Katharina Hoppe | Rezension | 06.11.2024
„This is fine.“ – Verleugnungspraktiken der Gegenwart
Rezension zu „Disavowal“ von Alenka Zupančič
Eines der bekanntesten Memes zur Klimakatastrophe zeigt einen Comic-Hund, der auf einem Stuhl an einem Tisch bei einer Tasse Kaffee sitzt, während um ihn herum Flammen lodern: Der Hund sitzt in einem brennenden Haus. In den Rauchschwaden und Flammen ist in einer Sprechblase zu lesen: „This is fine.“ Bei jeder Katastrophenmeldung, jedem neuen Temperaturhoch, jeder Bekanntgabe weiterer Förderung fossiler Infrastruktur zirkuliert das Bild gepaart mit der jeweiligen Meldung wieder in den sozialen Medien. Ein Ausdruck von Galgenhumor? Von Zynismus? Womöglich. Aber auch: Von einem gesellschaftlichen Gespür für das, was die slowenische Philosophin Alenka Zupančič in ihrem Essay Disavowal als systematischen Verleugnungszusammenhang beschreibt, der die Gegenwart prägt.
Die Hauptthese von Zupančič' Essay ist so einfach wie eingängig: Die krisengeschüttelte Gegenwart ist von unterschiedlichen Modi der Verleugnung gezeichnet, die einander zuwiderlaufen. Praktiken der offenen Leugnung von Fakten (denial), die mit Populismen assoziiert seien, würden Praktiken der Verleugnung gegenüberstehen (disavowal), die ihren Ausdruck in einer „business-as-usual“-Haltung fänden (S. 4). Dass diese beiden Verleugnungsformen – die man im Deutschen vielleicht etwas ungelenk als Ableugnung (denial) und Verleugnung (disavowal) bezeichnen kann – aufeinander reagieren und sich wechselseitig verstärken, werde mehr und mehr zum Kernbestand der Politik, die so vor allem eins befeuere: geschäftigen Stillstand. Während ableugnende Praktiken oft als irrational und problematisch verhandelt werden, seien es die gewöhnlicheren Verleugnungspraktiken des „weiter so“, die kaum als solche erkennbar seien und die Zupančič psychoanalytisch-sozialphilosophisch zu ergründen versucht.
In einem ersten Schritt sucht Zupančič ihren gegenwartsdiagnostischen Zugang zu plausibilisieren. Die „Serialität“ (S. 6) der Krisenerfahrungen der vergangenen Jahre zeichne sich laut Zupančič durch eine doppelte Struktur aus: Erstens würden die Krisen uns – und damit sind Gesellschaften des Globalen Nordens gemeint – in alptraumhafter Weise mit etwas grundlegend Verstörendem konfrontieren, das sich nicht allein an ihren äußeren, punktuell katastrophischen Erscheinungen festmachen lasse. Denn in den lodernden Flammen der Katastrophe gebe es weitere „fire within the fire“ – verstörende Feuer zweiter Ordnung sozusagen, die nicht unmittelbar als solche erkenn- oder erfahrbar sind (S. 10). Diese Feuer, deren zerstörerische Kraft noch weitaus größer ist als die der offensichtlichen Krisenerscheinungen, wollen oder können nicht gesehen werden. Denn Feuer erster Ordnung – die sichtbaren Katastrophen – und deren politische wie gesellschaftliche Bearbeitung tragen zweitens, so Zupančič' These weiter, dazu bei, die Feuer zweiter Ordnung ignorierbar zu machen. Der Klimawandel und dessen Politisierung sei ein paradigmatisches Beispiel für diese Krisenstruktur. Die allermeisten Personen seien zwar zweifelsohne „aufgewacht“ und eine offensive Ableugnung (denial) des Klimawandels keine verbreitete Antwort (mehr), dennoch würden sich Praktiken der Verleugnung (disavowal) immer weiter verbreiten und ausdifferenzieren – sie reichen von Alltagspraktiken wie der Nutzung von SUVs als E-Modell bis hin zur Verleugnung des Klimawandels durch seine Anerkennung durch immer neue Taskforces. Gemein sei diesen Verleugnungspraktiken, dass das Phänomen des Klimawandels zwar als problematisch oder krisenhaft anerkannt werde, dessen „shattering, game-changing dimension“ (S. 15) – das Lodern der Feuer zweiter Ordnung – jedoch verleugnet werde.
