Claus Leggewie | Rezension | 14.01.2025
Planetare Selbstreflexion einüben
Rezension zu „Umlaufbahnen. Roman“ von Samantha Harvey

“This World is not Conclusion.”
(Emily Dickinson 1862)
Samantha Harveys Roman „Orbital“– „Umlaufbahnen“ – ist eine wunderbare landschaftsmalerische Beschreibung des Planeten Erde aus der Vogelperspektive der internationalen Raumfahrtmission (ISS). Sechs AstronautInnen (vier Männer, zwei Frauen), führen wissenschaftliche Experimente und Wartungsarbeiten durch, setzen Taifun-Warnungen ab, unternehmen Weltraumspaziergänge – und betrachten auf einem guten Teil der 221 Seiten die Erde, deren Angesicht in 16 Umrundungen ständig aufleuchtet und sich wieder verdunkelt. Diese Geschichte hat keinen Plot, es sei denn den einer unglaublich prägnanten, bis ins letzte Detail stimmig wirkenden Beobachtung der Erdoberfläche, die bei Leserschaft und Kritik (und dem Rezensenten) durchweg Begeisterung, ja ozeanische Glückgefühle hervorgerufen hat.
Harveys Roman ist kein herkömmliches „nature writing“ und schon gar nicht Science Fiction – keine Asteroiden oder Aliens im Anflug, kein Irrer oder HAL 9000 an Bord, kein terminales Technikversagen. Ebenso wenig ist er astrophysikalische Populärwissenschaft oder Raumfahrt-PR, vielmehr erbringt der Roman-Essay eine überzeugende Meta-Physik, die das Bild vom Planeten so nachdrücklich prägen könnte wie das berühmte Earthrise-Foto aus der Apollo 8-Kabine, mit dem sich die Menschheit erstmals selbst in den Blick nehmen konnte. Oder eine andere, von dem Apollo 11-Astronauten Michael Collins fotografierte Ikone, welche die Rückkehr Neil Armstrongs und Buzz Aldrins von ihrem Mondspaziergang zum Mutterschiff Columbia zeigt. (Collins, hieß es damals, 1969, sei der einzige Mensch, der nicht auf dem Foto zu sehen sei. Wie die Autorin ihre Schilderung mit solchen Ikonen verfeinert, soll unten noch an einem anderen Bild illustriert werden.)
Harveys mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichneter Roman ist auch eine sozial- und kulturwissenschaftlich interessante Selbstreflexion, die unser (exo)soziologisches Wissen über die aktuelle Raumfahrt und die exzentrische Existenzweise von Astronauten in eine sozialphilosophische Selbstreflexion über den Zustand des Planeten Erde überführt.[1] Damit öffnet sie – in schönster Prosa – den Weg in ein planetares Denken, das dem aktuell bemühten Umsteuern angesichts der Überlastung dieses Planeten noch fehlt und die „Große Transformation zur Nachhaltigkeit“ aus ihrer technokratischen Nische der Vergeblichkeit herausholen kann.[2] Drei Aspekte stechen dabei sozialwissenschaftlich hervor: das orbitale „Gruppenexperiment“ der ISS-Crew, zweitens die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen der Vorgänge auf der Erde und in der Atmosphäre, sinnfällig in der Außerkraftsetzung des 24-stündigen Tagesablaufs, und drittens die damit verbundene Verschiebung der terrestrischen Perspektiven und Blickachsen.
