reihe von Ausschlussmechanismen, die keineswegs neu sind. Bourdieu hat das schon in den späten 1970er-Jahren beschrieben, in einem Kapitel von Die feinen Unterschiede, das erstaunlich wenig Beachtung gefunden hat. Bourdieu spricht darin von politischer competence in einem doppelten Sinne: einerseits einer Fähigkeit, im Sinne etwa von Wissen und einer Beflissenheit im Umgang mit politischen Fragen, andererseits aber auch im Sinne einer Autorisierung zum politischen Sprechen, die man seitens der Gesellschaft erfährt. Die Befähigung zum Bilden einer politischen Meinung ist sozial sehr ungleich verteilt. Für die USA haben Yanna Krupnikov und John Barry Ryan das vor zwei Jahren in dem Buch The Other Divide. Polarization and Disengagement in American Politics gezeigt. Darin geht es nicht um die Unterscheidung zwischen Demokrat:innen und Republikaner:innen, sondern um die Spaltung zwischen denen, die überhaupt eine Meinung haben, und denen, die keine haben. Selbst in sehr stark polarisierten Gesellschaften und politisierten Systemen gibt es immer einen großen Teil der Bevölkerung, der sich vollkommen außerhalb der Politik befindet. Das war auch eine Kerneinsicht unserer Forschung zu den „Triggerpunkten“.
Die Frage, ob Menschen eine Meinung haben oder nicht, wird heute oft etwas verkürzt unter dem Stichwort des politischen Wissens oder „sophistication“ diskutiert. Wissen die Leute, was im politischen System verhandelt wird? Und haben sie die kognitiven Mittel, sich im politischen Raum zu positionieren? Diese Prozesse haben zweifellos eine kognitive Seite. Man könnte sie aber auch ganz klassisch als Formen von Herrschaft beschreiben, als soziale „Selektivität politischer Institutionen“ wie Claus Offe es nannte. Die Frage ist, ob Menschen von der Gesellschaft nicht nur theoretisch, sondern auch real mit den Mitteln ausgestattet werden, um in die Regierung des Gemeinwesens einzugreifen. Dass das in den real existierenden Demokratien nicht der Fall ist, wird einem sehr schnell klar, wenn man Leute zu politischen Fragen interviewt. Je niedriger jemand in der sozialen Hierarchie verortet ist, desto häufiger lautet die Antwort: „Fragen Sie mich nicht zu Politik, da bin ich nicht die Richtige. Ich habe keine Ahnung von Politik. Da müssen Sie zu den Leuten gehen, die das studiert haben.“
Je niedriger jemand in der sozialen Hierarchie verortet ist, desto häufiger lautet die Antwort: „Fragen Sie mich nicht zu Politik, da bin ich nicht die Richtige. Ich habe keine Ahnung von Politik. Da müssen Sie zu den Leuten gehen, die das studiert haben.“
Diese Form des politischen Ausschlusses und Selbstausschlusses ist historisch der Normalfall. Um dagegen anzuarbeiten gab es in der Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie, aber auch im Feminismus und anderen Bewegungen immer den Versuch, durch Bildung, Selbstermächtigung und eine Ausbildung alternativer politischer Habitusformen den Ausschluss zu überwinden. Zurzeit gibt es aber kaum Instanzen, die so etwas tun. Arbeiter:innen und andere beherrschte Gruppen haben kaum Organisationen, die imstande sind, diesen Kampf gegen den politischen Ausschluss zu führen. Und politische Bildungsangebote werden nur von etwa einem Prozent der Bevölkerung wahrgenommen, das zu allermeist ohnehin schon zu den Höhergebildeten gehört. Auch deswegen erscheint die Politik wieder als ein von den Höhergestellten monopolisierter Bereich. Man selbst fühlt sich außen vor, kann höchstens vom Rand des Spielfelds meckern, aber letztlich interessiert es die Leute, die entscheiden, eh nicht.
