Johanna Hoerning | Rezension |

Stadt als Labor und Baustelle

Rezension zu „Kultursoziologische Stadtforschung. Grundlagen, Analysen, Perspektiven“ von Ignacio Farías, Martina Löw, Thomas Schmidt-Lux und Silke Steets

Abbildung Buchcover Kultursoziologische Stadtforschung von Farias/Löw/Schmidt-Lux/Steets

Ignacio Farías / Martina Löw / Thomas Schmidt-Lux / Silke Steets:
Kultursoziologische Stadtforschung. Grundlagen, Analysen, Perspektiven
Deutschland / USA
Frankfurt am Main / New York 2023: Campus
240 S., 28,00 EUR
ISBN 978-3-593-51586-1

Mit ihrem Buch Kultursoziologische Stadtforschung. Grundlagen, Analysen, Perspektiven haben die Autor*innen Ignacio Farías, Martina Löw, Thomas Schmidt-Lux und Silke Steets den einleitenden Band einer neuen Reihe im Campus-Verlag vorgelegt, zu den Herausgeber*innen der Reihe gehören – neben den Autor*innen des Bandes – Sybille Frank und Lars Meier. Sieben thematisch vielfältige Kapitel werden von einer Einleitung flankiert, in der die Autor*innen ihr Verständnis einer kultursoziologischen Stadtforschung darlegen. Das Buch ist damit eine durchaus ansprechende und kurzweilige Lektüre, da es sowohl seinen konzeptionellen Anspruch sehr gebündelt formuliert als auch empirisch abwechslungsreiche Einblicke gibt sowie mögliche Umsetzungen, Begründungen und Anschlussfragen aufzeigt.

Dabei meinen die Autor*innen mit kultursoziologischer Stadtforschung „ein interdisziplinäres Unterfangen“, das die „physisch-räumlichen wie die symbolischen Ausprägungen [des Städtischen] in ihrer Sinnhaftigkeit“ (S. 9) untersucht. Sie entwickeln entlang der zentralen Konzepte Multiplizität, Eigenlogik und Verdichtung eine disziplinenübergreifende Heuristik, was durchaus plausibel ist, gleichzeitig aber auch mit der übergeordneten Referenz auf ‚das Soziologische‘ eine Restirritation hinterlässt. Basierend auf ihren jeweiligen disziplinären Hintergründen arbeiten die Autor*innen vor allem kulturanthropologisch und -soziologisch, was sie aber kulturwissenschaftlich und -geografisch kontextualisieren. Inwiefern ‚das Soziologische‘ hierfür die übergeordnete Klammer bilden kann, bleibt schlussendlich offen.

In expliziter Gegenposition zu essenzialistischen und strukturalistischen Ansätzen plädieren die Autor*innen für eine konstruktivistische Erforschung der Stadt als „Kulturfigur“ (S. 19) und als „soziomaterielles Gefüge“ (S. 60) beziehungsweise als Gefüge soziomaterieller Praktiken, was die Ortsspezifik in den Vordergrund rückt. Dabei kombinieren sie die bereits in der Eigenlogikforschung[1] hervorgehobene Besonderheit von Städten als geteiltem Erfahrungs- und Interpretationshintergrund mit der in ANT-Debatten betonten Sicht auf die Stadt als multiple und vernetzte Assemblage[2] und ergänzen beide Aspekte um den der Verdichtung.

Es besteht eine durchaus produktive Spannung zwischen der Vorstellung von Stadt als Einheit und Kulturfigur einerseits und als Gefüge einer Vielzahl heterogener soziomaterieller Praktiken andererseits.

Was sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen, zum Teil überraschenden Themengebiete zieht, ist ein dezidiert empirischer, häufig auch vergleichender Blick: Wohnungsmärkte, Klassenfigurationen, Vergeschlechtlichung, Rassifizierung, postkoloniale, religiöse, digitale und ökologische Fragen werden hier besprochen. Die Themenauswahl zeigt, wie sich die Autor*innen die Umsetzung des breiten kultursoziologischen Programms vorstellen. Dabei tritt in den unterschiedlichen Inhalten zutage, was sich in der konzeptionellen Einleitung schon andeutet: Es besteht eine durchaus produktive Spannung zwischen der Vorstellung von Stadt als Einheit und Kulturfigur einerseits und als Gefüge einer Vielzahl heterogener soziomaterieller Praktiken andererseits.

