Harald Bluhm | Rezension | 11.03.2020
Tocqueville als Soziologe
Rezension zu „The Anthem Companion to Alexis de Tocqueville“ von Daniel Gordon (Hg.)
Alexis de Tocqueville gehört zu denjenigen frühen Vertretern der Sozialwissenschaften, die auf beiden Seiten des Atlantiks Klassikerstatus genießen. Davon zeugen sowohl der von Cheryl B. Welch herausgegebene Cambridge Companion to Tocqueville[1] als auch der kaum weniger empfehlenswerte Chicago Companion to Tocqueville’s Democracy in America,[2] den James T. Schleifer ediert hat. Von den zahlreichen verfügbaren Textsammlungen und Einzelausgaben soll hier nur noch einmal die vorbildliche seitenidentische bilinguale Historical-Critical Edition of De la démocratie en Amérique von Eduardo Nolla erwähnt werden.[3] Dass eine deutsche Fassung dieses Werks, das auf dem besten Wege ist, sich als internationale Standardausgabe zu etablieren,[4] bis heute nicht existiert, ist umso bedauerlicher, als Tocquevilles Präsenz in der Gegenwart keineswegs nur auf akademische Betriebsamkeit und Klassikerpflege zurückzuführen ist. Seine Schriften rufen nach wie vor Interesse hervor, evozieren neue Lesarten und erfahren Aktualisierungen im Kontext zeitgenössischer Debatten zu Themen wie Sozialkapital, Entpolitisierung oder „sanfter Despotismus“ – um nur ein paar Stichworte aus der jüngeren Zeit zu nennen.
Wenn vor diesem Hintergrund ein weiterer Companion zu Tocqueville erscheint, dann sollte er die Auseinandersetzung mit dem vielschichtigen Werk des französischen Theoretikers um neue, bislang nicht oder kaum bekannte Facetten bereichern, um Aufmerksamkeit zu verdienen. Der hier zu besprechende, von Daniel Gordon edierte Band setzt den Akzent auf Tocquevilles Bedeutung für die Soziologie – und fügt sich damit ins Konzept der gesamten Anthem-Reihe, in der weitere Bände geplant sind, u. a. zu Hannah Arendt, Karl Mannheim, Max Weber, Pierre Bourdieu, Robert N. Bellah und Robert E. Park. Das anspruchsvolle Ziel ist es, „authoritative and comprehensive assessments of major figures in the development of Sociology of the last two centuries“[5] zu bieten. Für die Absicht, Tocqueville in diesem Rahmen als einen der Väter der Soziologie vorzustellen, macht der an der University of Massachusetts Amherst lehrende Herausgeber fünf Gründe namhaft: Tocqueville, so Gordon, betreibe sowohl vergleichende Soziologie als auch historische Soziologie, nutze Idealtypen, wisse um die Verknüpfung von Egalitarismus und Zentralisierung und erörtere funktionale Aspekte von Religion als Mittel zur (De-)Stabilisierung politischer respektive demokratischer Herrschaft.
Die Mehrzahl der Beiträge des Bandes ist eher an der Analyse von Argumenten und am Fortwirken theoretischer Motive interessiert als an historisch-kontextualisierenden oder hermeneutisch-interpretierenden Fragestellungen. Durch diese Herangehensweise soll Tocqueville mit gegenwärtig diskutierten Autoren ins Gespräch gebracht werden, etwa mit Michel Foucault oder mit Vertretern des Postmarxismus. Auch wenn nicht alle Autoren den Vorgaben in gleicher Weise gerecht werden, verleiht der um Aktualisierung bemühte Zugriff dem Sammelband Zug und Frische. Die jeweils zwanzigseitigen Beiträge der elf Autoren des mit 240 Seiten insgesamt recht schlanken Buches gruppieren sich in die folgenden sechs Teile: I. Religion and Immaterial Interests; II. Language, Literature, and Social Theory; III. Globalism and Empire; IV. Inequalities Inside Democracy; V. Citizenship, Participation, and Punishment; VI. An Unfinished Project – hier geht es um die Französische Revolution.
