Jan Philipp Reemtsma | Essay |

Was ist soziales Vertrauen – und wann gerät es in eine Krise?

Oder: warum und wann werden eigentlich die Leute verrückt?

[1] Am 14. Oktober 2024 war in der Welt ein mit „Vertrauenskrise in der Demokratie“ überschriebener Artikel zu lesen, der von der nicht stattfindenden oder unzureichend stattfindenden Aufarbeitung der Covid-Epidemie in Deutschland handeln sollte. Besonders ging der Artikel auf die (ich zitiere wörtlich) „traumatischen Erfahrungen“ ein, die die Vorschrift, in Speisewagen der Bundesbahn Masken zu tragen, und sie nach dem Absetzen eines Trinkglases wieder aufzusetzen, bedeutet hätten. Traumatische Erfahrungen. Es sind Kleinigkeiten, die die Leute verrückt machen. Masken in Supermärkten und in Bahnrestaurants. Vermutlich wäre eine erzwungene Einteilung zu einem Abtransport von Covid-Toten auf weniger Verstörung gestoßen, hätte möglicherweise zu einem gesteigerten Vertrauen in Regierung und Institutionen geführt. Aber Maßnahmen gegen ungeniertes Niesen und Husten in vollen Zügen? Sauve qui peut! Vertrauenskrise der Demokratie.

Vertrauen ist ein in diversen politischen Diskursen gern gebrauchtes Wort – Vertrauen oder Misstrauen (Misstrauen in die Politik, Vertrauen zurückgewinnen et cetera). In der Soziologie war „Vertrauen“ eine Zeitlang ein vieldiskutiertes Thema. Ich möchte weder das eine noch das andere traktieren. Ich möchte auch nicht fragen, „was Vertrauen eigentlich sei“, denn – da folge ich Karl Popper – nach Wörtern sollte man nie fragen. Man sollte klarlegen, worüber man sprechen will, und dann möglichst einleuchtende Termini dafür finden. Da es nur sehr selten klug ist, ganz neue Wörter ins Spiel zu bringen (das heißt nur dann, wenn es einem auf Charakteristika und Unterscheidungen ankommt, die so noch nicht gemacht worden sind), wird man sich eingeführter und dann vielleicht etwas anders gebrauchter Wörter bedienen müssen, und irgendwie gerät man dann doch in etwas, was aussieht wie ein Streit um Worte. Wie sagt der Schüler zu Mephisto: „Doch ein Begriff muß bei dem Worte sein!“, und Mephisto antwortet enerviert: „Schon gut!“ –, weshalb man diesen scheinbaren Streit so führen muss, dass klar bleibt, dass es um Sachverhalte, Tatbestände, soziale Phänomene und so weiter geht, nicht um Wörter und was sie „eigentlich bedeuten“ (denn so etwas gibt es nicht).

Worum geht es, wenn wir über „Gesellschaft“ reden? Um alles Mögliche, gewiss, aber gewiss tun wir es immer unter einem besonderen Gesichtspunkt, dem dass es weitergeht. Gesellschaft ist, was immer weitergeht. Brüche, Revolutionen etwa, das Kollabieren von Reichen und Ähnliches beschreibt Soziologie als Transformation. Wenn etwas in irgendeinem nachvollziehbaren Sinn „weg“ ist, kann man auch nichts mehr sagen als bloß das. Soziologie besteht in den vielen Möglichkeiten, das Es-geht-weiter zu beschreiben. Eine dieser Möglichkeiten (und ich meine, es ist eine interessante), besteht darin, dies unter dem Aspekt des Vertrauens, genauer: des sozialen Vertrauens zu tun.

Vertrauen, so wie man diesen Ausdruck gemeinhin verwendet, ist entweder personales Vertrauen oder institutionelles Vertrauen. Personales Vertrauen heißt, Vertrauen in nahe oder fernere Menschen zu haben mit denen man Umgang hat oder haben möchte, denen man gewissermaßen einen Erwartungsvorschuss gibt. Der neue Briefträger wird mir weiterhin Briefe bringen und keine Briefbomben, mein Bettnachbar wird morgens nicht plötzlich nach kurzem Nachdenken mit dem Hammer auf mich einschlagen. Institutionelles Vertrauen: die Post wird meine Briefe (einigermaßen) pünktlich bringen, und wenn nicht, kann ich mich beschweren und ich weiß, wo. Wenn morgen kein Wasser aus meiner Leitung fließt, habe ich alles Recht der Welt zu brüllen: „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“

Was ich nun soziales Vertrauen nenne, ist gewissermaßen eine Stufe höher angesiedelt, es schließt personales und institutionelles Vertrauen mit ein, ist aber nicht einfach eine Kombination dieser Faktoren. „Soziales Vertrauen“ nenne ich die uns allen (jedem sogenannten „Mitglied der Gesellschaft“) eigene Unterstellung, dass „es so weitergeht“. Wohlgemerkt – und da kommen wir an eine der Klippen der Wortverwendung – damit ist nicht gesagt, dass soziales Vertrauen etwas mit Sich-Wohlfühlen, einem Gefühl gemeinsamer Nähe oder etwas Ähnlichem zu tun hat. Vertrauen ist auch nichts „Gutes“, wie auch Misstrauen nichts „Schlechtes“ ist; beides gehört zusammen.

Soziales Vertrauen ist die Unterstellung einer gewissen Regelmäßigkeit des sozialen Lebens. Und dass es Möglichkeiten gibt, eventuelle Unregelmäßigkeiten zu kompensieren, zu berichtigen, zu übersehen, zu leugnen – oder durch Misstrauensstrategien zu bewältigen. In jedem Falle bedeutet soziales Vertrauen, dass man weiß – dass ich weiß – dass Sie wissen – dass wir wissen, dass die Leute um uns wissen, was sie als Nächstes machen sollen. Der größte Teil des menschlichen Lebens (das, trotz Rousseau, seit je soziales Leben gewesen ist), besteht aus Routinen. Routinen zu folgen, bedeutet, immer ungefähr zu wissen, was man als Nächstes tun soll beziehungsweise tun wird – genauer gesagt: es nicht bewusst zu wissen, sondern es einfach zu tun. Machte man sich bewusst, was man „eigentlich“ alles sehen, wissen, beurteilen, gedanklich antizipieren müsste, um wirklich claire et distincte zu „wissen“, was man als Nächstes tun müsste, man wäre auf der Stelle gelähmt. Es ist wie das berühmte Gleichnis vom Tausendfüßler, den man fragt, welchen Fuß er zuerst vor den nächsten setzt, und der daraufhin nicht mehr laufen kann.

