Kathrin Groh | Rezension | 04.02.2025
Vom Ende einer Legende
Rezension zu „Enduring Enmity. The Story of Otto Kirchheimer and Carl Schmitt“ von Hubertus Buchstein

Der deutsch-amerikanische Jurist und Politikwissenschaftler Otto Kirchheimer war ein Nicht-Schmittianer, wenn nicht gar ein Anti-Schmittianer (S. 494). Auf knapp 500 Textseiten räumt Hubertus Buchstein radikal mit der „kitschy legend“ (S. 473) dauerhafter Zugewandtheit zwischen dem rechten Staatslehrer Carl Schmitt und seinem linken Schüler Otto Kirchheimer auf. Er stützt sich auf unbekanntes Archivmaterial, auf Gespräche mit Zeitzeugen und auf eine Neulektüre der Schriften beider Autoren, um damit die Geschichte einer fast 40 Jahre andauernden Feindschaft zwischen den beiden zu erzählen.
Buchstein bezieht vielleicht etwas zu vehement Stellung gegen die Vereinnahmung Kirchheimers als Pate des Links-Schmittianismus. Dieses Label wurde Kirchheimer nach seinem viel zu frühen Tod infolge eines Herzinfarkts im Jahre 1965 angeheftet. Hätte er das gewusst, er hätte sich dagegen gewehrt. Kirchheimer fand im staatstheoretischen Denken Schmitts zwar eine wichtige Quelle für sein eigenes Werk. Andere Autoren, wie beispielsweise Rudolf Smend, Theoretiker der marxistischen Linken oder der Frankfurter Schule beeinflussten ihn aber weitaus mehr, weshalb er Schmitts Staats-, Rechts- und politische Theorie in ihrer Brauchbarkeit für die Herausforderungen demokratischer Staaten viel negativer beurteilte als die zeitgenössischen Links-Schmittianer es heute tun (S. 478).
Die Vereinnahmung Kirchheimers als Schmittianer ist Teil einer vor allem um die Weimarer Rechts- und Linksintellektuellen kreisenden Forschungskontroverse.[1] Sie wurde genährt durch ein von Schmitt selbst befeuertes Missverständnis über angeblich lebenslange Besuche Kirchheimers in Plettenberg, das von der Literatur ungeprüft übernommen und weitergetragen wurde. Schmitt, der sich nach 1945 als fehlgedeutete Kassandra und als Opfer alliierter Siegerjustiz wahrnahm, setzte zeitlebens alles daran, seinen früheren Einfluss auf die Staatsrechtslehre und Politik der Weimarer Republik auch in der Bundesrepublik wiederzuerlangen. Dafür war ihm jedes Mittel recht. Als er mitbekam, dass Kirchheimer, den er eben noch als persona non grata betrachtet und über den er gewettert hatte, er bedauere es, ihn überhaupt promoviert zu haben (S. 469), in der linken politischen Literatur der Nachkriegszeit zunehmend populärer wurde, wollte er davon profitieren. Dazu musste er das Narrativ über das Verhältnis zwischen ihm und Kirchheimer kontrollieren und setzte die Legende vom gelehrigen Schüler in die Welt.
Buchsteins Darstellung verknüpft die Geschichte der zeitlichen Schnittpunkte und thematischen Überschneidungen zwischen Kirchheimers und Schmitts wissenschaftlichem Denken und Schreiben mit ihren Biografien und ihrer wechselvollen persönlichen Beziehung zueinander. Diese dichte, mehrere Ebenen miteinander verbindende Interpretation ist ausgesprochen spannend zu lesen, weil sie persönlichen Kontext in die wissenschaftliche Werkanalyse bringt und eindrücklich zeigt, wie weit sich beide auch methodisch voneinander entfernten, und warum ihr anfangs trotz ihrer politischer Gegnerschaft freundschaftliches Verhältnis letztlich in persönlicher Feindschaft endete.