Leitend für die Auseinandersetzung mit Tocquevilles relevanten Texten, zu denen neben der Demokratieschrift und jener über das Ancien Régime auch die Texte über Algerien und das Gefängniswesen zählen, ist jeweils die Frage, was uns Tocqueville heute noch sagen kann. Dabei rücken häufig auch andere Autoren wie zum Beispiel Claude Lévi-Strauss oder W. E. B. Du Bois als Bezugsfiguren mit in den Blick, was zu interessanten Querverweisen führt. Zudem erwecken häufig auch Tocquevilles Stil und Sprache die Aufmerksamkeit der Interpreten, wobei zumeist digitalisierte Textmengen auf Worthäufigkeiten durchgesehen wurden, um so Besonderheiten herauszustellen und Einsichten zu gewinnen. Erwähnt sei, dass Tocqueville im Amerika-Buch mehrere hunderte Mal „ich“ sagt sowie 386 Mal den Begriff „Demokratie“ und 715 Mal den Ausdruck „demokratisch“ verwendet (S. 69, 71, 72). Solche quantifizierenden Feststellungen sind nicht unwichtig, aber erheblich wichtiger und informativer sind die sachlichen Erläuterungen zum Schreibstil, da es sich hierbei um ein selten ausgelotetes Thema handelt, wie Gordon zu Recht betont (S. 66). Für ihn ist Tocqueville ein sprachlicher Virtuose, der innovativ über das Verhältnis von Sprache und Gesellschaft nachgedacht hat. Die Modernität und Lesbarkeit des französischen Klassikers, die uns noch heute frappiert, führt Gordon auf dessen neuartigen Stil zurück, bei dem Subjektivierung, Distanz und Objektivität in einem Wechselspiel zusammenwirkten. Kritisch anzumerken ist, dass Gordon Tocquevilles Stil abgelöst von der literarischen Form und dem entwickelten Genrebewusstsein des Autors behandelt, was ein Manko seiner schönen Beobachtungen darstellt, auch wenn man fairer Weise zugestehen muss, dass ein Begleitband wie dieser wenig Raum für detaillierte Textanalysen bietet.
Die ersten beiden Kapitel sind Tocquevilles Religionsverständnis gewidmet. Während Raymond Hain die Position des Franzosen rekonstruiert, arbeitet Peter Baehr die Differenzen zur Auffassung von Karl Marx heraus, dem er eine funktionalistische Auffassung attestiert. Damit trifft Baehr zwar einen wichtigen Punkt, doch vermag seine Interpretation nur zu überzeugen, wenn man Marx‘ Einbettung in den Gedankenkreis der Junghegelianer und von Ludwig Feuerbach sowie die damit einhergehende anthropologische Dimension vernachlässigt. Tocqueville hingegen argumentiere differenziert, gehe nicht von einem zukünftigen Verschwinden der Religion aus und betrachte Effekte von christlichen und anderen Religionen für die Politik. Weitere wichtige Aspekte werden von Baehr unter der Leitdifferenz von Unabhängigkeit (Freiheit) und Abhängigkeit (Religion und Kirche) thematisiert, wobei Religion mit Blick auf ihre Bedeutung für Begrenzungen von Politik erörtert wird. Marxens ideologiekritische Entlarvung der Religion hingegen gilt ihm als abstrakt und apodiktisch (S. 21). Verglichen mit einem Buch wie etwa Alan S. Kahans Tocqueville, Democracy, & Religion,[6] in dem gezeigt wird, wie der große Franzose Religion zwar multidimensional, aber zumeist eben nur als Mittel und nicht als Zweck untersucht, bekommt man insgesamt wenig Neues geboten.