Ausgehend von dieser Krisendiagnose steht die Arbeit am Begriff im Zentrum des zweiten und längsten Teils des Essays. Hier soll das Spezifische der nicht-offensiven Verleugnung mithilfe psychoanalytischer Deutungsangebote (und weniger mittels aktueller sozialwissenschaftlicher Forschung) ergründet werden. Ohne zu tief in die psychoanalytischen Feinheiten ihrer (lacanianisch geprägten) Diskussion einzusteigen, ist eine argumentative Weichenstellung hervorzuheben, die sich aus Zupančičs Analyse des Verhältnisses von Wissen und Glauben ergibt. Unter Rekurs auf die Hopi-mythologische Figur der Katcina zeigt sie, dass der Glaube dem Wissen und der Erkenntnis konstitutiv vorausgeht. Katcinas sind vergleichbar mit uns vielleicht bekannteren Mythen wie jenem des Weihnachtsmanns: Kinder realisierten an irgendeinem Punkt, dass der Weihnachtsmann ihre verkleidete Tante, ihr Onkel, Vater oder ihre Mutter ist. Das Bewusstsein für objektiven Betrug durch die Erwachsenen, also durch eine Autorität, ermögliche neue Erkenntnis, eröffne aber auch die Möglichkeit, überhaupt an etwas zu glauben. Denn vor der Enttarnung, so die Pointe, wussten die Kinder es nicht besser. Die Frage „Glaubst Du noch an den Weihnachtsmann?“ macht nur unter der Prämisse Sinn, dass man weiß, dass es ihn nicht gibt. Wissen und Glauben (wobei hier nicht religiöser Glaube gemeint ist) etablierten sich also gleichzeitig – und nicht in einer Art Stufenmodell, an dem sich Regression ablesen ließe. Wichtig ist Zupančič, die affektive Dimension des Wissens und dessen Bindung an den Glauben freizulegen, um auf diese Weise sichtbar zu machen, dass Glaube – den sie als eine Form der Verleugnung begreift, weil er gegenüber Wissen resistent ist – paradoxerweise konstitutiv auf die Enthüllung der Wahrheit angewiesen ist (S. 30).
Mit diesem grundlegenden Argument bereitet Zupančič die im Anschluss vorgestellte These vor, die den Kollaps der sozialen Autorität der Wissenschaften nicht als regressive Bewegung ins Vormoderne versteht, sondern als eine Verschiebung innerhalb des Glaubens und der Vertrauensstruktur. Denn das Vertrauen in oder der Glaube an wissenschaftliche Autorität sei, wie jede Bindung an Autorität (einschließlich dem frühkindlichen Glauben an den Weihnachtsmann), blind. Damit soll Wissenschaft keineswegs relativiert, sondern ihre soziale Autorität erhellt werden. Warum aber ist der Glaube an die Autorität der Wissenschaften in die Krise geraten? Laut Zupančič liegt es am Wunsch, die Feuer zweiter Ordnung zu ignorieren. Diese entsprängen – „boring and predictable“ (S. 41) – dem Kapitalismus und es seien seine Zumutungen ebenso wie seine Persistenz, die verleugnet würden. Wissenschaft als zentraler Bestandteil sozialer Ordnung und damit der kapitalistischen Struktur büße seine Autorität nicht nur ein, weil Feuer erster Ordnung überall loderten, während der Kapitalismus die Lebensgrundlagen zerstöre, sondern weil die Feuer zweiter Ordnung ignoriert würden. Diese Ignoranz sei Folge eines traumatischen Moments, nämlich des Gefühls, dem kapitalistischen Lodern nicht entkommen zu können. Es sei die Ohnmacht, die nicht gefühlt werden wolle: „Denial of climate change is in this sense a result of the disavowal of the brutal reality of capitalism. And so is the denial of, or refusal to accept, many other scientific facts.” (S. 44). Ihre These der engen Bindung von Glauben und Wissen ermöglicht es Zupančič, die in ihren Augen wichtigste Dimension gegenwärtiger Verleugnungspraktiken zu plausibilisieren: den Umstand, dass anerkennende Bezugnahmen auf Fakten selbst Bestandteil von Praktiken der Verleugnung sind, ja sogar ihren Kern ausmachen. So liege der fetischisierende Charakter gegenwärtiger Leugnungspraktiken gerade darin, dass „declaring to know“ zentraler Bestandteil sei. So könne man über die wissenschaftlichen Ergebnisse in Bezug auf den Klimawandel sprechen, aber die Bekämpfung der Ursachen trotzdem auf die lange Bank schieben: „the result of disavowal is that knowledge remains in play; one can talk about it calmly and not deny its content, but the reality (of this knowledge) is lost.“ (S. 51) Hier wird, so Zupančič, Wissen selbst zum Fetisch und paradoxerweise sogar zu einem Hilfsmittel der Verleugnung. Es handle sich entsprechend nicht um einen Fetisch im metaphorischen Sinne, der Wissen überbewerten würde, sondern um einen Fetisch im klinischen Sinne, der etwas verdeckt, es erlaubt zur Tagesordnung überzugehen und ‚Realität zu de-realisieren‘ (S. 81): „We know better than to allow anything to really get to us.“ (S. 53) Die Feuer zweiter Ordnung können in dieser Weise auf Abstand gehalten werden.