Soziales Vertrauen heißt, dass man Routinen lebt, ohne sich dessen bewusst zu sein – bewusst sein zu dürfen. Das ist soziales Vertrauen. Man lebt nicht, wie man lebt, weil man Vertrauen hat, sondern soziales Vertrauen ist diese Art zu leben. Denn soziales Vertrauen besteht darin, dauernd etwas zu tun und zu sagen – und zu unterlassen zu tun und zu sagen! –, das allen anderen signalisiert, dass es-so-weitergeht. Jedes Tun und Lassen, jedes Sagen und Nicht-Sagen hat eine doppelte Seite: das zu tun/sagen, was man zu tun/sagen meint oder möchte, und zu signalisieren, dass es weitergeht. Kommunikative Akte schließen aneinander an, Handlungen folgen aufeinander, beziehen sich aufeinander… – Gesellschaft kann man als ein großes Signalsystem verstehen, in dem dauernd jeder und jede einander versichert: Es geht weiter! Du darfst deinen Routinen folgen! Es wird dauernd, mit jeder Handlung, mit jedem kommunikativen Akt signalisiert, dass Normalität herrscht, das heißt dass man ein ungeheures Maß an Möglichem nicht in Betracht ziehen muss. Ich trage hier vor Ihnen etwas vor und indem ich vortrage, mache ich klar, was Sie von mir als mögliches Verhalten nicht in Betracht ziehen müssen. Ich werde, zum Beispiel, nicht auf Sie schießen. Und Sie sind ein Auditorium, dass dadurch, dass es sich wie ein Auditorium benimmt, mir klar macht, was ich von Ihnen als mögliches Benehmen nicht in Betracht ziehen muss. Zum Beispiel, dass Sie (einige von Ihnen) auf mich schießen. – Nun kann das eine oder andere durchaus passieren. Wir wissen, was plötzlich, alle antizipierten Wahrscheinlichkeiten, alle Routinen durchbrechend, Besuchern von Weihnachtsmärkten geschehen ist. Man kann solche Ereignisse aus unterschiedlicher Perspektive betrachten (etwa: wie kommt es zu solchen Tatsequenzen?), in unserem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Auswirkung auf das soziale Vertrauen. Was ist zu beobachten? Menschen rennen weg, sie versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Das mag gelingen oder nicht, es wird aber deutlich, dass auch in einem solchen Fall die Leute wissen, was sie als Nächstes tun müssen. Nämlich weglaufen. Dass Weglaufen etwas ist, was man als Nächstes tun sollte, und zwar so, dass man sich in Sicherheit bringt, ist alles andere als trivial. Es setzt die nicht bewusste, reflexhafte Unterstellung voraus, dass es hier einen Ort extremer Gefahr, dort aber einen Ort oder Orte wenigstens relativer Sicherheit gibt. Das ist eine Unterstellung, die an Orten wie einer Stadt, in der regelmäßig Straßenkämpfe herrschen, nicht unbedingt gegeben ist. Waren Sie mal in Beirut, waren Sie mal im (London)Derry der 70er Jahre?

Was folgt, sind Handlungen und kommunikative Akte, die die gefährdeten Routinen wiederherstellen. Man redet über das Ereignis, man „erklärt“ (obwohl kein Mensch weiß, was das ist), die TV-Nachrichten „ordnen ein“ (das Wort bezeichnet genau das, was man will: das Außergewöhnliche in den Reigen des durch Routinen Bewältigbaren einzureihen oder als Ausnahmen zur Routinebestätigung einzusetzen). Man untersucht, man findet Fehler (waren die Poller intakt, die Fluchtwege offen?), repariert, man bereitet sich auf die Erfordernisse eines nächsten ähnlichen Falles vor. Soll heißen: gestörte Routinen werden durch Anpassungsstrategien adjustiert.

Eine dieser Anpassungsstrategien nennt man „Misstrauen“. Sie fahren U-Bahn, ohne Gedanken an mögliche Überfälle zu verschwenden, aber vielleicht – je nachdem, in welcher Stadt Sie sich aufhalten – gehen Sie nach Mitternacht nicht auf den Hauptbahnhof. Sie integrieren das Bewusstsein, dass es da einen Ort der Unsicherheit gibt, einen Ort, der für Ihre Bahn-Fahrt-Routinen nicht geeignet ist, in ihre Routinen: Da gehen Sie nicht hin. Durch diese Unsicherheit wird die Dimension des sozialen Vertrauens, die „öffentlicher Nahverkehr“ heißt, nicht zerstört, sie wird an neue Umstände adjustiert. Sie sind nicht plötzlich generell misstrauisch, sondern setzen Ihre Fähigkeit des Misstrauens gezielt ein.

Es kann kein Mensch generell misstrauisch sein; auch der konstitutionell ängstlichste und verdachtgeneigteste nicht. Es ist mit Vertrauen/Misstrauen wie mit der Skepsis. Man kann nicht an allem zweifeln. Ludwig Wittgenstein hat in seinen Notizen „Über Gewißheit“ darauf hingewiesen (und Donald Davidson hat es weiter ausgearbeitet), dass man nicht schlechthin skeptisch sein kann. Um hier skeptisch zu sein, braucht man anderswo Gewissheiten. Wer sich in Zermatt hinstellt und sagt, er zweifle an der Existenz des Matterhorns, dem ist die Frage entgegenzuhalten: Und woran – sieh dich mal um! – zweifelst du nicht? Und warum zweifelst du speziell an der Existenz des Matterhorns?

Denken Sie an einen, der sich entschlossen hat, sein Misstrauen gegen „das System“ militant zu leben. Er hält alles für Lug und Trug, was ihm die Presse serviert, das TV erzählt, er sieht überall Machenschaften. Er beschließt, Terrorist zu werden. Er braucht eine Waffe – und muss dem vertrauen, von dem er den Tipp erhält, wo eine Pistole ohne Registriernummer zu erwerben ist (und darauf, dass der Verkäufer kein Polizeispitzel ist). Wer in ein Ausbildungscamp irgendwo in der Wüste reisen möchte, verlässt sich auf die internationale Infrastruktur, die ihm eine Reise in irgendein arabisches Land ermöglicht (Flugzeug- und Busverbindungen, Grenzkontrollen, auf die er sich vorbereiten kann, der heruntergeladene Schnellkurs Arabisch); wer eine Bahn durch eine Bombe zum Entgleisen bringen will, muss Vertrauen in die Pünktlichkeit der Bahn haben. Sogar ein sogenannter Prepper, der sich durch das Anlegen von Vorräten in seinem Keller oder in einer Höhle im Wald auf den totalen Kollaps von Allem und Jedem vorbereitet, wird dem Haltbarkeitsdatum auf den Konservendosen vertrauen müssen. Man kann, um einen berühmten Aphorismus abzuwandeln, nicht nicht vertrauen. Und Misstrauen ist eine der wichtigsten Strategien des Vertrauenserhalts.

Wenn soziales Vertrauen zusammenbricht

Und doch ist die Frage erlaubt, ob es einen Zusammenbruch sozialen Vertrauens geben kann. Ja, vermutlich ist das möglich. Wir haben, glaube ich, zwei historische Großbeispiele. Das eine ist der Kollaps der Bevölkerung der karibischen Inseln nach dem Eintreffen der Spanier zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Sie starb an Gewalt, an unbekannten Krankheiten und an der Unfähigkeit, sich an eine vollkommen veränderte Welt anzupassen. Es wurden keine Kinder mehr geboren; wenn doch, wurden sie getötet. Viele begingen Selbstmord. Sie waren nicht mehr in der Lage, sich vorzustellen, was sie als Nächstes machen könnten, um ihre Überlebenschancen zu erhalten. Die heutige Bevölkerung der karibischen Inseln besteht aus den Nachkommen der spanischen Einwanderer und der dorthin verschleppten afrikanischen Sklaven.

Ein anderes Beispiel ist die Krise, die tausend Jahre zuvor das Byzantinische Reich traf. Da gab es Seuchen, Kriege, Hungersnöte, aber die waren nicht das Entscheidende. Denn man wusste, was man in solchen Fällen zu tun hatte: beten, Messen lesen lassen, Testamente zu Gunsten der Kirche und der Klöster aufsetzen, Kirchen bauen. Die Archäologie verzeichnet einen Boom an Kirchenbauten in jenen Jahren. Man war nämlich der Meinung, dass das Ende der Welt und das Jüngste Gericht bevorstünden – circa ein halbes Jahrtausend nach der Kreuzigung Christi – , und dass die Schreckensnachrichten vom prophezeiten letzten Gefecht kündeten, das der Antichrist dem kommenden Heil liefere. Das also war die Krise nicht. Sie kam, als das erwartete Datum verstrich, und die schrecklichen Ereignisse den ihnen zugesprochenen Sinn einbüßten, und damit alles, was man unternommen hatte, um im Sinne dieses „höheren Sinnes“ zu agieren, sich als gleichfalls sinnlos herausstellte. Man kehrte zu paganen Religionen zurück, stürmte und verwüstete Kirchen und Klöster, und es wird von dem berichtet, was auch aus den Zeiten der mittelalterlichen Pest berichtet wird: man feierte Orgien auf Friedhöfen.