1905 als Sohn einer jüdischen Familie in Heidelberg geboren, kam Kirchheimer als junger Studierender nach Bonn zu Schmitt, dem antisemitischen Katholiken, um zu testen, ob Schmitts staatstheoretisches Denken für die politische Linke fruchtbar gemacht werden könne – was sich schnell als „lost cause“ entpuppte (S. 42). Kirchheimer blieb dennoch in Bonn und promovierte dort 1928 bei seinem „Ersatzvater“ (S. 58) mit einer Arbeit Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus. Politisch engagierte er sich im marxistischen Flügel der Jungsozialisten und der innerparteilichen Linksopposition der SPD. Deren Verfassungskritik matchte zunächst mit Schmitts beißender Polemik gegen Parlamentarismus und Pluralismus sowie dessen konsequenter Ablehnung von liberaler Demokratie und Weimarer Verfassung. Schmitt selbst zog seinen Nutzen daraus, Kirchheimer unter seine Fittiche zu nehmen, denn durch ihn bekam er Einblick in marxistisches und sozialistisches Staatsdenken. Kirchheimer stieg schnell in den inneren Kreis der Schmitt-Adepten auf. Kurz vor der Zerstörung der Weimarer Republik emanzipierte sich Kirchheimer aber bereits von Schmitts Demokratieverständnis und lief in das Lager der Verteidiger der parlamentarischen Demokratie über.[2] Einen großen Riss bekam ihre Beziehung nach dem sogenannten Preußenschlag im Juli 1932, den Kirchheimer verurteilte, Schmitt dagegen verteidigte. Nun wurde der von dem kritikaversen Schmitt zunächst hochgeschätzte Studierende Kirchheimer zu einem „scheußlichen Kerl“ und einem scheußlichen Juden (S. 130, 157).
Während Schmitt im Dritten Reich anfänglich Karriere machte und zum „Kronjuristen“ (Waldemar Gurian) der Nazis[3] aufstieg – Kirchheimer war unter den ersten, die ihn als „the ‚theorist of the Nazi Constitution‘“ benannt hatten (S. 199) –, musste Kirchheimer 1933 aus Deutschland fliehen. Er ging zunächst ins Exil nach Frankreich und vier Jahre später von dort weg in die USA. Von hier aus beteiligte er sich an der publizistischen Agitation gegen Nazi-Deutschland und schoss dabei auch scharf gegen Schmitt. Unterstützt wurde er dabei, wie Buchstein schreibt, unter anderem durch Franz L. Neumann, den späteren Autor des Behemoth,[4] der über England in die USA emigriert war und ebenfalls noch eine Rechnung mit Schmitt offenhatte: „They wanted to ‚get back at Schmitt‘ and send him a ‚message across the Atlantic‘“ (S. 253). Letztlich hatten die Veröffentlichungen von Schmitt und Kirchheimer aber nur noch thematische Überschneidungen. Methodisch entfernte sich der Politologe Kirchheimer von Schmitt. Während sich Schmitts wortakrobatische Schriften methodisch schwer fassen lassen – er war Jurist, politischer Theologe, Rechts- und Staatsphilosoph –, bezog Kirchheimer viel klarer theoretische Arbeiten auf empirische Studien und analysierte seine Fragestellungen faktenbasiert.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs saß Schmitt dann auf der Nürnberger Anklagebank und hatte sein Ansehen genauso wie seinen akademischen Posten in Deutschland verloren, während Kirchheimer auf der Siegerseite stand und als Jurist für sie arbeitete. Schmitt, der Kirchheimer seit seiner Flucht aus Deutschland im Wesentlichen ignoriert hatte, versuchte nun, sich wieder an ihn heranzuwanzen. Er übermittelte Kirchheimer zunächst Grüße aus seiner Einzelzelle in Nürnberg (S. 359), später auch seine Schriften: „Perhaps he was hoping that Kirchheimer would help him, perhaps he was afraid that Kirchheimer could harm him“. Ihre Schriften aus der Zeit beschäftigten sich mit den gleichen Themen, dem internationalen Recht und dem Dritten Reich. Für Buchstein lesen sie sich wie „an indirect dialogue under the condition of personal absence“ (S. 379).
Ganz loslassen konnte Kirchheimer die toxische Beziehung zu Schmitt nicht. 1949 tauchte er an dessen Hof in Plettenberg auf. Das Motiv, das Kirchheimer zu diesem Besuch veranlasste, ist unklar. Wollte er Schmitt an dessen persönliche Schuld als Antisemit und Nazipropagandist erinnern, die dieser in seiner Rechtfertigungsschrift Ex captivitate salus[5] heruntergespielt hatte? Oder war das ein „Akt stolzer Selbstbehauptung“ (S. 393), mit dem er seinem ehemaligen Mentor zeigen wollte, dass dieser ihn nicht kleingekriegt hatte? Von jenem Augenblick an tauschten beide jedenfalls wieder Schriften und Briefe aus und trafen sich ein weiteres Mal. Kirchheimer wirkte hierbei wenig enthusiastisch. Seine Mitwirkung an einer Festschrift für Schmitt lehnte er ab. Während er ab Mitte der Fünfzigerjahre endlich auch akademisch als Politikwissenschaftler in den USA Fuß fasste – von 1955 an als Professor an der New School of Social Research in New York, ab 1960 dann an der Columbia Universität –, setzte er sich in seinen Werken weiterhin mit Fragen der deutschen und europäischen Politik der Nachkriegszeit auseinander. In diesem Zusammenhang knöpfte er sich auch die Schmittianer Ernst Forsthoff, Werner Weber, Ernst Rudolf Huber und Joseph H. Kaiser mit ihren ohne nennenswerten empirischen Kontext geschriebenen pluralismuskritischen Werken vor, die auf den Aufbau eines starken und autoritären Staates in Deutschland zielten. Er selbst verlagerte seinen Forschungsschwerpunkt auf die Parteien- und Oppositionsforschung.[6] Als sein Hauptwerk gilt bis heute allerdings das Buch Politische Justiz.[7] Darin kam er – ganz im Gegensatz zu Schmitts Arbeiten auf diesem Feld – zu dem Ergebnis, dass der demokratische Rechtsstaat durch eine Verrechtlichung und Juridifizierung von Politik einen zivilisierenden Einfluss auf politische Konflikte und einen integrierenden Einfluss auf die Gesellschaft hat, sein Ausbau also zu begrüßen sei.