Der klassischen Soziologie am nächsten steht die Beobachtung der „Gruppe“, die hier aus zwei Frauen und vier Männern aus fünf Ländern zusammengewürfelt ist, wobei Gender kaum eine Rolle spielt. Es sind die fiktiven Figuren Roman und Anton aus Russland, Chile aus Japan, Nell aus Großbritannien, Pietro aus Italien und Shaun aus den USA. Oft werden auf Erden Experimente mit kleinen Gruppen wie diesen simuliert, um Dynamiken, Dilemmata und Modalitäten der Vergemeinschaftung zu studieren. Die Sechs im Orbit erledigen routiniert Experimente mit Mäusen und Mikroben, aber vor allem mit sich selbst und ihren Körpern in diesem unwirtlichen Haus, das lautlos-sirrend 250 Meilen über uns mit einer Geschwindigkeit von 28.000 Stundenkilometern sechzehn Sonnenaufgänge und Untergänge pro Tag absolviert. Und sie, das ist der gruppendynamisch interessante Punkt, ausgehend von einer exponierten Körperlichkeit zum Kollektiv formt, in dem Russen und Amerikaner sich über ihre getrennten Klos lustig machen, da sie ohnehin den gleichen wiederaufbereiteten Urin trinken und dieselbe aufbereitete Luft atmen müssen. Aus dieser gottähnlichen Perspektive zu sehen, was „unten“ geschieht, ist aufregend und trivial zugleich – auch der gigantische Taifun, der sich zwischen Indonesien und den Philippinen zusammenbraut. Dieses Kollektiv agiert in Echtzeit unter real-extremen Bedingungen einer frei gewählten Intimität, der latenten Existenzgefahr und der Relativierung aller ethnischer und weltanschaulicher Differenzen. Im All herrscht eine arbeitsteilige kosmopolitische Professionalität, die Herkunftsgeschichten, nationale Grenzen, die man von oben ohnehin nur zwischen Indien und Pakistan erahnen kann, und religiös-kulturelle Konflikte als lachhafte Petitessen erscheinen lässt.
Gewiss sind diese Individuen mit der Erde verbunden, wo einer eine kaputte Ehe und eine den unerwarteten Tod der Mutter hinter sich gelassen hat, wo ein anderer nach der Landung seinen Knoten im Nacken untersuchen lassen wird; wieder ein anderer erinnert sich an die irdische Zufallsbekanntschaft mit einem Fischer, dessen Boot und Haus da unten gerade vom Sturm zermalmt werden. All das bewirkt eine so schmerzliche wie heilsame Entfremdung von der Erde, deren prekäres Dasein man wohl erst erfassen kann, wenn sie aus überirdischer Sicht „unirdisch“ erscheint. Harvey erzeugt solche Einsichten, etwa bei einem Ausstieg zweier Astronauten zu einer Routineinspektion, mit einer immersiven Poesie, die eine deprimierende Bilanz der von Menschen erzeugten Beschädigungen der Welt erzwingt und den Weltraumkolonialismus von Elon Musks Space-Ingenieuren in seinem ganz banalen Machbarkeitswahn vorführt. Wem Planetar denken bisher als abstrakte Spekulation vorkam, kann es in diesem Roman konkret einüben.
Zum Planetaren gehört, zweitens, die Relativierung des üblichen menschlichen Tagesrhythmus von 24 Stunden, die von Sonnenaufgang und -untergang markiert, von allgegenwärtigen Zeitmessern in Stundenpläne zerteilt werden. Im Universum herrschen andere Zeitgesetze, deren Erkenntnis anthropozentrische Automatismen und Eigentümlichkeiten irritieren müssten. In den Bullaugen eines Raumschiffs bricht ständig eine Vergangenheit an und endet eine Zukunft. „Immer ist jetzt, jetzt ist nie“, mit dieser Formel komprimiert Harvey Relativitätstheorien und das unfertige Wissen über den Beginn, die Expansion und die Grenzen des Universums beziehungsweise der Multiversen. Das illuminiert diverse Aggregatzustände des Planeten vor (und nach) der Menschheit, ohne dass man daraus notwendig auf einen Schöpfergott oder ein Urereignis schließen muss, aber auch das ist möglich. Doch nicht nachlassen darf man, die mutmaßliche Nanosekunde menschenfreundlicher Existenzweisen auf der Erde mit der Abschwächung des anthropogenen Klimawandels und des Biodiversitätsverlustes verlängern zu wollen.