Ob das nun stimmt oder die Fantasie sich das ausdenkt, um die Sache auf den Punkt zu bringen, spielt vielleicht keine große Rolle. Die Bedeutung dieser Realität oder Fantasie ist klar: Wenn unklar wird, was man sinnvollerweise als Nächstes machen kann, wird alles möglich, und diese Freiheit von Routine (und damit verbunden: Moral, Anstand, ordentlichem Benehmen, Berechenbarkeit) wird mit Wonne ausgelebt, und zwar gerade dadurch, dass man die kräftigsten Tabus bricht: Friedhofschändung durch öffentlichen Sex.

Bekannt ist noch ein weiterer Bereich, in dem soziales Vertrauen kollabierte, in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Normalerweise wird in Straf- und Konzentrationslagern der Welt, aus der man kommt, eine eigene Lagerwelt gegenübergestellt, an die man sich so schnell wie möglich anzupassen hat. Wer aber in ein Vernichtungslager deportiert worden war, erfuhr sehr schnell, was der Zweck des gesamten Lagers war, die systematische Ermordung aller Insassen. Die einzig offene Frage war, wie lange es bis dahin dauern würde; (und, vielleicht, gab es die Hoffnung, das Näherkommen einer alliierten Armee würde die Vernichtung unterbrechen). Auch für die Zeit des Noch-Lebens in solchen Lagern gab es Routinen – und gab es gleichzeitig nicht. Klar war, was ein Häftling keinesfalls tun durfte, wollte er ein wenig länger leben, aber es war niemals klar, ob das Befolgen von Regeln, das Erlernen von Routinen wirklich Sicherheit bedeuten würde. Ein ehemaliger Häftling berichtet, dass er, gepeinigt von extremem Durst, einen Eiszapfen vom Dach einer Baracke abgebrochen habe und von einem Mithäftling die Warnung erhielt, das dürfe er auf keinen Fall tun. Auf die Frage Warum? war die Antwort: Hier gibt es kein Warum! Ein anderer Häftling hatte in den Boden seines Essnapfs den Merksatz geritzt: Niemals Warum fragen. Das Leben für die Häftlinge bestand darin, nie in irgendeiner Routine Sicherheit finden zu können. Dies wurde durch den nahezu unbegrenzten Willkürspielraum bewirkt, der allen Wachhabenden zugestanden worden war. Ein Lagerkommandant, der gerade ein neues Kommando angetreten hat, erkannte einen Häftling, den er schon in dem KZ, aus dem er gerade versetzt worden war, gesehen hatte – und erschoss ihn mit den Worten: „Der läuft mir nicht mehr hinterher.“

Ein Beispiel mit umgekehrten Vorzeichen: Es ist oft berichtet worden, dass sich in den Wochen des endgültigen Zusammenbruchs Nazi-Deutschlands Wehrmachtssoldaten in den US-amerikanischen Kriegsgefangenenlagern meldeten und um Aufnahme baten. Nicht, dass sie ihr Gewehr wegwarfen und versuchten, ihre Uniform loszuwerden. Sie waren augenscheinlich so aus allen Handlungszusammenhängen geworfen – Nachrichtenlage diffus, Wehrmachtsverbände versprengt, Kommandostrukturen unklar, oft nicht sicher, wo überhaupt die Front war – dass die Frage, was als Nächstes zu tun sei, Vielen unüberwindbar komplex erschien. Wie es ihnen in Kriegsgefangenschaft ergehen würde, wussten sie nicht, aber dass überschaubare Routinen sie erwarteten, erwarteten sie.

Ein anderes Szenario, der Bombenkrieg, der die deutschen Städte von 1939 bis 1945 traf. Bekanntlich wurde das Ziel, das Vertrauen der Bevölkerung in das Regime zu erschüttern (mit der Hoffnung, diese Erschütterung werde irgendwelche praktischen Folgen haben), nicht erreicht (diese Erfahrung hat sich wiederholt, etwa im Fall Nord-Vietnams und immer wieder). Man sieht, wie der Mensch sich an extreme Bedrohungen (und zwar in Permanenz) anpassen kann – wenn es ihm gelingt, seine Routinen darauf einzustellen, das heißt wenn er neu lernt, was unter diesen neuen Bedingungen als Nächstes zu tun ist. In diesem Fall: zu wissen, wo der nächste Bunker ist, Wasser und Sand für Löscharbeiten zur Hand zu haben, sich an Verdunkelungszeiten zu halten, mitzuhelfen, Leichen zu bergen… Eine solche Adaption der Routinen dient auch dazu, die Routinen, die eben einfach weitergehen und deren man sich nicht bewusst ist, aufrechtzuerhalten. Anders gesagt: das soziale Vertrauen hält sich trotz extremer Veränderungen, ja Erschütterungen der Lebensbedingungen aufrecht.

Es gehören Geschichten dazu. Als die Bevölkerung der von katastrophalen Entwicklungen betroffenen Gebiete im Byzantinischen Reich die Geschichte vom bevorstehenden Ende der Welt nicht mehr zur Verfügung hatten, kollabierte das soziale Vertrauen, die Leute wurden stellen- und zeitweise verrückt. Auch die Bewohner der karibischen Inseln hatten keine Geschichte, in die die ankommenden Spanier einen Ort hätten haben können. Jean Améry spricht davon, in Auschwitz hätten fromme Christen und gläubige Kommunisten größere Überlebenschancen gehabt als atheistische Liberale. Für die ersten beiden Gruppen gab es Geschichten: die Prüfung Gottes, das letzte Gefecht. Geschichten, in denen sogar Ohnmacht und vollkommene Unberechenbarkeit ihren Ort hatten, Geschichten, in denen die Unfähigkeit zu wissen, was man als Nächstes tun könnte, damit es weitergeht, wenigstens einen Sinn hatte, und sei der noch so apokalyptisch. Die Anderen erlebten die vollkommene Sinnlosigkeit.

Die Bauernkriege des 16. Jahrhunderts waren natürlich auch Reaktionen auf die teilweise katastrophalen wirtschaftlichen Zustände auf dem Lande, auf Ausbeutung und Unfreiheit. Aber sie brachen aus, als die jahrhundertealte Geschichte, die die Welt in einen großen Verstehenszusammenhang brachte, das katholische Christentum, plötzlich in Frage gestellt wurde. Erprobte Geschichten und uralte Routinen gingen in die Brüche. Das gewohnte Marienbild galt plötzlich als Ketzerei, die regelmäßige Messe war kein biographischer Taktgeber mehr.

Während die Französische Revolution in Paris in ihre erste Phase ging, erfuhr das übrige Land „La Grande Peur“. Die ökonomischen Probleme, die man als Auslöser traditionellerweise annimmt, waren nichts Neues. Neu war, dass durch die Pariser Ereignisse die alten Geschichten (dass es immer wieder mal so schrecklich ist, dass es dennoch einen guten König gibt, der aber dafür nicht verantwortlich ist, sondern der böse, korrupte Adel) irgendwie nicht mehr die Situation zu erfassen schienen. Die Reaktion waren kollektive Angstzustände, auch Revolten hier und da, mehr blinde Aktionen als etwas wie revolutionäre Ereignisse. Brandstiftungen gegen Häuser und Schlösser von Aristokraten, zuweilen gegen ihre Ställe, gegen Pferde ebenso wie Kaninchen. Die bolschewistische Revolution von 1917 war ein auf Petersburg beschränkter Staatsstreich, der gelang, weil die Kerenski-Regierung nicht wusste, was sie als Nächstes tun sollte, nachdem die Bolschewiki ihre Absetzung verkündet hatten. Was dann in den folgenden Wochen und Monaten in Land geschah, waren Aufstände ohne politische Führung oder Ziel, gar Programmatik. Plünderungen, keine Expropriationen, Brandstiftung, Mord, Vergewaltigung, Massenalkoholismus. Es waren keine koordinierten Aktionen, es waren Aktionen, die sich ereigneten, weil es keine Strukturen mehr gab, die Routinen garantierten – oder an keine mehr geglaubt wurde, was in solchen Fällen auf dasselbe hinausläuft. Die Gruppe der Bolschewiki in Petersburg, die sich zur revolutionären Regierung ernannt hatte, reagierte, indem sie Kommissare auf Land schickte, deren Aufgabe es war, die Ereignisse „Revolution“ zu nennen und zu behaupten, sie stünden unter Kontrolle der revolutionären Zentrale. Man erfand eine Geschichte, in der das, was völlig eruptiv und unkontrolliert geschah, einen erzählbaren Sinn gab, es legitimierte. Zusätzlich zu der Geschichte wurde durch repressive Maßnahmen gegen jegliche Selbstorganisation, die das Chaos von sich aus hätte wieder beseitigen können, das künftige zentral-repressive Regime stückweise eingerichtet. Und neue Routinen wurden etabliert, etwa das Spitzel- und Denunziationssystem, das das bolschewistische System prägen sollte.