Lea Elsässer: Dazu will ich zwei Punkte ergänzen. Zum einen ist das Gefühl des politischen Ausschlusses, des weniger Repräsentiert-Werdens nicht nur ein Gefühl. Ich habe in meiner Forschung für den Zeitraum der letzten dreißig Jahre hinweg systematisch untersucht, wessen Anliegen in Deutschland vom Bundestag behandelt und umgesetzt werden. Dazu habe ich mehr als 800 repräsentative Umfragen zu politischen Themen und Reformen ausgewertet, die in diesem Zeitraum in Deutschland diskutiert wurden. Beispielsweise Fragen zur Zustimmung zur Einführung des Mindestlohns, der Kürzung von Renten oder auch der gleichgeschlechtlichen Ehe. Für jede dieser Fragen habe ich zudem erhoben, welche Reformvorschläge umgesetzt wurden. Dabei lässt sich klar eine systematische Verzerrung erkennen, und zwar zu Lasten der Anliegen von denen, die ökonomisch schlechter gestellt sind. Deren Anliegen finden deutlich seltener Gehör – insbesondere dann, wenn ihre Anliegen von denen der Bessergestellten abweichen.
Zum zweiten ist über den Zeitraum der letzten drei, vier Jahrzehnte eine deutliche Verschärfung des sozialen Ausschlusses beim politischen Engagement zu beobachten, und zwar nicht nur bei der Wahlteilnahme. Wenn man sich anschaut, wer sich in Parteien oder sozialen Bewegungen engagiert, also dort, wo man im kleineren oder größeren Maßstab politische Selbstwirksamkeit erfährt, oder wer im Parlament repräsentiert ist, sieht man eine große Verschiebung: Menschen aus nicht-akademischen Berufen engagieren sich immer weniger und werden immer seltener Abgeordnete. Das war vor dreißig oder vierzig Jahren noch anders und hat bedeutende Folgen: Dort, wo politische Themen gesetzt, Vorschläge erarbeitet und politische Entscheidungen diskutiert werden, sitzt kaum noch jemand ohne akademischen Hintergrund mit am Tisch. Das ist ein sehr konkreter Ausschluss, der verzerrte Entscheidungen begünstigt, weil wichtige politische Perspektiven fehlen. Das ist ein wesentlicher Aspekt der Krise des Parteiensystems, der Aspekt mangelnder sozialer Vielfalt.
Obwohl ständig das Gegenteil beschworen wird, sind die politischen Eliten heute von der sozialen Wirklichkeit stärker entkoppelt und auch weniger an spezifische soziale Gruppen jenseits ihrer professionellen Kreise gebunden.
Linus Westheuser: Man kann das als einen wechselseitigen Prozess begreifen. Es gibt in der Bevölkerung, vor allem in der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht, diese schon erwähnte affektive Distanzierung, nach dem Motto: „Mit Politik habe ich nichts zu tun. Das ist nichts für mich.“ Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine Distanzierung vonseiten der politischen Eliten. Obwohl ständig das Gegenteil beschworen wird, sind die politischen Eliten heute von der sozialen Wirklichkeit stärker entkoppelt und auch weniger an spezifische soziale Gruppen jenseits ihrer professionellen Kreise gebunden. Sie müssen nicht mehr antizipieren, was bestimmte Milieus zu einzelnen Fragen denken, sondern lernen die Meinungen der Bevölkerung eher über Fokusgruppen oder Umfragen kennen. In erster Linie operieren sie im Binnenraum des Funktionssystems Politik. Sie stehen daher Politiker:innen anderer Parteien oft näher als den Wähler:innen, die sie – theoretisch – vertreten sollten. Peter Mair hat in seinem Buch Ruling the Void beschrieben, wie es dadurch zu einer Annäherung der politischen Akteure und einer programmatischen Entleerung der Parteien kommt. Weil sie alle in derselben sozialen Sphäre agieren, denselben Diskursraum bewohnen, ob es sich nun um konservative oder um linke Politiker:innen handelt.