Im dritten Kapitel setzt sich Judith Adler mit Tocquevilles divergierenden Rollen als nach „grandeur“ strebendem Autor und Politiker auseinander. Dabei unterscheidet sie u.a. den Parlamentarier und Berichterstatter, aber auch den klugen Beobachter, jedoch ohne Tocquevilles Identität postmodern in die Vielfalt der Rollen zerstieben zu lassen. Die anhaltende Wirkung seiner Schriften erklärt sie mit den ästhetischen Ambitionen und den entsprechenden Fähigkeiten des Autors. Daniel Gordon spinnt in Kapitel vier einen anderen Faden fort. Neben seinen bereits eingangs erwähnten Punkten zur Sprache sowie zur Gleichzeitigkeit der kreativen Generierung und kritischen Untersuchung neuer Begriffe hebt er vor allem auf Tocquevilles Technik des Vergleichs ab. Anders, als von Raymond Aron und weiteren Interpreten unterstellt, gehe es dem Amerikareisenden Tocqueville nicht um die Gegenüberstellung zweier Varianten von Demokratie, sondern um die Kontrastierung von Aristokratie und Demokratie (S. 85). Auch diese These verdient es, weiter ausgelotet zu werden.
Eine Kontrastierung divergierender Art steht am Beginn des siebten Kapitels von Patrick Breen, der mit einem berühmten Zitat aus W. E. B. Du Bois‘ 1903 erschienenem Klassiker The Souls of Black Folk einsetzt: „The problem of the twentieth century is the problem of the color-line.“ Darauf folgt eine kaum minder bekannte Bemerkung von Martin Luther King, der 1963, dem Jahr, in dem Du Bois starb, festhielt: „The Negro is still not free; […] the life of the Negro is still sadly crippled by the manacles of segregation and the chains of discrimination“ (S. 129). Das vorausgeschickt, zeigt Breen sodann, warum Tocquevilles Versuch, die Problematik von Sklaverei und Diskriminierung aus der eigentlichen Darstellung der US-amerikanischen Demokratie herauszuhalten, problematisch ist. Material führt er dies auf Tocquevilles mangelnde Kenntnis des Südens der USA zurück. Bedenke man sowohl ihr frühes Aufkommen in der ersten Kolonie im Jahr 1638 (S. 135) als auch das lange Fortwirken der Sklaverei, so sei es systematisch zwingend, über Tocqueville hinausgehend zu fragen, ob die Sklaverei und der mit ihr verbundene Rassismus nicht zum Kern der US-amerikanischen Gesellschaftsstruktur gehören.
Auch Tocquevilles Ansichten zur gesellschaftlichen Rolle und Stellung der Frau werden kontrovers diskutiert.[7] Im achten Kapitel des Companion führt Jean Elisabeth Pedersen eindrücklich Tocquevilles Halbherzigkeiten vor und zeigt, verknappt und pointiert formuliert, wie dieser – trotz aller Einsichten in die Bedeutung der amerikanischen Frauen für Erziehung, Bildung, Sitte und Religion – letztlich einem maskulinistischen Republikanismus frönt und die Frauen weitgehend aus der Politik heraushält. Pedersens Darstellung ist instruktiv, weil sie den Vergleich zwischen der Rolle der Frau in Frankreich und den USA, den Tocqueville in seiner Schrift über die Demokratie in Amerika entwickelt, gekonnt mit weiteren vergleichenden Betrachtungen zur Farm, zur Industrie und den Assoziationen sowie zur Regierung in Beziehung setzt. Tocquevilles Ansichten markierten eine Schlüsselposition in der jahrhundertealten Debatte über den idealen Platz der Frau in Familie, Gesellschaft und Politik (S. 159). Zugleich mache sein Beharren auf der größeren sozialen Prägekraft der Sitten gegenüber den Gesetzen verständlich, warum trotz aller rechtlichen Maßnahmen die Gleichheit der Geschlechter bis heute nicht verwirklicht sei (S. 161).