Die Soziologie konzentriert sich in der Regel auf geografische Räume und demografische Container, innerhalb oder dank derer sozialer Wandel in meist sehr begrenzten Zeitabständen stattfindet.[3] Von der Astrophysik lässt sich lernen, wie solche Zeit-Räume in andere (Un-)Endlichkeiten eingebettet sind, von denen Tiere und andere Aktanten wie die noch auf dem Planeten geduldeten Indigenen womöglich mehr verstehen als auf übliche Weise chronifizierende Menschen, die selbst den Wechsel der Jahreszeiten und der Lebensalter nicht mehr existenziell erleben. Das Angenehme an Harveys Buch ist, dass sie solche Überlegungen nicht elegisch-moralisierend einflicht, sondern aus der eigentümlich anderen Zeiterfahrung der Raumfahrer hervorgehen lässt. Und durch Bilder der Erde untermauert, deren Präzision die Google-Earth-Schnappschüsse grau wirken lassen und die so schön sind wie Fotokunstwerke aus dem James-Webb-Teleskop.
Es geht also, drittens, um einen Wechsel der Perspektiven, weg von den Zeitzonen, mit denen „Entdecker“ einst die Ungleichzeitigkeit der Welt in eine handhabbare Form brachten, die unterdessen von der Telekommunikation und der Digitalisierung angenagt ist und in eine penetrante Gegenwärtigkeit mündete. Die Raumfahrersicht bliebt zunächst ganz präkopernikanisch auf die Erde fokussiert, wie Michael Collins‘ eingangs erwähnte Fotografie, auf der man nur sie (und sonst wenig) sieht. Eine Zeichnung auf der ersten Seite von Harveys Buch projiziert auf einer konventionellen Weltkarte die „24 Stunden in der Erdumlaufbahn bei Tageslicht in der nördlichen Hemisphäre“, mit der tangentialen Piste der sechszehn Erdumrundungen und dabei einer Vielzahl sich ausrollender Perspektiven und Blickachsen. Harvey kommentiert die Perspektivengebundenheit der menschlichen Wahrnehmung mit einer kongenialen Interpretation des berühmten, schon hundertfach gedeuteten Gemäldes Las Meninas („Die Hoffräulein“) des spanischen Malers Diego Velázquez von 1656. (Beim Lesen sollte man es am besten vor sich haben.)[4] Sie versetzt sich in die ratlose Position des fünfzehnjährigen Shaun im Kunstunterricht bei der Suche nach dem „eigentlichen“ Thema des Bildes ein und fragte sich: „Was ist also das eigentliche Sujet – der König und die Königin (die gemalt werden und deren weiße Gesichter im Spiegel, wenn auch nur klein, zentral im Hintergrund zu sehen sind), ihre Tochter (der Stern in der Mitte, so leuchtend und blond im Zwielicht), ihre Zofen (und andere, der Prinzessin Untergebene – Zwerge, Anstandsdamen und Hunde), der Mann, der im Hintergrund im Türrahmen lauert und eine Nachricht zu überbringen scheint, Velázquez (der im Gemälde als Maler deutlich zu erkennen ist, ein Maler, der an seiner Staffelei steht, der ein Porträt des Königs und der Königen malt, das aber auch das Gemälde Las Meninas selbst sein könnte), oder sind wir es, die BetrachterInnen, die an derselben Stelle stehen wie der König und die Königin und auf das Gemälde blicken und die sowohl von Velázquez und der kindlichen Prinzessin angeschaut werden als auch, im Spiegelbild, von dem König und der Königin?“ (S. 14f.).