Lea Elsässer: Ja, genau dieser Trend spiegelt sich auch in den Karriereverläufen vieler Abgeordneter. Parallel zu der Entwicklung, das untere soziale Klassen in Parteien und dann entsprechend in den Parteieliten immer weniger präsent sind, gibt es gleichzeitig immer mehr Abgeordnete, die ihr gesamtes Leben nah am politischen Betrieb verbracht haben und auch vor ihrem Eintritt ins Parlament kaum mal einen anderen Beruf in einem politikfernen Bereich ausgeübt haben. Um dieses Phänomen zu erfassen, haben wir untersucht, wie viele Abgeordnete im deutschen Bundestag höchstens fünf Jahre Berufserfahrung außerhalb von politiknahen Berufen haben, bevor sie zum ersten Mal ins Parlament gewählt werden. Anfang der 1970er-Jahren waren das 20 Prozent, heute ist es mehr als jeder Dritte. Dieses Symptom ist ganz besonders ausgeprägt in Mitte-Links-Parteien. In der Grünen-Fraktion haben sie mehr als sechzig Prozent dieses Typus von Parlamentarier:innen, immer mitten in der politischen Bubble. Selbst bei der SPD sind das mittlerweile vierzig Prozent. Das verschärft den Trend, diese Parteien immer stärker als abgekoppelt wahrzunehmen. Leute, die aus nicht-akademischen Berufen kommen, sehen, dass es in der Politik immer weniger ihresgleichen gibt. Gleichzeitig haben Abgeordnete mit diesen Karriereverläufen weniger Berufsalternativen außerhalb des politischen Betriebs.
Man muss fragen, welche Folgen das für die Inhalte der Politik hat. Wir stehen vor großen Herausforderungen, für die es noch keine eingespielten Parteipositionen, keine vertrauten Konfliktlinien gibt. Das gilt für den Klimawandel, das galt aber auch in der Covid-Pandemie, als plötzlich wichtige Entscheidungen getroffen und Positionen zu völlig neuartigen Problemen formuliert werden mussten. Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass Leute, die Entscheidungen treffen, in solchen Momenten besonders stark auf ihre persönlichen Hintergründe und Erfahrungen rekurrieren. Worauf auch sonst? In solchen Momenten ist es besonders schlecht, wenn die Perspektivvielfalt der Gesellschaft fehlt. Ob es um den Klimawandel oder den Umgang mit Digitalisierung geht: Wir stehen bei vielen Themen vor riesigen Verteilungsfragen, es wird in den kommenden Jahrzehnten stark um die Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen gehen. Wir wissen bereits jetzt, dass diejenigen, die weniger privilegiert sind, von diesen Entscheidungen stärker betroffen sein werden. Dennoch haben wir ein politisches System, in dem diese Leute kaum noch mit am Tisch sitzen, wenn über die Zukunft entschieden wird. Das birgt die Gefahr, dass wir zu Entscheidungen kommen, die von einer großen Zahl an Menschen nicht als legitim angesehen werden.
Ist es das, was Sie „politische Ungleichheit“ nennen?
Lea Elsässer: Politische Ungleichheit hat viele Aspekte. Eine minimale liberale Definition von Gleichheit in der Demokratie geht vom gleichen Recht aller Menschen aus, zu wählen und sich wählen zu lassen. Gehen wir darüber hinaus und nehmen an, zur Demokratie gehöre auch, dass alle Menschen die gleiche Chance haben, politische Entscheidungen zu beeinflussen, müssen wir fragen: Wer partizipiert in der Realität tatsächlich? Und wessen Anliegen werden repräsentiert? Und über welche Kanäle funktioniert das? Damit sind wichtige Aspekte politischer Ungleichheit angesprochen. Die tatsächliche Partizipation und das politische Engagement sind in der Wirklichkeit zunehmend ungleich. Nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Staaten und in den USA beobachten wir die bereits angesprochene Verzerrung in den Entscheidungen – die Anliegen derer mit weniger Ressourcen werden seltener berücksichtigt. Zudem existiert Ungleichheit in den Repräsentationsorganen selbst, in den Parteien wie in den Parlamenten.
Nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Staaten und in den USA beobachten wir die bereits angesprochene Verzerrung in den Entscheidungen – die Anliegen derer mit weniger Ressourcen werden seltener berücksichtigt.
Linus Westheuser: Politische Ungleichheit ist auch auf der Ebene von Machtbalancen zu beobachten, wo es darum geht, welche Interessensblöcke in der Gesellschaft welche Macht innehaben. Hier passt das Stichwort der „demobilisierten Klassengesellschaft“ von Klaus Dörre. Der Interessensblock der Beschäftigten, der Arbeiter:innen, aber auch der Armen, befindet sich wie auch die linken Parteien in einem historischen Moment der Schwäche. Das sieht auf der Seite der Kapitalinteressen anders aus, wo nicht elektorale Macht, sondern vor allem quiet power eine Rolle spielt. Die besteht etwa darin, dass bestimmte Forderungen erst gar nicht erhoben werden müssen, weil sie wie selbstverständlich Berücksichtigung finden, etwa die Profitabilität bestimmter Industriezweige. In Interviews mit Bürger:innen kann man die Übermacht der Kapitalseite in Form einer Naturalisierung der Macht der Reichen und Konzerninteressen beobachten. Zwar kritisieren die meisten Menschen sehr vehement gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, dennoch herrscht bei den meisten das Gefühl vor, man könne da letztlich sowieso nichts machen. Dass die Reichen den Rahm abschöpfen, war schon immer so. Was man höchstens ändern kann, ist, dass die „faulen Bürgergeldempfänger“ oder die Migrant:innen vom Staat nicht noch mehr zugesteckt bekommen. Auch das scheint mir ein Symptom politischer Ungleichheit. Die eine Seite des Interessenskonflikts hat es verstanden, ihre Position so hegemonial zu machen, dass sie als selbstverständlich und unangreifbar wahrgenommen wird.
Lea Elsässer: Die andere Seite, die historisch aus linken Parteien und Gewerkschaften bestanden hat, ermöglichte Menschen Erfahrungen von politischer Selbstwirksamkeit, bot eine Deutung des Konfliktes an. Das geht aufgrund der Schwäche dieser Organisationen vielfach verloren.
Auch in den Mittelschichten ist das Gefühl verbreitet, nicht repräsentiert, nicht gehört zu werden. Viele glauben, sie würden zwischen denen unten und denen oben zerrieben. Ist das ein Irrtum? Oder ist da was dran?
Linus Westheuser: In dieser Symmetrie ist das eine Legende. Es ist ja nicht so, dass eine mächtige Lobby der Bürgergeldempfänger:innen der Mittelschicht das Leben schwer machen würde. Ebenso ist es eine diskursive Verzerrung, wenn der Eindruck erweckt wird, es würde bei Fragen des Sozialbetrugs auch nur ansatzweise um ähnliche Summen gehen, wie in Fragen der Steuervermeidung oder der Vermögensbesteuerung. Aber natürlich finden wir das Gefühl der Nichtrepräsentation nicht nur unten, sondern genauso in der Mitte der Gesellschaft. Auch die Arbeiterklasse besteht ja bei weitem nicht nur aus armen Menschen. In Interviews, die Linda Beck und ich ausgewertet haben, fanden wir heraus, dass der Eindruck sehr weit verbreitet ist, Politik sei eine verschlossene Sphäre, und Politiker:innen seien Teil der Oberschicht – und würden daher Politik in deren Interesse machen. Ein Bauarbeiter, den wir befragt haben, sagte: „Politiker machen sich höchstens mal die Hände dreckig, wenn sie in ihrem Garten Biomöhren anbauen.“ Ein Trend, der dieses Gefühl bestätigt, ist, wenn in der Politik Expertise eine immer größere Rolle spielt und viele Entscheidungen unter Policy-Eliten getroffen werden, die ein Wissen mobilisieren, das vielen, auch Angehörigen der Mittelschicht, nicht zugänglich ist. Wo immer Politik diese Form annimmt, ist nur noch eine sehr kleine Zahl der wirklich Engagierten dabei, für die die Politik zur eigenen Identität gehört.