Verbindet man die Vorstellung von Stadt als Kulturfigur mit den im vorliegenden Band aufgeworfenen Themen drängt sich assoziativ die alte Stadtkrone auf, in der sich Markt und Ökonomie, Politik und Regierung sowie Religion relational verbinden. Besonders hervorzuheben ist die dezidierte Auseinandersetzung mit der Frage, wie Städte von Grenzziehungen zwischen Säkularität und Religiosität geprägt sind. Der Themenkomplex Ökonomie bleibt dagegen auf das Wohnen beschränkt, das Politische bearbeiten Farías, Löw, Schmidt-Lux und Steets zwar innerhalb mehrerer Themen, allen voran Wohnen und Klassenfigurationen, allerdings eher sporadisch. Hier hätte ich mir noch explizitere Anknüpfungspunkte vorstellen können – gerade vor dem Hintergrund, dass der entwickelte kultursoziologische Ansatz eben nicht kulturalistisch verengt werden, sondern eher als eine Erkenntnisperspektive für vielfältige städtische Phänomene gelten soll.

Eine zentrale Unterscheidung des Bandes ist die zwischen Labor und Baustelle. Die Autor*innen grenzen sich von der (reinen) Betrachtung der Stadt als Labor ab – also einem Ort, an dem Gesellschaft konzentriert (und möglicherweise experimentell) untersucht werden kann – und betonen ihr Verständnis von der Stadt als Baustelle, deren Konstruktion sie „als widerstandsfähiges und eigenmächtiges Gegenüber“ (S. 19) betrachten. Diese Perspektive wird in den einzelnen Teilkapiteln unterschiedlich gut deutlich. Im Hinblick auf Wohnen grenzen sich die Autor*innen spürbar von einer als ökonomistisch verengt verstandenen Wohnungsforschung ab, die allgemeine kapitalistische Strukturen und Widersprüche in städtischen Märkten untersucht. Stattdessen adressieren sie vorrangig die Frage danach, wie verschiedene Akteure städtische Wohnungsmärkte (als eigenmächtiges Gegenüber) imaginieren, etablieren und aufrechterhalten. Die kulturellen (und damit auch soziomateriellen) Praktiken der Vermarktung, die hier herausgearbeitet werden, sind eine wichtige Ergänzung für die Wohnungsforschung, die die im Band fokussierten Vermittlungsakteure (Immobilienmakler*innen) klassischerweise eher vernachlässigt. Wohnungsmärkte gelten als kontingente „kalkulative Dispositive“ (S. 42), was zwar die Analyse der Märkte als Ausdruck widersprüchlicher und konflikthafter kapitalistischer Kommodifizierung nicht ersetzt, aber ein interessanter Denkanstoß ist. Auch wenn der erste Band der Reihe eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den bestehenden Debatten zu Wohnungsmärkten nicht einlöst, so ist sie doch denkbar und wünschenswert für kommende Publikationen – nicht zuletzt um Antworten darauf zu finden, wie sich städtische (Wohnungs-, aber auch Arbeits-, Lebensmittel- u.a.) Märkte eben gerade in ihren multiplen Verschränkungen konstituieren: erstens einer Verschränkung der (soziomateriellen) Praktiken einer Vielzahl von Akteuren, die unterschiedlichen Logiken in ihrem Handeln folgen; zweitens einer Verschränkung der strukturellen und translokalen wie auch globalen Marktdynamiken und -strukturen; sowie drittens einer Verschränkung der politischen Rahmensetzungen und der an verschiedene Güter geknüpften Waren- und Wertlogiken. Damit würde deutlich, was die orts- und situationsspezifischen Kontingenzen zutage treten lässt, die Farás, Löw, Schmidt-Lux und Steets fokussieren, und welche Dynamiken auf Einbettungen, Pfadabhängigkeiten und anderes zurückgehen, die die bisherige Forschung dominieren. Die Perspektiven (Kontingenz vs. Pfadabhängigkeit) beruhen auf unterschiedlichen Erkenntnisinteressen: Hier soll erklärt werden, wie spezifische städtische Märkte konstituiert werden – dort sollen die Konsequenzen einer umfassenden Kommodifizierung und Marktdurchdringung auf der Ebene sozialer Ungleichheiten, Ausschlüsse und sozialer Integration analysiert werden. Beides ist relevant.