Das vergleichende Vorgehen Tocquevilles wird, wie bereits erwähnt, auch von anderen Beiträgen thematisiert, so etwa von Andrew Dausch, der sich dem transkulturellen Vergleich bei Tocqueville und Lévi-Strauss zuwendet. Sehr erfreulich und deshalb positiv hervorzuheben ist auch, dass in dem vorliegenden Companion die enge Kooperation von Tocqueville mit Gustave de Beaumont einmal jenseits der Schrift über das US-amerikanische Gefängnissystem zum Thema wird. Das überrascht nicht, weil für diese Aufgabe mit Andreas Hess ein Autor gewonnen wurde, der mit der Arbeitsweise der beiden „Textmaschinen“ bestens vertraut ist. In seinem Beitrag fasst er seine bereits an anderer Stelle[8] formulierten Einsichten konzentriert zusammen und zeigt instruktiv auf, wie Tocqueville mit Beaumont nicht nur den Vergleich von Frankreich, den USA und England im Blick hatte, sondern warum neben Algerien auch Irland – Beaumonts epochemachendes Buch über Irland erschien 1839[9] – eine besondere Rolle spielt. Die Pointe, dass Algerien als „Frankreichs Irland“ zu begreifen sei (S. 105), eröffnet einen neuen Blick, der über die in diesem Kontext vielfach debattierten Grenzen von Tocquevilles aristokratischem Liberalismus hinausgeht. Von hier aus wird auch das Paradoxienmanagement konträrer Motive (nationale Größe, republikanische Kritik am Bourgeois) verständlich, die Tocquevilles Beobachtungen des problematischen Kolonisierungsprojektes in Algerien stetig begleiten.
Näher besprochen wird in dem Band auch Tocquevilles Sicht auf Gefängnisse und Besserungsanstalten. Chris Barker verweist zu Beginn seines Aufsatzes auf das bemerkenswerte Paradox, dass ausgerechnet der französische „arch-associationist“, der die Kunst der Assoziationen feiert, die Praxis der Isolationshaft befürwortet (S. 188). Das weise auf unaufgelöste Spannungen im Werk von Tocqueville (und Beaumont) hin, die zwischen deren republikanischem Freiheitsverständnis und den faktischen Effekten von Gefängnissen und den Ansprüchen von Besserungsanstalten bestehen, die auf ein Leben im Sinne positiver geordneter Freiheit vorbereiten sollen, ohne den Raum dafür zu bieten, da korruptive Einflüsse der Kommunikation unter Gefangenen untereinander als zentrale Gefahr gelten. Zudem stellt Barker stellt den Reichtum der Tocqueville‘schen Überlegungen im Vergleich zu denjenigen Michel Foucaults heraus. In der Moderne lässt sich nach Barker mitnichten eine Wendung zur bloßen Überwachung beobachten. Vielmehr zeigten Tocquevilles Ausführungen zu den Frühformen des im Laufe der Zeit ins gigantische gewachsenen US-amerikanischen Gefängniswesens, dass bereits im 19. Jahrhundert zahlreiche divergierende Strategien der Kontrolle und Beherrschung von Körper und Geist existierten, von denen der französische Klassiker mehr beobachtete als der spätere Diskursanalytiker.
Im theoriegeschichtlich angelegten neunten Kapitel geht Peter Breiner detailliert auf Tocquevilles Beziehung zu Jean-Jacques Rousseau ein, den er im Unterschied zu vielen zeitgenössischen Kritikern stets geschätzt hat. Von dem Genfer Philosophen übernimmt er – ebenso wie von Montesquieu – nicht nur die Betonung der Sitten (habitudes du cœur) und ihrer politischen Bedeutung, sondern auch die in dessen Souveränitäts- und Gleichheitskonzeption gegebene demokratietheoretische Problemstellung. Breiner zeigt, dass Rousseaus Frage, wie sich die Gleichheit der Menschen im staatlichen Zustand bewahren lässt, von Tocqueville zwar in einen neuen theoretischen Rahmen überführt, aber letztlich nicht aufgelöst wird. Die Übertragung der bei Rousseau kleinräumig gedachten Demokratie in einen Flächenstaat mit gestaffelter institutioneller Ordnung (Gemeinden, Counties, Staaten, Bundesstaat) verschiebt die zwischen den horizontalen und vertikalen Beziehungen der Bürger und ihrer Repräsentanten bestehenden Spannungen in ein prozedural strukturiertes System, in dem sie gleichwohl existent bleiben. Tocquevilles Unterscheidung zwischen einer Zentralisierung der Regierung und der Verwaltung werde den Anforderungen an ein modernes Gemeinwesen überdies nicht gerecht, da schon die Kontrolle der Verwaltung viel komplexer zu denken sei.
