Georg Kamphausen | Interview |

Nachgefragt beim Bayreuther Institut für Soziologie und Sozialpolitik

Fünf Fragen zu Themen und Forschung, beantwortet von Georg Kamphausen

Die Soziologie tendiert zum Zentrum, die Peripherie und das Leben außerhalb der Metropolen sind selten Gegenstand konkreter Forschungen. Das Bayreuther Institut für Soziologie und Sozialpolitik arbeitet dem entgegen und widmet sich Forschungsprojekten, die regionale und kommunale Fragestellungen verfolgen. Herr Kamphausen, mit welchen grundsätzlichen und konkreten Themen beschäftigt sich das BISO?

Nach meiner Pensionierung wollte ich nicht nur meiner Bibliothek, sondern auch den von mir betreuten „jungen Leuten“ eine neue akademische Heimat bieten. Wesentliches Ziel der Institutsgründung vor zwei Jahren war es, Studierenden der Soziologie sowie anderer Kulturwissenschaften die Möglichkeit zu bieten, sich anschauungs- und erfahrungsgesättigte Urteile zu bilden, wobei die Beschreibung des jeweiligen Problems wichtiger erscheint, als die Suche nach vorschnellen Antworten. Gestartet sind wir mit einem Projekt zum Thema „Seniorengenossenschaften“, also Zusammenschlüsse von Menschen, die sich solidarisch im Alltag unterstützen und die üblicherweise als Aktivitäten im Kontext des bürgerschaftlichen Engagements gewertet werden. Dabei stellte sich heraus, dass es nur selten generationenübergreifende Hilfeleistungen gibt, sondern vielmehr ein Beziehungsgefüge zwischen den „jungen Alten“ und bereits hilfsbedürftigen älteren Menschen entsteht. Daraus ergeben sich Fragen, die das Verhältnis von Angeboten der freien Wohlfahrtspflege und den gemeindlichen Unterstützungsleistungen betreffen, Zunehmend schwierig wird es vor allem für kleinere Gemeinden, weil Pflegeheime mit weniger als 60 Betreuungsplätzen sich für Caritas und Dioakonie oder anderen Trägern nicht mehr „lohnen“. Gemeinden müssen daher selbst vermehrt die Trägerschaft solcher Angebote übernehmen.

Eine von uns organisierte Tagung ordnete das Thema „Genossenschaften“ historisch ein und ging den zahlreichen Bezügen zu den Themen Gilde, Zunft und Schwureinung bei den Klassikern der Soziologie nach. Eine Veröffentlichung der Beiträge erfolgte im Velbrück Verlag.[1]

Von einer regionalen Stiftung erhielten wir eine sehr überschaubare finanzielle Unterstützung, um regionale Kulturschaffende um eine Einschätzung der „Kultur in Oberfranken“ zu bitten. Insgesamt wurden in fünf Mittelzentren 34 Personen interviewt. Dabei ging es, neben der besonderen Ausrichtung der von den Befragten selbst durchgeführten oder organisierten Kulturveranstaltungen (vom Volkstheater bis zum Samba-Festival), vor allem darum, zu erfahren, ob es Bezugspunkte, Kriterien oder begriffliche Differenzierungen hinsichtlich eines allgemeineren Kulturverständnisses gibt. Die Ergebnisse werden noch in diesem Jahr publiziert.

Bereits seit zwei Jahren laden wir im Rahmen der Reihe „Agora“, die an der Universität Bayreuth stattfindet, regelmäßig zu Vorträgen ein, die überwiegend regionalpolitischen Zuschnitts sind: sie behandeln etwa die Potenziale von Kleingartenanlagen, die Renaissance der traditionellen Walz, Pflege und haushaltsnahe Hilfen in den Kommunen, die Wirtshauskultur in Oberfranken, den Bürgermeister als unbekanntes Wesen, die Industrialisierung der Landwirtschaft und ihre Folgen und die regenerative Energiewende auf dem Land. Die Themen bringen Studierende mit Praktikern in Kontakt und vermitteln ihnen, dass man zunächst Probleme beschreiben muss, bevor man zu einem Urteil gelangt. So bot etwa die Diskussion eines Demeter-Gemüsebauern mit einem Ferkelerzeuger die seltene Gelegenheit, ganz unterschiedliche Sichtweisen unter gemeinsam geteilten Problemwahrnehmungen zu analysieren.