Lea Elsässer: Man sollte mit den Definitionen und den Selbstbeschreibungen aufpassen. Wenn wir über Arbeiter:innen und die Arbeiterklasse sprechen, orientieren wir uns an neueren soziologischen Klassenschemata, die nicht allein den männlichen Industriearbeiter vor Augen haben. Arbeiter:innen sind Menschen, die in nichtakademischen Berufen arbeiten, aber durchaus im Dienstleistungssektor oder in Büros tätig sein können. Dazu zählen auch die Sekretärin oder der Erzieher, die Altenpflegerin oder der VW-Arbeiter. Das bedeutet auch, dass es sich nicht um eine weiße, männliche Gruppe handelt. Das ist besonders wichtig für die Diskussionen zur vielgestellten Frage, ob die Arbeiterklasse nach rechts driftet. Die moderne Arbeiter:innen-Klasse ist weiblicher und stärker migrantisch geprägt als die Oberschicht. Diese ist weißer, männlicher. Schauen Sie sich die Belegschaft einer Kita an und vergleichen sie sie mit der einer Anwaltskanzlei! Zugleich gibt es in der sozialen Selbsteinstufung oft Fehleinschätzungen. Viele mit hohem und viele mit niedrigem Einkommen verorten sich eher in der Mitte. Ein Doppelverdiener-Lehrer-Haushalt gehört in Deutschland regelmäßig zu den obersten zehn Prozent auf der Einkommensskala. Das ist den Leuten oft nicht klar.
Auch zwischen einer Altenpflegerin auf dem Dorf und einem VW-Arbeiter gibt es große Einkommensunterschiede. Haben die Leute ein Bewusstsein ihrer gemeinsamen Lage?
Linus Westheuser: Dazu haben Thomas Lux und ich gerade eine kleine Studie veröffentlicht. In der alten Arbeiterklasse, in der Industrie und im Handwerk sahen sich in unserer Umfrage satte 80 Prozent als Teil der Arbeiterklasse. Auch unter den Dienstleistungsarbeiter:innen war dieser Anteil sehr hoch. Die niedrigste Zustimmung fanden wir unter Arbeitgeber:innen oder unter bestimmten Selbständigen, etwa Anwälten mit eigener Kanzlei. Obwohl der Begriff „Arbeiterklasse“ im politischen Diskurs schon lange nicht mehr sehr präsent ist, wissen die Leute also – zumindest wenn er ihnen vorgelegt wird – damit durchaus noch etwas anzufangen. Sie wissen, ob sie damit gemeint sind. Ähnlich verhält es sich mit Positionierungen bezüglich der widerstreitenden Interessen von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen, also der Frage „Which side are you on?“ Jene, die man qua Beruf und Stellung zur Arbeiterklasse zählen würde, zeigten ein stärkeres Interessenbewusstsein als der Rest der Bevölkerung. Stark ausgeprägt ist dieses Bewusstsein aber interessanterweise auch in der kulturellen Mittelklasse, unter Lehrkräften, Sozialarbeiter:innen, Journalisten. Wir vermuten, dass diese Leute eine ausgeprägte Gerechtigkeitsorientierung haben, ihre politische Haltung stark über Werte definieren und eine egalitäre Vorstellung von Gesellschaft vertreten. Es gibt also durchaus ein bleibendes Potenzial für Klassenbewusstsein und eine politische Ansprache, die auf die gemeinsamen Interessen von Lohnabhängigen abstellt. Zugleich ist diese Art der Politik natürlich derzeit sehr schwach. Eben darum geht es ja in dem schon genannten Stichwort der „demobilisierten Klassengesellschaft“.