Auch im Kontext (städtischer) Klassenfigurationen zeigt sich der besondere kultursoziologische Blickwinkel: Es geht um die konkrete „performative Herstellung von Klassen“ (S. 65) im Alltag, also wie diese „in Form von Positionskämpfen immer wieder (neu) ausgehandelt“ (S. 67) werden und welche „räumlichen Verflechtungen“ (S. 69) sich dabei zeigen. Für Farías, Löw, Schmidt-Lux und Steets sind Städte „soziomaterielle Gelegenheitsstrukturen“ (S. 70), wie diese als eigenlogische Verdichtung wirksam werden in der Performanz, in den Kämpfen und Verflechtungen bleibt (als Forschungsfrage) offen. Gleiches gilt für das im darauffolgenden Kapitel behandelte Thema des Queering (Vergeschlechtlichung und Rassifizierung). Darin geht es darum, wie in Städten eine „Verdichtung vergeschlechtlichter und rassifizierter Anordnungen“ (S. 98) wirksam ist und warum dies zwischen einzelnen Städten, aber auch zwischen städtischen und suburbanen, ländlichen oder dörflichen Kontexten differieren soll. Ich verstehe den vorliegenden Band als Einladung an andere Forscher*innen, sich den offenen Punkten in der Vermittlung zwischen orts- und situationsspezifischer Performanz sowie Macht- und Ungleichheitsstrukturen zu widmen.

Die Autor*innen schreiben, ihr Entwurf einer kultursoziologischen Stadtforschung drehe den „gesamtgesellschaftlichen Anspruch der klassischen Stadttheorie um und [stelle…] die Frage nach dem Spezifikum der Städte als Raumanordnungen und Kulturfiguren ins Zentrum der Analyse“ (S. 18). Nun könnte man sagen, dass diese Perspektive nichts gänzlich Neues in der Stadtforschung ist. Claude S. Fischer entwickelte bereits in den 1970er-Jahren in den USA – auf Basis der sozialökologischen Tradition und dementsprechend mit einem klaren Fokus auf Verdichtung als Kernelement von Städten – seine „subcultural theory of urbanism“.[3] Für Fischer sind Städte von einer Vielzahl unterschiedlicher Gruppen geprägt, mit denen eine große kollektive Heterogenität und damit eine Pluralität geltender (handlungsorientierender und sinnstiftender) Werte und Normen einhergeht. Ihm geht es dabei nicht um Individualisierung und die Diskussion von Anomie, sondern um die Pluralität kollektiver Sinnzusammenhänge, die Städte aus seiner Sicht hervorbringen: „Rather than unanimity, there is ‚multinimity‘ […].“[4] Sowohl kulturelle Praktiken als auch Multiplizität und Verdichtung – zentrale Kategorien des hier vorgestellten Buches – sind bei Fischer demnach bereits von Bedeutung. Anschlüsse wären also durchaus denkbar, etwa bezüglich religiöser Aushandlung (beziehungsweise „säkular-religiösen Grenzziehungen“) in Städten.[5]

Wir können weder sozioökonomische Ungleichheiten noch Rassifizierungen, weder (post-)koloniale noch säkulare Grenzziehungen und Verbindungen, weder digitale noch ökologische Ver- und Entnetzungen ausschließlich orts- und situationsspezifisch betrachten.