Lassen Sie mich zusammenfassen, was ich Ihnen bisher zu erzählen versucht habe. Soziales Vertrauen ist das Handeln in der kaum je bewussten Annahme, dass alles irgendwie so weitergeht wie bisher, dass man so weitermachen kann wie bisher, dass jede und jeder in etwa weiß, was sie oder er als Nächstes tun kann oder muss. Dass man auch dann, wenn diese Erwartung enttäuscht wird, weiß, was man dann machen kann oder könnte. Soziale Veränderungen können veränderte Routinen, andere Agierens- und Kommunikationsformen nötig machen, nennen wir es: kulturelle Veränderungen, soziale Evolution. Anders formuliert: die Routinen, die Modi sozialen Vertrauens ändern sich. Sehr selten gelingen solche Veränderungen nicht oder nur durch Katastrophisches hindurch, aber auch dieses „Hindurch“ ist eine Kontinuität, ein Es-geht-weiter, in dem genug Menschen überlebt haben, um umzulernen, die dann erneut wussten, was sie als Nächstes machen sollten.

In und mit diesen Änderungen ändern sich die Geschichten, die sich die Leute über sich, die anderen, die Welt erzählen. Die Weltuntergangsgeschichten, die für das frühe Christentum charakteristisch waren, haben sich bis ins Hochmittelalter gehalten (Krise des Jahres 1000), dann haben sie sich in die Theologie und ins Metaphorische verabschiedet. Von anderen Geschichten sozialer Selbstinterpretation lässt sich dasselbe sagen: Sie verschwinden, wenn sie nicht mehr plausible Annahmen zur Verfügung stellen, warum das, was man als Nächstes tun könnte, das Passende ist.

Und, wichtig: Soziales Vertrauen ist nichts, was gemacht wird; Vertrauen ist auch nicht, was man gewinnen könnte. Von sozialem Vertrauen sprechen wir, wenn alles weitergeht, ohne dass man darüber nachdenkt. Misstrauen ist eine Strategie, mit Momenten des gestörten So-Weitergehens zurechtzukommen. Wir überbewerten Misstrauen, weil wir bewusst misstrauen, so lange, bis wir unser soziales Vertrauen adjustiert haben. (Menschen nehmen Anhalter mit, lesen von Morden – oder sehen den Film „The Hitchhiker“ –, ihre Vertrauensroutine wird gestört, sie überlegen sich, ob sie künftig Anhalter mitnehmen oder nicht, wovon sie ihre Entscheidung abhängig machen sollten und so weiter – oder nehmen einfach keine Anhalter mehr mit, und denken nicht mehr drüber nach: „Anhalter? Natürlich nehme ich keine Anhalter mit!“. So oder so: Vertrauensroutine adjustiert.) Um ein Bild zu bemühen: Wir schwimmen oder treiben in einem riesigen Ozean des sozialen Vertrauens, in dem wir ab und zu Klippen erblicken, an denen manche unserer Mitschwimmer:innen scheitern, die meisten aber problemlos vorbeikommen. Ende der Zwischenzusammenfassung.

Öffnung und Fragilität

Wer sich heute über eine fehlende „Aufarbeitung“ der Covid-Epidemie (Epi-, nicht Pandemie, denn national kann der Umgang mit Pandemien nicht aufgearbeitet werden) beklagt, hat insofern Recht, als es an öffentlichem Nachdenken darüber fehlt, was bei einem kommenden nächsten Mal besser zu machen wäre. Immer mit der Einschränkung, dass wir ja nicht wissen können, welche Eigenschaften das nächste Virus oder Bakterium haben wird. Wer eine fehlende Aufarbeitung der Covid-Epidemie beklagt, weil er möchte, dass Fehlerlisten erstellt werden, gar irgendwer sich bei irgendwem entschuldigt – Entschuldigungen (genauer wohl: Bitten um Entschuldigung) einzufordern ist eine der besonders lästigen Moden der Gegenwart –, redet Unsinn und ist nur einer von denen, die von den verrückten Aufgeregtheiten der Covid-Monate nicht lassen mögen, augenscheinlich weil ihnen der mentale Zustand dieser Zeit ein angenehmes Seelen-Umfeld gewesen ist.

Ich möchte nicht missverstanden werden: es haben diese Monate für viele Leute große Belastungen mit sich gebracht, vor allem für Alleinerziehende, vor allem für Menschen mit Kleinbetrieben mit Kundenverkehr, Menschen, die kleine und große Veranstaltungen organisierten oder davon lebten, auf solchen Veranstaltungen aufzutreten. Und manche mehr. Schlimmer waren allerdings die dran, die an Covid gestorben sind. Keiner konnte am Anfang der weltweiten Pandemie sagen, wie viele es möglicherweise werden würden, wie das Virus mutieren würde, wie die Ansteckungswege waren, welche Teile der Bevölkerung ein besonderes Risiko tragen würden. Es musste improvisiert werden, und also war auch klar, dass nach Ende der Epidemie sich viele Maßnahmen als richtig und viele als unnötig oder falsch herausstellen würden.

Das ist erwartbar gewesen, derlei ist normal in anspruchsvollen Zeiten, derlei macht nicht das Ausmaß an in Wut transformierter Unsicherheit plausibel. Ja, man hat die Schulkinder unnötigerweise strapaziert – aber man kannte die Infektionsverläufe nicht. Leichtfertig war das nicht. Ja, es war Quatsch, die Leute von Parkbänken zu scheuchen, wenn sie dort zu zweit saßen, aber was wäre gewesen, wenn man sich in anderer Weise über die Infektionsweise und -wege geirrt hätte, wenn die Infektions- und Todeszahlen auf Grund unterbliebener Restriktionen weit höher gewesen wären? Man wusste es nicht vorher, konnte es nicht wissen, man ist nun klüger. „Aufzuarbeiten“ im Sinne betrübter Rückschau und einem „Herrjemine, was haben wir euch alles unnötigerweise zugemutet, verzeiht uns bitte“ ist nicht am Platze. Am Platze ist die Sammlung von Erfahrungen und das Ausarbeiten neuer Notfallpläne (in dem Wissen übrigens, dass der nächste Notfall anders aussehen wird).[2]

Aber so etwas wird, jedenfalls in der öffentlichen Diskussion, nicht angemahnt, sondern, wie gesagt, Entschuldigungen. Was möchte man damit? Man möchte die eigenen Erregungszustände nachträglich legitimiert wissen. Was hatte es mit ihnen auf sich? An einem Beispiel lässt sich das gut demonstrieren – dem Bemühen, in großen Mengen Klo-Papier zu kaufen und zu horten. Es gab keinen Mangel an Klopapier, er wurde (wie das so bei Panikkäufen ist) durch das Verhalten kurzfristig erzeugt. Dass sich eine generelle Verunsicherung – „was kommt auf uns zu, was wird werden?“ – diesen Ausdruck verschaffte, war einigermaßen zufällig. Fassen wir es in das vorgeschlagene Vokabular. Wer sich aufmachte, um große Mengen an Klopapier zu kaufen, hatte eine Antwort auf die Frage, was als Nächstes zu tun sei, gefunden: „Dies!“, und dass es ein Massenverhalten wurde, bestätigte den jeweils Einzelnen, dass sein Benehmen sinnvoll sei. Und dass auf Grund dieser Massenkäufe das Klopapier knapp wurde, war die nächste Bestätigung: „Hab ichs nicht gesagt?“