Wie drückt sich das im Wahlverhalten aus?
Lea Elsässer: Das politische Verhalten in weniger privilegierten Gruppen ist sehr heterogen. Als gemeinsame Erfahrung sehen wir, dass diese Menschen sich schlechter repräsentiert fühlen. Aber darauf reagieren sie sehr verschieden: Die einen wählen nicht, andere wählen radikal rechte Parteien, wieder andere links. Es gibt keinen monolithischen Block, der nach rechts driftet. Nicht zuletzt dürfen gerade in der Arbeiterklasse viele Menschen gar nicht wählen, weil sie die Staatsbürgerschaft nicht besitzen.
Linus Westheuser: In unserer Studie haben wir festgestellt, dass die Identifikation mit der Arbeiterklasse eher mit der Wahl rechter Parteien einhergeht, während es im Fall des Interessenbewusstseins anders ist: Leute, die ein gemeinsames Arbeitnehmerinteresse wahrnehmen, neigen eher zur Wahl linker Parteien. Es sind also unterschiedliche Politisierungen in ein und derselben Lage möglich. Man kann sagen: Wir arbeiten jeden Tag hart und holen uns jetzt unseren Anteil von den Migranten oder den Bürgergeldempfängern, die alles vom Staat bekommen. Oder man kann sagen: Wir arbeiten hart und wollen daher von den Arbeitgebern einen größeren Anteil des Reichtums, den wir für sie erarbeiten.
Diese Ambivalenz läuft mitten durch die Arbeiterklasse. Wir beobachten in dieser Klasse keinen Rechtsdrift in den Einstellungen oder Selbsteinschätzungen. Aber die AfD schafft es, das rechte Potenzial in dieser Klasse für sich zu mobilisieren. Es gibt mittlerweile ein „Oben-Rechts“ und ein „Unten-Rechts“: Während Leute im gesellschaftlichen Oben, die nach rechts tendieren, eher CDU oder FDP wählen, wählen Leute im gesellschaftlichen Unten, wenn sie nach rechts tendieren, eher AfD. Das Unten-Rechts wird also von der AfD hegemonisiert. Zugleich ist die potenziell linke Fraktion der Arbeiterklasse stark demobilisiert. Die riesige Mehrheit liegt dazwischen. Sie schwenkt nach rechts, wenn die entscheidenden Themen bei einer Wahl Migration, Kriminalität oder „faule Bürgergeldempfänger“ lauten. Aber sie kann durchaus auch nach links schwenken, wenn etwa Mieten, Löhne und Renten im Vordergrund stehen.
Spätestens seit der Pandemie stellt sich die Frage, wer zahlt. Für die Pandemie, für Krieg, für die Klimakrise, die Erschütterungen des Welthandels. Obwohl diese Verteilungskonflikte auf der Hand liegen, fällt es sozialdemokratischen und linken Parteien schwer, Massen anzusprechen, Mehrheiten zu gewinnen. Woran liegt das?