Schmitt feilte in Deutschland derweil an seinem Selbstbildnis und scheute auch nicht den Umweg über eine US-amerikanische Dissertation, in der der von ihm gebriefte Doktorand ihn als „defender of the Weimar constitutional order“ beschrieb, um sich „via the US“ in Deutschland politisch zu rehabilitieren (S. 455, 453). Kirchheimer unterband diesen Versuch. Als Mitglied der zuständigen Promotionskommission an der Columbia University ließ er den Doktoranden George D. Schwab durchfallen,[8] weil dieser nicht lege artis gearbeitet und die Auseinandersetzung mit der schmittkritischen Literatur in seiner Dissertation einfach ausgelassen hatte. Schmitt wütete in Plettenberg, weil er hierin einen politisch motivierten Angriff Kirchheimers auf seine Person vermutete. Der Kontakt zwischen beiden brach daraufhin für immer ab.
Buchstein unterscheidet am Ende seines Buchs vier Phasen des Umgangs Kirchheimers mit Schmitt, seinen Werken und seinem Denken, die mehr oder weniger chronologisch aufeinander folgten und überzeugen: cherry-picking and reframing, frontal attack, condemning Schmitt as a Nazi propagandist und deliberate disregard (S. 478 ff.). Im Verlauf des Buches wirkt die analytische Gegenüberstellung mancher Werke Kirchheimers und Schmitts aus der Zeit nach der Zerstörung der Weimarer Republik zwar ein wenig konstruiert. Sie illustriert aber gut, mit welchen großen Themen sich die beiden, die sich durch ihren untrüglichen Blick für die relevanten Fragen ihrer Zeit auszeichneten, in welcher Phase ihres Lebens warum, mit welchem Ziel und mit welchem Ergebnis beschäftigten und wie sie zueinander standen. Das macht das Buch – auch wenn es auf Englisch ist – nicht nur zu einem großen Lesevergnügen. Es setzt auch einen wichtigen Punkt in der wissenschaftshistorischen Debatte um den Links-Schmittianismus und beleuchtet das Werk von Otto Kirchheimer aus einer persönlicheren Perspektive.
Fußnoten
- Ein guter Überblick findet sich bei Riccardo Bavaj, Otto Kirchheimers Parlamentarismuskritik in der Weimarer Republik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 33–51.
- Volker Neumann, Verfassungstheorien politischer Antipoden: Otto Kirchheimer und Carl Schmitt, in: Kritische Justiz 14 (1981), 3, S. 235–254, hier S. 243 ff.
- Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt: Sein Aufstieg zum „Kronjuristen des Dritten Reiches“, Darmstadt 1995.
- Franz L. Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, Hamburg 2018. An diesem Buch, an dem Neumann zwischen 1941 und 1944 arbeitete, hat Kirchheimer mitgewirkt.
- Carl Schmitt, Ex captivitate salus. Erinnerungen der Zeit 1945/47 [1950], 3. Aufl., Berlin 2010.
- Einen kurzen Überblick bietet Ulrich von Alemann, Otto Kirchheimer – ein Hidden-Champion. Mittler zwischen Staatslehre und Politikanalyse, in: Mitteilungen des Instituts für deutsches und internationales Parteienrecht und Parteienforschung 22 (2016), 1, S. 84–92.
- Otto Kircheimer, Politische Justiz. Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken [1965], überarb. und korr. Neuausg., Hamburg 2020.
- George D. Schwab, The Challenge of the Exception: An Introduction of the Political Ideas of Carl Schmitt between 1921 and 1936, Berlin 1970. Das Buch wurde auf Betreiben Schmitts bei seinem Haus- und Hofverlag Duncker & Humblot in Deutschland veröffentlicht.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
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