Was Leute in den Covid-Monaten erregte, war nicht die Bedrohung durch die Seuche, es war der Umstand, dass die Routinen durcheinanderkamen, nicht zuletzt durch die Kurzfristigkeit der für notwendig gehaltenen Maßnahmen und der dann schnell wieder veränderten Vorschriften. Soziales Vertrauen kam abhanden, nicht weil man auf einmal „der Obrigkeit“ misstraute – gewiss, diese Form nahm es zuweilen an –, sondern vor allem weil die Routinen als solche plötzlich infrage gestellt waren. „Was soll ich als Nächstes machen?“ – das stand in Frage, und zwar nicht im Großen und Ganzen, sondern im Kleinen, im zwar Lästigen, aber im Grunde Unwichtigen – Masken im Speisewagen der Bundesbahn, eine, wie zitiert, „traumatische Erfahrung“.

Diese Störung der Routinen, die zu einer so massiven Verstörung führt, macht nicht bewusst, sondern diffus fühlbar, was soziales Vertrauen ist, woran wir alle, unser Lebensgefühl bis hin zu unserer geistigen Gesundheit hängen: der unbewussten Unterstellung, dass es „so weiter geht“, und dass wir, wenn es mal nicht „so weiter geht“, dennoch wissen, was wir „dann machen“ müssen, und welche Geschichten zur „Einordnung“ wir parat haben müssen, um von Regel und Ausnahme sprechen zu können. Wenn uns das abhanden kommt – und das sind nicht die Nachrichten und die beschworenen großen Drohungen Klima & Krieg, sondern es sind die Kleinigkeiten –, fühlen wir die Fragilität unseres Daseins. Seit Kierkegaard kennen wir dafür den Begriff „Angst“. Es ist nicht der Abgrund, vor dem ich Angst habe, schrieb Sartre, sondern weil ich nicht weiß, was ich als Nächstes tun werde: hinunterspringen?

Panik entsteht nicht aufgrund einer Bedrohung, meinte Sigmund Freud in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“, sondern weil sich die Bindungen einer zuvor homogenen (sich als homogen empfindenden) Masse auflösen. Die Leute geraten in Angst und Wut, nicht weil sie eine Bedrohung empfinden, auf Grund derer sie nicht wissen, was sie als Nächstes tun sollen, sondern weil sie nicht wissen – meinen, nicht mehr zu wissen –, was sie als Nächstes tun sollen, geraten sie in Angst und transformieren zuweilen ihre Angst in Wut (oder Klopapierkäufe), weil sie dann wenigstens „etwas“ tun. Der Verlust sozialen Vertrauens ist nicht die Ursache von Katastrophen, sondern das Potenzial für soziale Katastrophen liegt in der Erfahrung der Fragilität sozialen Vertrauens.

Diese Fragilitätserfahrungen können erfahren werden wie in den Covid-Monaten: verstörend, plötzlich, und sie werden als umso verstörender erfahren, je weniger die realen Probleme Möglichkeiten bieten, auf neue Routinen umzusteigen (weshalb – vermutlich – ein katastrophalerer Verlauf der Covid-Epidemie die Leute seelisch weniger belastet hätte: Sie hätten zu tun gehabt). Fragilitätserfahrungen können aber auch die langfristigen, weniger als Plötzlichkeiten erfahrbare Begleiterscheinungen sehr langfristiger sozialer Veränderungsprozesse sein. Für solche Prozesse gibt es soziologische Kennbegriffe, zum Beispiel „Modernisierung“. Ich möchte auf ein Transformationsmodell zu sprechen kommen, das von Karl Popper in seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ umrissen worden ist, die Transformation von geschlossenen zu offenen Gesellschaften. Diese Transformation ist nichts, was hier und da passiert (ist) und dann abgeschlossen wäre, sondern ein seit vorhistorischen Zeiten bis heute andauernder Prozess – vielleicht einfach ein anderer, anders pointierter Ausdruck für „Zivilisationsprozess“.

Als „geschlossene Gesellschaften“ bezeichnet Popper archaische, solche, die sich durch Nahbeziehungen konstituieren: Familie, Sippe, Stamm, geteilte Emotionen, geteilte Vergnügungen, geteilte Gefahren, gemeinsame Weltsicht. Das „Öffnen“ einer Gesellschaft bedeutet ein Indirekterwerden der Beziehungen, die Zunahme von Möglichkeiten, immer mannigfaltigere Außenbeziehungen einzugehen. Popper nennt den „Übergang von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft eine der größten Revolutionen (…), die die Menschheit durchgemacht hat.“ Dieser Übergang „muß von den Menschen, die ihn durchmachen, als schwere Erschütterung wahrgenommen werden.“ Diese Revolution habe mit den Griechen begonnen (Öffnung der Poleis) und scheine sich „noch immer im Anfangsstadium“ zu befinden.[3] So radikal muss man’s nicht fassen, wer weiß, was kommt. Vor allem muss man festhalten, dass die Öffnung von Gesellschaften – hin zur Weltgesellschaft (nicht zu verwechseln mit politischen Einheits- oder Einheitlichkeitsvorstellungen, es geht nur um Interdependenzen) – keine Einbahnstraße ist. Es gibt ein Vor und Zurück. Gewiss war das römische Reich in vielen Teilen eine offenere Gesellschaft als die folgenden feudalen Gesellschaften. Gewiss versuchen immer wieder rechts- wie linksautoritäre Regime, ihre Gesellschaften neu zu schließen: „Volksgemeinschaft“ und „Solidargemeinschaft“ sind die zuständigen Vokabeln (die darum auch nicht in falschen Zusammenhängen gebraucht werden sollten). Der Zivilisationsprozess unter dem Gesichtswinkel der nicht kontinuierlich, linear, sondern schubweise, mit Erschütterungen verbundenen Öffnung der Gesellschaft bedeutet zusätzlich zu der immer stattfindenden langsamen Umbildung von Routinen – immer wieder – ihr plötzliches Dysfunktional- oder Obsoletwerden. Diese plötzlichen Erschütterungen machen die grundsätzliche Fragilität des sozialen Zusammenlebens überhaupt – des sozialen Vertrauens – nicht bewusst, sondern fühlbar. Die Folge ist Angst – nicht wissen, was an die Stelle des gewohnten Nächsten treten könnte – und Aggression – die brachialen Versuche, eine Antwort auf die Frage, was als Nächstes zu tun ist, zu finden. Dazu kommen Geschichten, die der Aufgeregtheit einen plausiblen Rahmen geben.