Der dritte Teil des Essays wendet sich mit dem entwickelten begrifflichen Instrumentarium Verschwörungsideologien zu, um die „curious complicity“ (S. 92) und „certain dialectic“ (S. 92) zwischen der business-as-usual-Haltung und den vermeintlich verrückten Verschwörungsideologien zu belegen. Laut Zupančič ist hier die Figur eines ‚omnipotenten Betrügers‘ (S. 94) zentral. Er bleibe in Verschwörungsideologien diffus, ihm würden zumeist nicht einmal Gründe für den Betrug zugeschrieben – worin genau ‚seine Interessen‘ oder ‚seine Profite‘ bestehen, bleibt unbestimmt. Das vorwiegende Motiv für eine Bindung an Verschwörungsideologien liege dennoch im Betrug selbst. Zupančič begründet das wiederum psychoanalytisch: Es gehe weniger um eine Versicherung des Selbst durch die Reduktion von Komplexität; die ultimative Versicherung, die der Glauben an Verschwörungsideologien garantiere, sei vielmehr existenzieller Natur: „The important thing is that, as long as there is an attempt to deceive me, as long as I’m an object of the Other’s machinations or of the Other’s enjoyment, I exist.“ (S. 109) Wie auch die alltäglicheren Verleugnungspraktiken dienen ableugnende und verschwörungsideologische Praktiken dazu, die Feuer zweiter Ordnung (und teilweise auch jene erster Ordnung) nicht adressieren zu müssen. Stattdessen versichern sie ein Selbst, das sich womöglich vergessen, ja inexistent fühlt.
Abschließend kommt Zupančič auf die zeitdiagnostischen Implikationen ihrer Überlegungen zurück, denn die Dialektik zwischen Ableugnung und Verleugnung schlägt sich auch im Sozialen nieder: Während ableugnende Praktiken (insbesondere Verschwörungsideologien) Kollektive konstituierten, bleibe Verleugnung ein „individual mass phenomenon“ (S. 122) mit wenig sozialer Bindungskraft. Die ableugnenden Kollektive würden häufig als ‚Mob‘ oder ‚Masse‘ disqualifiziert, die politische Antwort auf sie bestehe einzig in einer weiteren Bestärkung individueller Praktiken der Verleugnung. Diese Strategie komme nun jedoch an ihre Grenzen. Für Zupančič ist es ein häufiger Fehler der Politik und gegebenenfalls auch der Kultur- und Sozialwissenschaften, immer schon Bescheid wissen zu wollen, alles zu begreifen, stets Verständnis zu haben: In dieser Weise werde ein Graben gezogen zwischen jenen, die verstehen und jenen, die dies nicht können. Ehrliche Irritation findet keinen Raum. Vielmehr seien beide Seiten in einer Form der Unmittelbarkeit[1] und Reaktion gefangen, die wenig Handlungsspielraum lasse. Um auszubrechen aus der destruktiven und sich wechselseitig befeuernden Dialektik der Verleugnung, sei es nötig „some alienation and negativity“ (S. 126) zuzulassen. Sich den Feuern zweiter Ordnung zuzuwenden und sich dem Gefühl von Entfremdung auszusetzen, das die eingefahrenen Antworten auf die Feuer erster Ordnung erzeugen – dies wäre eine Möglichkeit, Distanz zwischen sich und die destruktive Kraft des dialektischen Verleugnungsstrudels zu bringen und Handlungsfähigkeit herzustellen.