Seit dem letzten Jahr liegt der Schwerpunkt unseres Interesses auf Fragen, die sich aus den Folgen des demografischen Wandels in Dörfern bis ca. 2.500 Einwohner ergeben. Dabei ist die Einsicht leitend, dass die gemeinübliche Formel des „Demografischen Wandels“ sich alleinig auf die Schrumpfung der Bevölkerung und den Rückgang der Zahl der Arbeitskräfte bezieht und viele aus dem Wandel resultierende oder diesen erst bedingende Faktoren unberücksichtigt lässt. Gerade in kleineren Gemeinden lässt sich anschaulich demonstrieren, dass die gegenwärtige Debatte über die Dimensionen des demografischen Wandels unter einer gefährlichen Verkürzung leidet. So wird generell übersehen, dass es die Städte und Kommunen sind, die für die Bereitstellung der unterschiedlichen, von den Folgen des demografischen Wandels betroffenen Leistungen Sorge zu tragen haben. Leider wird die daraus abzuleitende Forderung nach einer Stärkung der politischen Handlungsoptionen auf der Ebene der Gemeinden nur selten zum Thema gemacht. Zu fragen wäre etwa: Wie lässt sich die Wohnsituation älterer Menschen verbessern? Wie können Kinder betreut werden, wenn die Kita wegen Personalmangel schließen muss? Welche Gestaltungsräume haben Bürgermeister? Was wissen Bürgermeister eigentlich über ihre Bürger? Ist die Ausweisung von Baugebieten immer eine kluge Idee? Welches Verhältnis haben Alteingesessene zu den Neubürgern? Alle diese Themen (und viele andere mehr) machen deutlich, dass man sehr viele Faktoren ins Spiel bringen muss, um auch nur annähernd zu beschreiben, wo „der Hase im Pfeffer“ liegt. Konkretion verhindert Komplexitätsreduktion und schärft den Blick für die eigene Ergänzungsbedürftigkeit. Der oft bemühte Satz, dass das Dorf keine bessere, sondern eine einfachere Welt sei, hat mit der Lebenswirklichkeit im „urbanen Dorf“ natürlich nichts zu tun. Ganz im Gegenteil: was hier beschreibbar wird, ist die Unüberschaubarkeit des angeblich Überschaubaren.

Wie ist das Institut aufgestellt, wo ist es angebunden und wie sichert es seine Finanzierung?

Eine feste Anbindung an eine bestehende Einrichtung der Universität ist in Sicht, aber noch nicht endgültig in trockenen Tüchern. Wir sind ganz entscheidend auf Kooperationen mit den unterschiedlichsten Disziplinen und Praktikern angewiesen. Diese Ergänzungsbedürftigkeit betrifft, die Agrarwissenschaften und die Kommunal- und Verwaltungswissenschaften, aber auch die sogenannte „Europäische Ethnologie“ und die Sozial- und Kulturgeschichte sowie die Kooperation mit Institutionen (u.a. der Freien Wohlfahrtspflege) und die Einbindung berufspraktischer Erfahrungen insgesamt.

Über solche Kooperationen hoffen wir vor allem auf eine Besserung unserer zur Zeit begrenzten finanziellen Ressourcen. Da die Mehrzahl der Mitarbeiter:innen Studierende sind, können wir relativ kostengünstig arbeiten. Um aber die jungen Kolleg:innen auch halten zu können, brauchen wir mehr finanzielle Unterstützung, die wir insbesondere durch kleinere konkrete Arbeitsaufträge der Bürgermeister und Landräte zu gewinnen suchen. Ein Grundproblem besteht darin, dass die Mehrzahl der von uns behandelten Themen zumeist in sehr klar zugeschnittenen Fördermaßnahmen und Programmen der Fachministerien operationalisiert werden, bei denen es nur selten um die Analyse konkreter Sachverhalte geht. Dabei sind Konzepte wie aktives Altern, selbstbestimmtes Alter, gesellschaftliche Teilhabe oder bürgerschaftliches Engagement einfach zu weit gefasst und zu unbestimmt, um mit ihrer Hilfe konkrete Fragen zu stellen.