Athen war nach den Perserkriegen eine sich rapide öffnende Gesellschaft: Fernhandel, ausgreifende politische Ambitionen, (Selbst)Vertrauen in die Idee der universellen Machbarkeiten. Die demokratische Verfassung traute jedem zu, jede Funktion im Gemeinwesen kompetent auszuüben, die Intellektuellenbewegung der Sophisten hatte als Dauerthema, dass Wissen und Moral kein Fundament hätten, sondern der permanenten Debatte offen stünden; gleichzeitig gab es in den bildenden Künsten und in der Literatur Fortschritte, die – in so kurzer Zeit, auf so kleinem Raum – zu den bemerkenswertesten der Weltgeschichte gehören. Der im Sinne dieser „Alles ist machbar“-Idee geführte und katastrophal verlorene Peloponnesische Krieg hatte viele Konsequenzen, eine welthistorische: Platon erfand die Philosophie als eigenes Begründungsprogramm, das die beunruhigende Idee der Fundamentlosigkeit des Denkens aus der Welt schaffen sollte. Platon begleitete dieses intellektuelle Programm mit einer politischen Utopie, der „Politeia“, einem von Philosophen geleiteten Gemeinwesen, in dem jeder seinen vorbestimmten Platz hat, an den er gleichsam qua Natur gebunden ist. Die „Politeia“ ist die erste totalitäre Utopie (andere werden im Laufe der Jahrhunderte folgen). Es gab durch die Geschichte andere, weniger totalitäre Gedankenentwürfe, die aber ebenfalls als Immunreaktionen gegen die Tendenzen zu gesellschaftlicher Öffnung entworfen sind, Schillers Idee einer Gemeinschaft der Kunstverpflichteten, Fichtes Geschlossener Handelsstaat, Ayn Rands Utopie der Brutal-Tüchtigen und ihrer Abschließung gegen den schwachen Rest der Welt – und und und. In der Praxis finden sich auch gelebte Phantasien kleiner abgeschlossener Gemeinden. Harmlose Geheimclubs wie die Freimaurer oder Elitestammtische wie der Rotary-Club sind entlastende geschlossene Gesellschaften im sich öffnenden Rundum, Künstlerkolonien (die sich auch rabiat gestalten können: etwa mit sexuellen Nötigungen und mehr), Protestwehrdörfer, Szene-Stadtviertel, zusammengehalten durch die Wut auf neu Zugezogene, Selbstmordsekten, Neugründungen von Massenparteien mit 200 Mitgliedern, die ihre Lächerlichkeit als Unerschrockenheit kultivieren – alle die und die ihnen ähnlich sind, feiern Geschlossenheit als nervös-allergische Reaktion gegen gesellschaftliche Öffnung, das Abstraktwerden der Sozialbeziehungen, beunruhigend offene Horizonte.

Politische Revolutionen haben oft ein entsprechendes Doppelgesicht. Hier die Erklärung der Menschenrechte, daneben die politische Praxis der Jakobiner, das eigene politische Überleben auf die Maximierung des Konformitätsdrucks zu setzen, das heißt die Dorfgemeinschaft mit Kirche & Pfarrer als Modell zu leben. 1917 der Internationalismus und die nämliche terroristische Gemeinschaftsbildung. Vor Jahren habe ich beobachtet, wie auf einer Demonstration, also einer, wie Elias Canetti es formulieren würde, auf Wachstum, Zulauf angelegten Masse, eine Gruppierung (der „Schwarze Block“) sich mit einem (schwarzen) Band umgrenzte: niemand kam raus, niemand rein. Diese Dialektik von Öffnung und Schließung ist, glaube ich, ein universalhistorisches Phänomen, Lion Feuchtwanger hat einer Spielart in seiner Romantrilogie über Flavius Josephus eine religionshistorische Reflexion gewidmet.

Wenn man sagt, die Weimarer Republik sei (unter anderem) am Mangel an Demokraten zugrunde gegangen, so ist das gewiss nicht falsch. Aber es ist eine grundsätzliche Schwierigkeit, in der Historiografie (und der Soziologie) mit „Weil“ zu arbeiten. Ich glaube nicht, dass es in der einen wie der anderen Disziplin so etwas wie „Erklärungen“ gibt[4] – ich weiß, ich stehe mit dieser Ansicht ziemlich allein –, sondern dass es um Beschreibungen von Ereignisverläufen gehen sollte, die mit dem Hinweis „Sieh es einmal so an: was siehst du dann anders, was verstehst du dann anders?“ versehen sind. Auf diese Weise deute ich, wenn ich über die Weimarer Republik spreche, nicht nur auf die politischen und ökonomischen Veränderungen und Unsicherheiten, sondern auch auf die kulturellen – sagen wir: Öffnungen – Mode, Film, Emanzipation, Rauchen in der Öffentlichkeit, das Verschwinden von bisher selbstverständlichen Ritualen, kurz: eine große Erschütterung der Routinen. Sebastian Haffner hat das so formuliert: „Es gab frische Luft in der Weimarer Republik“. Was der Nationalsozialismus (und der Kommunismus) versprachen, war die Geschlossene Gesellschaft. Sie versprachen Stickigkeit statt frischer Luft. Sie hatten Erfolg damit. Und – das ist entscheidend, wenn man populistische Massenbewegungen verstehen will –, es geht in zweiter Linie um die Versprechungen, die gemacht werden. Es geht darum, dass diese Bewegungen das Versprechen, das sie für die Zukunft machen – eine geschlossenere, stickigere Gesellschaft –, bereits heute all denen erfüllen, die sich als ihre Anhänger begreifen.

Gestiegene Grunderregung

Wir leben in aufgeregten Zeiten. Ich habe die Covid-Monate erwähnt, weil sie ein Kleinmodell der Aufgeregtheit abgeben in jener aufgeregten Zeit, die wir allesamt irritiert und verstört erleben. Nein, ich spreche nicht von Kriegen und Zollpolitik. Diese TV-Nachrichten betreffen unsere Alltagsroutinen nur sehr mittelbar. Diese Nachrichten sind übrigens, vielleicht fällt das kaum mehr auf, kaum je noch informativ, stattdessen sind sie Emotionsperformanzen. Wir erhalten keine oder nur sehr rudimentäre Informationen über ein Kriegsgeschehen, sondern sehen Weinende. Dieses ohne jenes ist Voyeurismus. Wir erhalten keine Erläuterungen – was etwas anderes ist als „Erklärungen“ – über irgendwelche getroffenen Maßnahmen (oder nur sehr rudimentäre), stattdessen Straßenstatements von irgendwelchen Leuten, die uns erzählen, wie sie sich dabei fühlen. Die beliebteste Frage auch an Leute, die möglichweise etwas zu sagen hätten, lautet: „Wie geht es Ihnen dabei?“/„Was macht das mit Ihnen?“ Derlei signalisiert das Bedürfnis nach der Plausibilisierung einer gestiegenen Grunderregung. Es kommt nicht darauf an, was gesagt wird, sondern dass das Gesagte einen Erregungszustand offenbart. Wir erinnern uns an die Aufgeregtheiten um die Rechtschreibreform. Ich habe zu denen gehört, die sie für überflüssig und viele Neuregelungen für missraten hielten; aber ich habe sie nie für einen Anlass gehalten, mich aufzuregen. Nun bin ich kein Maßstab für irgendwas, aber das eigene Sichwundern kann der Ausgangspunkt für weitergehende Überlegungen sein. Zum Beispiel: Ich halte einige der sprachtheoretischen Annahmen, die (wie man behauptet) dem sogenannten Gendern zu Grunde liegen für Unfug, dennoch heißt das nicht viel für die Analyse der gesellschaftlichen Befindlichkeiten, die sich in sprachreformerischen Initiativen ausdrücken. Derjenige, der einen soziologischen Blick auf solche Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen Erregungen tun will, muss durchaus nicht unparteiisch sein, auch nicht grundsätzlich quietistisch gesonnen, aber er muss in der Lage sein, seine eigene Befindlichkeit (gar wenn es eine Empfindlichkeit ist) zu reflektieren. Er oder sie sollte, meine ich, in der Lage sein, die Erregung pro wie contra (vehement für neue Rechtschreibung und dagegen, vehement für das Gendern und dagegen) als zwei Seiten derselben Medaille zu sehen: der Verstörung über das Fluid- und Multipelwerden von Identitäten, was schon immer zu den Prozessen der gesellschaftlichen Öffnung gehört hat.