Mit Disavowal ist Zupančič ist ein äußerst anregender Essay gelungen, der in zeitdiagnostischer und theoriepolitischer Hinsicht einen Nerv trifft. Theoriepolitisch wird deutlich, dass die Frage nach den gesellschaftlichen Beharrungskräften, die Stephan Lessenich und Thomas Scheffer kürzlich als das „soziologische Rätsel“ der Stunde bezeichnet haben,[2] ohne Anleihen bei psychoanalytischen Wissensbeständen kaum zu beantworen sein wird. Ob es dafür großer lacanianischer Einlassungen bedarf, sei dahingestellt, aber – wie Zupančič überzeugend darlegt – hilft ein Hinzuziehen psychoanalytischer Deutungsmuster zweifelsohne, Prozesse kollektiver Abwehr zu erhellen. In diesem Sinne stellt der Text eine Einladung zur Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie dar und macht mit den unterschiedlichen Begriffen von Verleugnung einen ersten Aufschlag. In zeitdiagnostischer Hinsicht fügt der Fokus auf die zwei Spielarten der Verleugnung und ihr dialektisches Verhältnis der Frage nach den gesellschaftlichen Beharrungskräften aber auch eine weitere Dimension hinzu. Eine reiche sozialwissenschaftliche Kritik des „Solutionismus“, also jener Positionen, die mit einer (meist technisch-managerialen) Lösung der Klimakrise aufwarten und existenzielle Bedrohungen in dieser Weise sowohl normalisieren als auch in die Zukunft verschieben, liegt bereits vor.[3] Die Perspektive von Zupančič geht darüber hinaus: Durch sie gerät die verleugnende Dimension von Alltagspraktiken ebenso in den Blick wie die Verleugnung, die in politischer Geschäftigkeit zu suchen ist und sich in immer weiteren Summits, Gipfeltreffen und so weiter niederschlägt. Dabei attestiert die Autorin dem Globalen Norden jedoch keineswegs eine allgemeine Amnesie. Vielmehr lädt ihr Fokus auf Verleugnungspraktiken zur Analyse der genauen Funktionsweisen von Abwehr ein, die auch sozial differenziert sind. Die Abwehrreaktionen indes allein auf das unterschwellig lodernde Feuer des Kapitalismus zurückzuführen, erscheint jedoch allzu einfach, denn die Feuer zweiter Ordnung sind viel heterogener. Die rein ökonomistische Perspektive übersieht, wie sehr es der Verleugnung auch um eine Absicherung von Privilegien geht, die in keinem Widerspruch zu den destruktiven Effekten kapitalistischer Vergesellschaftung stehen. Es verwundert, dass Zupančič der glänzend herausgearbeiteten Problemdynamik eine derart pauschalisierende Analyse zugrundelegt, zeigt ihr Essay doch, dass im Gestus der offensiven Anerkennung einer anonymen Problemkonstellation wie jener „des Kapitalismus“ auch die sozialwissenschaftliche Wissensproduktion nicht davor gefeit ist, einer fetischisierenden Verleugnungsdynamik in die Hände zu spielen und dem praktischen „Weiter-so“ Vorschub zu leisten. Für diese Mechanismen zu sensibilisieren, ist ein weiteres großes Verdienst von Zupančič' anregendem Essay. Denn: „None of this is fine.“
Fußnoten
- Zum Regime der Unmittelbarkeit siehe Anna Kornbluh, Immediacy: Or, The Style of Too Late Capitalism, London 2024.
- Stephan Lessenich / Thomas Scheffer, „Die Macht des Vordringlichen“, in: dies. (Hg.), Gesellschaften unter Handlungszwang. Existenzielle Probleme, Normalität und Kritik, Berlin 2024, S. 110-123, hier S. 110.
- Exemplarisch seien hier nur angeführt in Bezug auf die Kapazitäten von Daten: Evgeny Morozov, To save Everything, Click Here. The Folly of Technological Solutionism, New York 2013; Oliver Nachtwey / Timo Seidl, Die Ethik der Solution und der Geist des digitalen Kapitalismus, IfS Working Paper #11, 2017; und zur Kritik der Techno-Fix Vorstellung in Bezug auf ökologische Krisen siehe z.B. Michael Huesemann / Joyce Huesemann, Techno-Fix. Why Technology Won’t Save Us or the Environment, Gabrioly Island 2011; Jennie C. Stephens, The dangers of masculine technological optimism: Why feminist, antiracist values are essential for social justice, economic justice, and climate justice, in: Environmental Values 33(1), S. 58–70; sowie Marina Garcés, Neue radikale Aufklärung, Wien/Berlin 2019.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Gesellschaft Gesellschaftstheorie Kapitalismus / Postkapitalismus Ökologie / Nachhaltigkeit Philosophie Psychologie / Psychoanalyse
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Empfehlungen
Im Griff des Affekts
Rezension zu „Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“ von Stephan Lessenich
Nach dem Holozän
Rezension zu „Anthropozän zur Einführung“ von Eva Horn und Hannes Bergthaller
Christoph Deutschmann, Hannah Schmidt-Ott
Wie geht es mit dem Wachstum bergab?
Folge 28 des Mittelweg 36-Podcasts