Was sind die theoretischen oder methodologischen Hypothesen, mit denen das Institut seine Studien anleitet?

Das lässt sich so umstandslos nicht sagen: Leitfadeninterviews mit Experten aus Praxis und Wissenschaft stehen sicher im Mittelpunkt, eine textkritische Analyse von Verwaltungsvorschriften und den Absichtserklärungen der Ministerialbürokratie sowie Publikationen der seit vielen Jahren integrierten „Think Tanks“ geben Aufschluss darüber, welche Seiten und Aspekte eines Problems dargestellt werden und welche kein Thema sind. Es ist eine erstaunliche Tatsache, dass es zu Gemeinden mit weniger als 2.500 Einwohnern kaum sozialwissenschaftliche Literatur gibt. Oft sind ältere empirische Arbeiten hilfreich, immer bedeutsam sind auch historische (und europäische) Vergleiche und die zumeist gut archivierten Materialien der Kreisheimatpfleger. Allgemein gilt: die Kenntnis von Romanen eröffnet eine zusätzliche und ebenfalls wichtige Perspektive.

Warum werden kommunale und regionale Themen in den Sozialwissenschaften so stiefmütterlich behandelt und was sind die Konsequenzen dieser Lücke?

Die Bachelorausbildung, insbesondere in den Sozialwissenschaften, zielt auf eine Quadratur des Kreises. Welcher Student, welche Studentin hat noch Beziehungen zur Landwirtschaft, wer kennt noch Handwerker und deren Probleme? Es fehlt an Anschauung und die Einbettung in einen genealogisch gewonnenen Erfahrungshaushalt, der heute durch Abstraktionen verstellt wird. Gerade Universitäten wie Bayreuth könnten es anders machen, aber wenn von „Transfer“ die Rede ist, meint man zumeist die Übermittlung wissenschaftlicher Expertise an die „Menschen da draußen“. Die Forschung wird in doppelter Weise blind: Sie wendet sich an Menschen, die nach ihrer Erfahrung zumeist nicht gefragt werden und sie transferiert Wissen von erfahrungsresistenten „Experten“.

Aktuell sind viele Kommunen mit den Folgen des demografischen Wandels, wie etwa dem Abzug von Bewohner:innen und massivem Personalmangel, konfrontiert. Zudem klagen sie über Unterfinanzierung. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der wissenschaftlichen Marginalisierung von Gemeinden und der fehlenden Bearbeitung der Probleme durch die Politik?

Dieser Zusammenhang existiert, wie oben beschrieben, eindeutig. In den Kommunen ist es zudem wichtig, danach zu fragen, wer denn überhaupt noch ein Bürgermeisteramt übernehmen will. Die meisten Bewerber kommen aus der Kommunalverwaltung und sind hoffnungslos überbeschäftigt mit der Umsetzung jener Vorgaben, die ihnen eine oft realitätsferne Politik übermittelt. Diejenigen Bürgermeister, die noch einen Rest an Gestaltungswillen haben, sind in Regel älter als 65 Jahre. Ein wichtiges Thema ist daher, deutlich zu machen, dass „all politics is local“ und die Menschen in den Gemeinden/Kommunen zu ermuntern, sich selbst Gedanken zu machen und aktiv ihr Lebens- und Wohnumfeld zu gestalten.

  1. Georg Kamphausen, Genossenschaften in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Weilerwirst 2022.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Demokratie Sozialpolitik Sozialstruktur Stadt / Raum Wissenschaft

Georg Kamphausen

Georg Kamphausen ist außerplanmäßiger Professor für Soziologie an der Universität Bayreuth. Seine Habilitationsschrift behandelte die Erfindung Amerikas in der Generation von 1890, seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Historischen Soziologie.

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