Den Abschluss des Companions bilden Darlegungen von Patrice Higonnet und Daniel Gordon zur Französischen Revolution, die Tocqueville sein Leben lang beschäftigt hat. Der Artikel bietet eine gute Übersicht und geht auf die bereits vor 1789 erfolgende Revolution der Verwaltungs- und Regierungszentralisation ebenso ein wie auf das Paradox, dass politische Revolutionen oft in Phasen erster Liberalisierung beginnen und nicht in Zeiten verschärfter Unterdrückung. Ersichtlich gegen unkritische Klassikerverehrung von Tocqueville gerichtet ist auch die pointierte Bemerkung der beiden Autoren, dass Über die Demokratie in Amerika „retitelt“ werden müsste. Der angemessene Titel wäre: „Dark Thoughts about the French Revolution Which occured to Me in 1830-31 as I toured North America with Beaumont“ (S. 210). Auch Der alte Staat und die Revolution sei ein „misnomer“, da Tocquevilles vermeintliche Geschichte der Revolution schon im Frühjahr 1789 und damit vor deren eigentlichem Ausbruch ende. Derlei Bemerkungen sind zwar erfrischend keck, bleiben aber hinter dem Stand der Forschung zurück. Tatsächlich wissen wir über Tocquevilles Vorhaben inzwischen doch einiges mehr. Vor allem ist bekannt, dass er von der Wiederkehr des Bonapartismus als autoritärer Antwort auf die 1848er-Revolution beeindruckt war und die Geschichte von 1789 im Licht der Ereignisse seiner Zeit schreiben wollte. Dass ist den beiden Interpreten freilich nicht entgangen, aber sie machen zu wenig daraus. Hier wären mehr Nähe zum Text und ein stärkerer Bezug auf andere Interpretationen wünschenswert gewesen, auch wenn sich das auf den zur Verfügung stehenden 20 Seiten pro Kapitel nur schwer realisieren lässt.
Der gesamte Band ist übersichtlich angelegt und anregend zu lesen. Vor allem aber ist er eindeutig für den US-amerikanischen Markt konzipiert. In den USA fungiert Tocqueville ja nicht nur als ein viel interpretierter Klassiker, sondern auch als Referenzautor in öffentlichen Debatten über die Demokratie und deren Gefährdungen. Für hiesige Verhältnisse, in denen Tocqueville – was Editionen, Publikationen und erst Recht seine Bedeutung für demokratische Selbstverständigungsdiskurse betrifft – ein eher randständiges Dasein fristet, bietet es sich an, zur Abrundung des Bildes auch die eingangs erwähnten Companions von Welch und Schleifer mit zur Hand zu nehmen. Auch ein Blick in die einst innovativen deutschen Tocqueville-Reader von Albert Salomon[10] und von Siegfried Landshut,[11] die im Buchhandel schon lange nicht mehr erhältlich sind, erweist sich im Hinblick auf einzelne Aspekte nach wie vor als lohnend. Allen Interessierten, denen auch das noch nicht reichen sollte, seien zur vertiefenden Lektüre die gute Auswahl des Tocqueville Reader[12] und der exzellent komponierte Band Tocqueville Lettres choisies, Souvenirs: 1814–1859[13] empfohlen, der die Biografie anhand von Textquellen erschließt.