Linus Westheuser: Man darf es sich nicht zu leicht machen. Es ist nicht so, als würde das Thema auf der Straße liegen und von den Politiker:innen nur aus Dummheit vernachlässigt. Oben-Unten-Konflikte wurden über Jahrzehnte leise gestellt und spielen eine geringere Rolle in der Debatte. Das umzuwenden braucht Zeit. In Deutschland spielt auch immer noch eine Rolle, dass die Sozialdemokratie in der Zeit, als die soziale Frage zum letzten Mal am heftigsten diskutiert wurde, auf der anderen Seite stand und die Agenda-Politik vorangetrieben hat. Das hat die Kontinuität politischer Koordinaten ein stückweit gebrochen. Zudem ist die Konkurrenz durch horizontale Verteilungskämpfe stark, weil diese eine große Alltagsevidenz haben. Andererseits sind Ungleichheitskritik und Unrechtsbewusstsein in der Bevölkerung sehr stark verbreitet. Wie man sie remobilisieren kann, ist eine politische Frage. Schaut man auf Bernie Sanders, Jeremy Corbyn oder die letzten Wahlen in Frankreich zurück, als versucht wurde, diese Themen zu politisieren, sieht man, dass dort ein echter Enthusiasmus und eine enorme politische Kreativität freigesetzt wurden. Die Labour-Partei etwa verzeichnete unter Corbyns Vorsitz mehr als 100.000 Neueintritte. Das ist, politikwissenschaftlich gesehen, eine wahnsinnige Anomalie, zumal Studien zeigen, dass viele von ihnen genau die „left behind voters“ waren, um die sich der Diskurs über die Politikverdrossenheit ständig dreht. Zugleich sieht man am Beispiel Corbyn aber natürlich auch, wie rasch die Mobilisierung anhand der Oben-Unten-Unterscheidung scheitern kann, wenn etwa der Brexit oder Migrationsfragen im Zentrum der Wahlkämpfe stehen. Das ist nicht einfach, aber wenn die Mitte-Links-Parteien diesen Konflikt nicht wieder revitalisieren, werden sie irgendwann nicht mehr gebraucht.
Lea Elsässer: Zu lange hieß es in der Wissenschaft wie in der Politik, Klassen und Klassenkonflikte würden unwichtiger, spielten auch für die Leute eine geringere Rolle. Zurzeit sind wir in der paradoxen Situation, dass die ökonomischen Ungleichheiten objektiv wachsen, Lebenschancen stärker entlang von Klassenlinien strukturiert sind, und sich der Diskurs dennoch hartnäckig hält, das würde die Leute nicht umtreiben, andere Fragen wären ihnen wichtiger. Aber wir sehen in Umfragen, dass Ungleichheit nie an Bedeutung eingebüßt hat. Parteien müssten sich dafür einsetzen, diese Themen anzusprechen und in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zu stellen. In den letzten Jahren ist es den radikalen Rechten besser gelungen, den politischen Raum entlang ihrer Themen zu strukturieren. Wichtig wäre es, Konflikte nicht gegeneinander auszuspielen: Klima und Verteilung kann man nicht unabhängig voneinander denken, das gilt ebenso im Fall horizontaler Ungleichheiten.
Linus Westheuser: Grundsätzlich liegt nahe, dass eine Wiederbelebung vertikaler Konflikte dem Rechtsradikalismus die Atemluft entziehen kann. Die populistische Entgegensetzung von Volk und Elite etwa zieht auch, weil sie als Ersatzvokabular für Klassenkonflikte fungiert, über die man nicht mehr sprechen kann. Und horizontale Konflikte sind emotional stärker aufgeladen als Verteilungskonflikte, weil man über letztere nur abstrakt und blutleer spricht: Man beklagt etwa die aufklappende „Schere zwischen Arm und Reich“ oder zunehmende Armut. Das sind abstrakte Konzepte, sie besitzen keine narrative Struktur mit Helden und Bösewichten. Das ist in rechten Narrativen anders, in denen der gefährliche, männliche Fremde mit dem Messer als ultimatives Schreckgespenst fungiert – oder der gierige Politiker, der das Land zugrunde richtet.
Lea Elsässer: Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt, bei der veränderten sozialen Zusammensetzung der Politiker:innen. Es fehlen jene, die sozial und politisch weniger privilegierte Positionen aus eigener Erfahrung kennen und wissen, worauf es in solchen Lagen ankommt, wie die Menschen politische Probleme wahrnehmen. Darüber hinaus wird die politische Ansprache als eine von oben herab wahrgenommen, weil sie von Leuten kommt, mit denen viele sich kaum identifizieren können.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky, Stephanie Kappacher.
Kategorien: Affekte / Emotionen Demokratie Gesellschaft Politik Soziale Ungleichheit
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