Die Bedeutung von Hautfarbe war lange Zeit – antik wie mittelalterlich – von geringer Bedeutung, sie wuchs als Folge (nicht als Voraussetzung!) von Kolonialismus und Sklaverei, und nimmt seitdem – nicht kontinuierlich, aber doch – ab. Das stört Wahrnehmungs- wie Verhaltensroutinen, diese Störungen schaffen Verstörungen. In dem Chor derer, die (zurecht) sagen, dass das Programm der Erklärung der Menschenrechte – Condorcet (nicht etwa Frantz Fanon) wies ja zurecht darauf hin, dass da nicht stehe „alle weißen Menschen sind…“ – noch nicht erfüllt sei, singen die mit, die sagen, dass der Unterschied in der Hautfarbe der transhistorisch bedeutsamste Unterschied sei, der zwischen Menschen gemacht werden könne (und solle!), ergo die Erklärung der Menschenrechte nicht verwirklicht werden dürfe. Dieses gemeinsame Lied singt ein Teil der woken transatlantischen akademischen Mittelklassejugend mit dem Ku-Klux-Klan unisono. Es geht um Verstörung. Menschen wehren sich gegen Identitätsfestschreibungen („Wenn Sie sagen ‚Meine Damen und Herren‘ fühle ich mich nicht angesprochen!“) und versuchen gleichzeitig möglichst differenzierte Festschreibungen definitorisch zu fixieren (und durch Abkürzungskaskaden von eventuellen unerwünschten – unterstellenden, festlegenden – Assoziationen freizuhalten): Man versuchte es mit „LGBTQ“, um eine möglichst engmaschige Bezeichnung zu erfinden, fand aber, wie nicht anders zu erwarten, Gruppen, die sich hier nicht bezeichnet fanden und schon gar nicht „mitgemeint“ sein wollten, doch auch das war irgendwann nicht mehr differenziert genug, man erweiterte zu LPBTIQA, was die Sache noch schwieriger machte, weil man, je differenzierter man ist, je deutlicher ausgrenzend jenen gegenüber ist, die man noch einmal übersehen und für die man also noch keinen Buchstaben gefunden hat, weshalb man endlich ein „+“ hinzugefügte, was eben so viel hieß wie: „Na schön, alle andern sind auch irgendwie mitgemeint“. Wobei man vergessen hatte, dass das „mitgemeint“ bei der Rechtfertigung des generischen Maskulinums den Genderstein ins Rollen gebracht hatte, und man das „Mitgemeint“ durch die Buchstabenkaskade hatte verhindern wollen.

Treten wir einen Schritt zurück: Es gab keine Zeit, in der die Leute unserer Weltgegend größere Freiheit hatten, Grenzen zu überschreiten – geografische, persönliche, Religions-, Milieu- und Klassenschranken –, und gleichzeitig in größerer Sicherheit lebten: vor politischer, religiöser Verfolgung und solcher auf Grund sexueller und anderer Identitätsoptionen. Und wann gab es eine Zeit, in der so viel autodestruktive Unruhe herrschte – deswegen. Im Grunde ist es simpel: In einem Zimmer voller Gerümpel fallen Details nicht auf, und in einem Zimmer, das man sich angeschickt hat, aufzuräumen, wird man, je besser es aufgeräumt ist, umso mehr sich über verbleibende Unordnung aufregen.[5] Das ist im Übrigen gut so. Nur dass man die Art des Ärgers eben verstehen muss. Wer die Fortschritte von Zeiten extremer Unordnung – manifesten Formen der Diskriminierung, ökonomischer Unfreiheit, fehlenden Schutzes vor Gewalt und so weiter – hin zu deutlich unterscheidbaren, gleichwohl verbesserungsnotwendigen Zuständen nivelliert, tut nicht nur denen Unrecht, die für diese Verbesserungen ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, sondern entwertet auch die politischen Bemühungen der Gegenwart. Die Aufregung, die unsere Gegenwart beherrscht, fördert nicht die politische Ambition, sondern hemmt sie. Wer sich dauernd belogen, betrogen, verletzt, missachtet fühlt, wer danach strebt, in Internetforen sich als seelisch beschädigt auszuloben, wer den Zustand „traumatisiert“ zu sein, wie einen sozialen Ehrentitel erstrebt, liebt die Erregung, in die man sich in solchen Diskursen begibt, weil sie eine Atmosphäre der Gemeinschaft der Erniedrigten und Beleidigten simuliert, nur dass es die Privilegierten dieser Erde sind, die sich in solchen Gemeinschaften zusammenfinden.

Polemisch? Gewiss. Aber das ist kein Einwand. Soziologie war immer auch von (meist theoretisch kaschiertem) Ärger über das soziale Rundum geleitet, manchmal angetrieben. Das, wie gesagt, macht nichts. Ärger kann natürlich kurzsichtig, kann sogar blind machen. Manchmal macht er scharfsichtig. Man darf nur nicht bei ihm und seiner Expression stehenbleiben. Man muss den eigenen Ärger als Detektor-Instrument ernstnehmen, ihm aber gleichzeitig seine Unmittelbarkeit nehmen. Wenn der innere Seismograf ausschlägt, muss ich mich fragen, ob es sich um ein Erdbeben handelt, oder nur ich es bin, der unsicher auf den Füßen ist. Wenn ich etwas kindisch finde, kann es sein, dass ich bloß alt – zu alt – bin. Es kann aber auch sein, dass es interessant wäre zu sagen: kindisch nicht unbedingt, kindlich vielleicht. Mal sehen, wie es sich darstellt, wenn ich es sub specie der Hypothese „Infantilität“ darstelle.

Die Aufgeregtheiten, die wir allenthalben beobachten, haben nämlich einen irritierend regressiven Zug. Vielleicht war das immer so, vielleicht weil die Angst vorm Fremdwerden des Gewohnten, gleichviel ob man die Veränderungen hasst oder liebt, immer einen Nähe- und Selbstentmündigungswunsch – allerdings verbunden mit Aufmerksamkeits- und Behütetwerden-Begehren – mit sich bringt. Aber Berichte von Aufgeregtheiten und Angstzuständen früherer Zeiten verfügten ja nicht über das nötige Vokabular. Ein Symptom dieser existenzbestimmenden Unsicherheit scheint mir der als Einforderung eines Rechts vorgetragene Wunsch nach Gesehenwerden, „Sichtbarkeit“ zu sein.

Die Idee von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit ist ursprünglich der Modus einer sozialen Anklage: „Denn man sieht nur die im Lichte, / die um Dunkeln sieht man nicht“, heißt es in Brechts „Dreigroschenoper“. Den „Unsichtbaren“ sind Romane von Charles Dickens (sehen wir auf das Schuldgefängnis in „Little Dorrit“, auf Straße und Friedhof in „Bleakhouse“), oder Victor Hugo gewidmet, in dessen „Elenden“ es heißt: Fantine „stammte aus den Tiefen der Gesellschaft. Sie war aus der undurchdringlichen Finsternis der sozialen Niederungen hervorgegangen“.[6] „Sichtbarkeit“ wird später zur Forderung derjenigen, der sich nicht zeigen dürfen wie sie sich zeigen wollen – zum Beispiel Homosexuelle, Leute, die mit ihren Sexual- und Genderidentitäten umgehen möchten, wie es ihnen beliebt –, und ist nun angekommen als narzisstisch-kindliches Heischen nach Aufmerksamkeit: Sieh mich an! Das „Recht am eigenen Bild“, ursprünglich die Möglichkeit, die Veröffentlichung des eigenen Bildes zu verhindern –, ist zur Vorstellung eines Rechts auf das eigene Bild – in der Öffentlichkeit nämlich – geworden. Mit diesem Bild versichern sich die, die sich in die Sichtbarkeit drängen, in gewisser Weise ihrer Existenz. Empfundene Ichlosigkeit wird durch Selbstsichtbarmachungsstrategien zu kompensieren versucht – und damit vollzogen. Der Vorgang wird zusammengefasst in einer Kleinanzeige, auf die ich zufällig in der Juni/Juli-Ausgabe des Magazins brand eins gestoßen bin: „Du willst auf Social Media sichtbar werden – aber nicht laut, sondern du? / Im 1:1-Coaching entwickelst du dein intuitives digitales Styling: holistisch, klar, ästhetisch. Wir erarbeiten deinen authentischen Auftritt und deine visuelle Identität. Mit Mindset, Grounding, praktischen Tools und Sessions, die transformieren.“[7] Sie wissen nicht, wer Sie sind, wir sagen’s Ihnen, wir malen Ihnen ein Bild und sagen Ihnen: Siehe, das bist du. Kinder wissen manchmal nicht genau, wer sie sind, sie fragen nach, wollen die Bestätigung: Ja, du bist Peter![8]