Die sowohl disziplinär als auch genealogisch ausgerichtete Anlage des Anthem Companion, die den Soziologen Tocqueville ins Zentrum rückt, vermag in meinen Augen nicht rundum zu überzeugen, weil Tocqueville seine Arbeit selbst immer wieder als „neue politische Wissenschaft“ bezeichnet hat. Hier könnte mehr Gelassenheit die Lösung sein, da Tocqueville zweifellos in die Reihe derjenigen sozialwissenschaftlichen Klassiker gehört, die viele Felder bestellt und für mehr als eine Disziplin Bedeutung erlangt haben. In seinem Fall sind das, wie Richard Swedberg überzeugend gezeigt hat,[14] sowohl Politikwissenschaft und Soziologie als auch Geschichte und Ökonomie. Implizit gilt dies übrigens auch für den vorliegenden Band, sind doch die Autoren nur zu einem geringen Teil Soziologen, sondern in der Mehrzahl Historiker und Politikwissenschaftler. Gerade dadurch wurden Engführungen vermieden, wie es sie etwa bei dem klugen und viel diskutierten Band von Jon Elster gab, der Tocqueville durch seine Rational-Choice Brille betrachtet und zu einseitig als The First Social Scientist[15] gedeutet hat. Der anhaltende Reiz von Tocqueville liegt für meine Begriffe darin, dass er vor der Ausdifferenzierung der sozialwissenschaftlichen Disziplinen schrieb, weshalb man ihn mit Rücksicht auf seine Themen, seinen Stil und die von ihm genutzten diversen Genres als Protagonist einer weit gefassten Public Political Science begreifen sollte. Auf diese Weise erreicht Tocqueville einen großen Adressatenkreis, was gewiss damit zu tun hat, wie mehrere Beiträge des Companions betonen, dass sein Denken um den normativen Kern eines nicht-utilitaristischen Begriffs von Freiheit und die damit verbundene praktische „Kunst, frei zu sein“ kreiste.
Fußnoten
- Cheryl B. Welch (Hg.), The Cambridge Companion to Tocqueville, Cambridge 2006.
- James T. Schleifer (Hg.), The Chicago Companion to Tocqueville’s Democracy in America, Chicago, IL 2012.
- Eduardo Nolla (Hg.), Democracy in America. Historical-Critical Edition of De la démocratie en Amérique, 4 Bde., übers. von James T. Schleifer, Indianapolis, IN 2010. Leider wird diese Ausgabe im vorliegenden Band nur von wenigen Autoren genutzt.
- Eine – ebenfalls seitenidentische – spanische Fassung erschien 2018.
- So heißt es auf dem Innenumschlag des vorliegenden Bandes.
- Alan S. Kahan, Tocqueville, Democracy, & Religion. Checks & Balances for Democratic Souls, Oxford 2015.
- Vgl. dazu auch die Beiträge in Eileen Hunt Botting / Jill Locke (Hg.), Feminist Interpretations of Alexis de Tocqueville, University Park, PA 2009.
- Andreas Hess, Tocqueville and Beaumont. Aristocratic Liberalism in Democratic Times, Basingstoke 2018. Vgl. auch ders., Gustave de Beaumont. Tocqueville’s Darker Shadow?, in: Journal of Classical Sociology 9 (2009), 1, S. 67–78.
- Gustave de Beaumont, Ireland. Social, Political, and Religious, o. O. 1839.
- Alexis de Tocqueville, Autorität und Freiheit, hrsg. von Albert Salomon, Zürich 1935.
- Alexis de Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit, hrsg. von Siegfried Landshut, 2. Aufl., Wiesbaden 1967. Für die letzte deutsche Ausgabe mit Texten von Tocqueville siehe ders.: Kleine politische Schriften, hrsg. v. Harald Bluhm, Berlin 2006.
- Alan S. Kahan / Olivier Zunz (Hg.), The Tocqueville Reader. A Life in Letters and Politics, Oxford 2002.
- Françoise Mélonio / Laurence Guellec (Hg.), Tocqueville. Lettres choisies, Souvenirs: 1814 – 1859, Paris 2003.
- Richard Swedberg, Tocqueville`s Political Economy, Princeton, NJ 2009.
- Jon Elster, Alexis de Tocqueville. The First Social Scientist, Cambridge 2009.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Politische Theorie und Ideengeschichte Demokratie Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaftstheorie
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