Der Kunstlehrer machte die Themensuche noch komplizierter, indem er als Sujet des Bildes die „Kunst an sich“, „das Leben“ als solches oder das „Nichts“ anbot. Diese Fragerei schien Shaun als der „absolute Tiefpunkt aller Sinnlosigkeit“, trotzig malte er ein Bild von einem Mann am Galgen. Seine Sitznachbarin lächelte, wurde später seine Frau und gab ihm eine Postkarte des Gemäldes mit, die er nun im Raumschiff betrachtet, wo er mit Hilfe von Pietro zu einer neuen Sicht gelangt: Es geht um den Hund im Vordergrund. „Er hat die Augen geschlossen. In einem Gemälde, in dem sich alles um Blicke und Sehen dreht, ist er das einzige Lebewesen in der abgebildeten Szene, das nirgendwohin schaut, nichts und niemanden ansieht. (…) In einer durchorchestrierten und symbolhaften Szene kann das kein Zufall sein. (…) Ein Tier, umgeben von der Wunderlichkeit des Menschen, als ihren seltsamen Manschetten und Rüschen und Seidentüchern und Posen, den Spiegeln und Winkeln und Blickpunkten; all die Wege, die sie finden, keine Tiere zu sein … ist das eigentlich ziemlich komisch. Und der Hund der Einzige auf dem Bild, was nicht lächerlich wirkt, gefangen in einem Netz aus Eitelkeiten. Das Einzige, was sich auch nur annäherungsweise als frei bezeichnen ließe“ (S. 173).
Harveys planetare Selbstreflexion führt also nicht auf den Mars oder zu den Extraterrestrischen, sondern zu den „more-the-humans“. Das hindert den Rezensenten nicht daran, am frühen Abend das gerade anstehende, eine Minute dauernde Verschwinden des Saturn hinter dem Mond zu betrachten. Es ist erstaunlich, dass in Harveys grandiosem Buch ausgerechnet der Blick in den Sternenhimmel knapp ausfällt. Dabei ist die Position des Menschen auf dem Planeten Erde nur gewährleistet in seiner Exzentrik im Planetaren und mit seiner radikalen Dezentrierung im Orbit.[5]
Fußnoten
- Siehe auch: Günter Anders, Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge, München 1994 (1970); Peter Dickens, Cosmic society. Towards a Sociology of the Universe. London 2007; Joachim Fischer / Dierk Spreen, Soziologie der Weltraumfahrt, Bielefeld 2014; Michael Schetsche/Andreas Anton: Die Gesellschaft der Außerirdischen. Einführung in die Exosoziologie, Wiesbaden 2019; Alexander Geppert (Hg.), Limiting Outer Space. Astroculture after Apollo, London 2018.
- So unser Versuch am Panel on Planetary Thinking in Gießen, dazu Frederic Hanusch /Claus Leggewie / Erik Meyer, Planetar denken. Ein Einstieg, Bielefeld 2021; und demnächst erweitert in englischer Übersetzung Frederic Hanusch / Liza B. Bauer / Clemens Finkelstein / Claus Leggewie, Our Planetary Condition. Foundations for a Politics with the Earth”, Cambridge, MA 2026.
- Siehe aber Markus Schroer, Geosoziologie. Die Erde als Raum des Lebens, Berlin 2022 und meine Rezension: Claus Leggewie, Bleibt der Erde treu! Rezension zu „Geosoziologie. Die Erde als Raum des Lebens“ von Markus Schroer, in: Soziopolis, (10.1.2025).
- Thierry Greub (Hg.), Las Meninas im Spiegel der Deutungen. Eine Einführung in die Methoden der Kunstgeschichte, Berlin 2001; Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1974, S. 31–45.
- Siehe Joachim Fischer, Exzentrische Positionalität – Weltraumfahrt im Blick der modernen Philosophischen Anthropologie, in: Etica & Politica / Ethics & Politics 14 (2012), 1, S. 55–70.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.
Kategorien: Globalisierung / Weltgesellschaft Ökologie / Nachhaltigkeit Wissenschaft
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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