Abschließend stellt sich die Frage, ob hier tatsächlich – wie von den Autor*innen formuliert – eine Erforschung der Stadt im Gegensatz zu einer Forschung in der Stadt stattfindet. Denn zwar verweist die Stadt als Kulturfigur auf ein eigenständig zu erforschendes Wissensobjekt Stadt, das als solches durchaus ontologische Qualitäten hat (zumindest performativ). Aber die damit verbundene kultursoziologische Perspektive auf soziomaterielle Praktiken und Herstellungsdynamiken zeigt gerade mit Blick auf die ausgewählten Themen, dass damit immer auch eine Erforschung sozialer Praktiken in Städten verbunden ist. Schließlich können wir weder sozioökonomische Ungleichheiten noch Rassifizierungen, weder (post-)koloniale noch säkulare Grenzziehungen und Verbindungen, weder digitale noch ökologische Ver- und Entnetzungen ausschließlich orts- und situationsspezifisch betrachten.

Dabei scheint mir ein Begriff des Bandes zentral, in dem sich die konstruktivistischen mit stärker strukturalistischen Perspektiven treffen: Kontingenz. Die Kontingenz des Sozialen und sein Charakter des historisch Gemachten ist für beide Perspektiven zentral. Während strukturalistische Analysen in Städten die sozialen und räumlichen Strukturen der Ungleichheit und deren Reproduktion in den Fokus rücken (ohne dass diese als Determinanten gesehen werden), blicken konstruktivistische Stadtanalysen auf Orts- und Situationsspezifika. Es ist offenkundig, dass das Soziale beide Dynamiken enthält, sie häufig im Widerspruch zueinanderstehen und manchmal das eine, bisweilen aber auch das andere überwiegt. Schon deshalb halte ich es für unabdingbar, beide Forschungstraditionen generell und in Bezug auf das Städtische nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern auch in Dialog miteinander zu bringen –wir dürfen gespannt sein, wie das weiteren Publikationen in der Reihe „Kultursoziologische Stadtforschung“ in Zukunft gelingt.

  1. Helmuth Berking / Martina Löw (Hg.), Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt am Main / New York 2008.
  2. Alexa Färber, Potenziale freisetzen. Akteur-Netzwerk-Theorie und Assemblageforschung in der interdisziplinären kritischen Stadtforschung, in: sub\urban. Zeitschrift für kritische Stadtforschung 2 (2014), 1, S. 95–103; Ignacio Farías / Thomas Bender (Hg.), Urban Assemblages. How Actor-Network Theory Changes Urban Studies, London / New York 2009.
  3. Claude S. Fischer, Toward a Subcultural Theory of Urbanism, in: American Journal of Sociology 80 (1975), 6, S. 1319–1341; ders., To Dwell among Friends. Personal Networks in Town and City, Chicago, IL 1982.
  4. Fischer, Toward a Subcultural Theory of Urbanism, S. 1337.
  5. Dieses Thema grundsätzlich zum Gegenstand der Stadtforschung zu machen, ist ein hervorzuhebender Aspekt des vorliegenden Bandes. Der Blick auf die Grenzziehungen erlaubt es, Urbanität normativ weder auf Säkularität noch auf Religiosität zu verengen. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Themen Digitalisierung und Ökologie, die sehr gewinnbringend im Hinblick auf die Spannung zwischen Ver- und Entnetzung diskutiert werden.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Gender Kultur Politik Queer Rassismus / Diskriminierung Religion Stadt / Raum

Abbildung Profibild Johanna Hoerning

Johanna Hoerning

Johanna Hoerning ist Juniorprofessorin für Raumsoziologie an der TU Berlin. Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind Stadt- und Raumforschung, soziale Ungleichheit, politische Soziologie und dekoloniale Perspektiven.

Alle Artikel

Empfehlungen

Judith von der Heyde, Francesca Barp

„Der Prototyp Ultra ist ein Mann“

Judith von der Heyde im Gespräch über ihre Forschungen zur Fankultur

Artikel lesen

Esther Hutfless

Eine kritische Theorie im Interregnum

Rezension zu „Queere Theorien zur Einführung“ von Mike Laufenberg

Artikel lesen

Gudrun-Axeli Knapp

Von der Schwierigkeit, Probleme zu benennen

Zwei Essaybände fragen nach den Voraussetzungen intersektioneller Kritik

Artikel lesen

Newsletter