Zur seelischen Verkindlichung gehört der Rückfall in Sprachmagie, phylo- wie ontogenetisch. Falsches, Verbotenes zu sagen, bringt Unglück. Was ist der Versuch, Wörter zu tabuisieren anstatt sie einfach nicht zu verwenden? Man sagt statt „Teufel“ „der Gottseibeiuns“ und, weil man des Herrn Namen nicht unnütz gebrauchen soll, „der ‘beiuns“. Nie klang das, längst nur noch sehr selten gebrauchte Wort, für das man „N-Wort“ sagt, so in den Ohren wie heute. Ich sah neulich die Ankündigung einer TV-„Doku“ über Sklaverei in Amerika im 18. Jahrhundert, wo neben anderem eine Zeichnung, die einen weißen Sklavenhalter und einen schwarzen Sklaven zeigte, die – um damit wohl das Aufkommen von Missverständnissen (welchen?) zu vermeiden –, mit einem großen roten Kreuz durchgestrichen war. Wie es bei Orwell heißt: „Doppelplusungut“. Das ist die Mentalität Vierjähriger, die angstvoll den Teufel auf der Kasperlebühne ausbuhen.

Lassen Sie mich zum Schluss in einen leichteren Tonfall überwechseln – es geht aber immer noch um die Dialektik von Öffnung und Schließung, um Angst oder Ängstlichkeit, Fragilitätsempfinden, regressives Verhalten. Das uns allen seit Jahrzehnten zur Verfügung stehende Mobiltelefon ist ein Tor zur Welt. Ich kann jederzeit mit allen möglichen Leuten auf diesem Planeten in Verbindung treten. Ich trage vielleicht mit ihm ein Lexikon mit mir herum. Es schafft Freiheit. Und was passiert? Die Leute klammern sich an ihre kleinen Apparate wie an Kuscheltiere, die man nicht weglegen kann, schauen zwanghaft immer wieder auf die kleinen Bildschirme, als fänden sie dort Halt vor einem Rundum, das zu bewältigen sie nicht mehr in der Lage sind. Sie fummeln beschwichtigend an ihnen herum, nennen sie in unserem Sprachraum mit dem Kinderwort „Handy“. Sie benutzen – um die Terminologie von Michael Balint zu verwenden – ein Gerät, das für unsere philobatischen Persönlichkeitsanteile steht, zu oknophiler Befriedigung. (Die Psychodynamik dieser Dialektik lesen Sie bitte nach in Balints „Angstlust und Regression“).

Lassen Sie es mich so pointieren: In ihrem „Buch der Phobien und Manien“ („The Book of Phobias and Manias. An History of the World in 99 Obsessions“) führt die Verfasserin Kate Summerscale eine „Nomophobie” auf, bei der es sich nicht etwa, wie wir des Griechischem Kundigen meinen könnten, um eine Furcht vor dem Gesetz handelt, sondern um ein Kofferwort aus der Abkürzung für „No-mo(bile-phone)-Phobie“, also besser: „Nomophophobie“. Es handelt sich – Überraschung! – um das zwanghaft-angstvolle Benehmen von Leuten, die lange nicht auf ihr tragbares Telefon geschaut haben. Wir kennen das; die meisten von Ihnen sind davon betroffen. Aber sorgen Sie sich nicht, der betreffende Artikel endet mit den Worten: „Die Angst, ohne unsere Mobilgeräte dazustehen, gilt inzwischen weniger als pathologisch und mehr als verständliche Sorge.“[9] Darüber, wie sich Religionsübungen und Zwangshandlungen ähneln, schrieb Sigmund Freud, über das Klammern an kleine Maschinen, das zwanghafte Hinsehen und daran Herumfingern werden – vielleicht – künftige Generationen schreiben. Dann wird man, wenn plötzlich auf der Straße jemand neben einem laut zu reden anfängt, nicht mehr darüber beunruhigt sein müssen, dass wieder jemand neben einem telefoniert, als wäre er im abgeschlossenen Zimmer, sondern sich beruhigt sagen: Der ist bloß verrückt.

Ich will Ihnen nicht erzählen, dass Sie das gesteigert Pathologische Ihrer Rundum-Gegenwart „erkennen“ sollten; diese Terminologie schätze ich nicht. Ich empfehle Ihnen nur, sich und Ihre Umwelt mal unter diesem Gesichtswinkel anzuschauen. Daraus könnte eine Menge Produktives für Sie und für uns alle folgen. Nicht zuletzt dies: dass gegen populistische Bewegungen nichts auszurichten ist, solange Erwachsenen Identität und Geborgenheit als unbefragbare Ziele gelten.

  1. Vortrag, gehalten an der Bayerischen Akademie der Künste am 10.7.2024
  2. Ich verweise auf das Beispiel der beiden katastrophalsten Ausbrüche der Pest in Wien 1679 mit wenigstens 8000 (zeitgenössische Quellen sprechen von bis zu 120.000) und 1713/14 mit 9000 Toten, und ein 1727 dort erschienenes 300-seitiges Buch „Pest=Beschreibung / und / Infections=Ordnung. / Welche/ Vormahls in besondern Tractaten heraus gegeben / nunehro aber in ein Werck zusammen / gezogen / Dame / Der Anno 1713. zu Wienn in Oesterreich / fürgewesenen / CONTAGION, / mit denen dargegen gemacht= und beschriebenen / Veranstaltungen / Dem gemeinen Wesen in Druck befördert“. Eine Zusammenstellung von Erfahrungen mit allen möglichen Maßnahmen, die in der Vergangenheit gegen die Pest ergriffen worden sind.
  3. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 2003, S. 209f.
  4. Siehe: Jan Philipp Reemtsma, „Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet“, in: Mittelweg 36 24 (2015), 4, S. 4–16; ders., „Erklärungsbegehren“, in: Mittelweg 36 26 (2017), 3, S. 74–103.
  5. Man sollte nicht übersehen, dass die Bewegung „Black Lives Matter“ in der Amtszeit von Barack Obama aufkam. Man kann sie auch verstehen als Reaktion auf etwas, das linke Lebensroutinen (klagen statt zu handeln) verstörte.
  6. Victor Hugo, Die Elenden, übers. von Alexander Pschera, Berlin 2021, S. 73.
  7. Brand eins 06/07 (2025), S. 134.
  8. Eine atemberaubend bizarre Form hat der Wunsch nach Gesehenwerden in der Person von Greta Thunberg gefunden. Wer es nicht schon geahnt hatte, dem hat es die Inszenierung ihrer Bootsfahrt in Richtung Gaza gezeigt: alles ist Recht, wenn es nur auf Instagram erscheint, auch die Indienstnahme abertausendfachen Leids für die weltweite Distribution des eigenen Bildes. Das ist nicht, wie Thunberg es in der Mode des Wettbewerbs der Sichtbarkeit durch Exhibition behaupteter oder realer seelischer oder körperlicher Probleme (ADHS, Depression, Glutenunverträglichkeit) annonciert, „Autismus“, sondern Teil eines kollektiven infantilen Exhibitionismus, was immer individuell auch mitspielen mag.
  9. Kate Summerscale, Das Buch der Phobien & Manien. Eine Geschichte der Welt in 99 Obsessionen, Stuttgart 2023, S. 212.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Affekte / Emotionen Gesellschaft Gesellschaftstheorie Kultur Medien Sozialer Wandel

Jan Philipp Reemtsma

Professor Dr. Jan Philipp Reemtsma, Philologe, Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung und dessen langjähriger Vorstand, ist Geschäftsführender Vorstand der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

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