Francesca Barp | Veranstaltungsbericht | 11.12.2024
Zwischen Konflikt und Reform: Das Wirken des Arbeitsrechtlers Otto Kahn-Freund
Bericht zur Konferenz „Class Conflict and Institutional Change“ vom 13. bis 15. November 2024 in Köln
Die Konferenz fand am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln unter Federführung von RUTH DUKES und WOLFGANG STREECK statt.[1] Die zwölf Teilnehmer*innen präsentierten, kommentierten und diskutierten – anhand von Leben und Werk Otto Kahn-Freunds – Überlegungen zum Arbeitsrecht im 20. Jahrhundert. Streeck nannte es eine höchst produktive dreitägige Brainstorm-Session, in der die Teilnehmenden drei zentrale Themen umkreisten, die auch Kahn-Freund immer wieder behandelte: das emanzipatorische Potenzial von Arbeitsrecht, Vorstellungen über Kollektivismus und die Autonomie von Gewerkschaften in der Aushandlung industrieller Beziehungen.
Ruth Dukes, Professorin für Arbeitsrecht in Glasgow, gab eine Einführung in Kahn-Freunds Leben und legte damit den Grundstein für die folgenden Diskussionen. Otto Kahn-Freund wurde 1900 als Sohn wohlhabender deutschjüdischer Eltern in Frankfurt am Main geboren und starb 1979 in England. Während ihres Studiums in den 1920er-Jahren ebenfalls in Frankfurt waren Kahn-Freund, Franz Neumann und Ernst Fraenkel eine Gruppe junger sozialdemokratischer Juristen, die sich um den älteren Hugo Sinzheimer gruppierten und stark von seinem Schaffen zum Arbeitsrecht beeinflusst wurden. Kahn-Freund schloss sich während des Studiums der SPD und etwas später dem Reichsbanner an. Obwohl er bereits während der Promotion an Sinzheimers Lehrstuhl in Frankfurt arbeitete, entschied er sich, wohl auch unter dem Eindruck des grassierenden Antisemitismus (Antisemiten störten die Antrittsvorlesung von Hugo Sinzheimer), gegen eine wissenschaftliche Karriere und ging zunächst als Hilfsrichter, dann als Vorsitzender ans Arbeitsgericht Berlin. Anfang 1933 erklärte er die Kündigung von drei Angestellten der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft, denen diese eine Nähe zur KPD vorwarf, für nicht rechtmäßig. Um einer drohenden Festnahme durch die Gestapo zu entkommen und auf Drängen seiner Frau Liesel[2] flohen die Kahn-Freunds bereits 1933 von Deutschland nach Großbritannien. In England studierte er erneut Jura und arbeitete fortan am britischen Arbeitsrecht. 1939 von den Nazis ausgebürgert, erhielt Otto Kahn-Freund nach einem Jahr der Staatenlosigkeit 1940 die britische Staatsbürgerschaft, weshalb, so der Konsens unter den Teilnehmer*innen, Kahn-Freund England in den folgenden Jahren verklärte.
Wir müssen sowohl die Entscheidungsfindung als auch die sozialen Effekte dieser Entscheidungen studieren, so Kahn-Freunds Überzeugung.
Dukes stellte Kahn-Freund nicht nur als Arbeitsrechtler, sondern auch als Verfechter einer neuartigen, soziologisch interessierten Rechtswissenschaft vor. Kahn-Freund war Gründungsmitglied des Research Committee on Sociology of Law (RCSL), dem ersten und bis heute einzigen internationalen Verband für Rechtssoziologie. Er setzte sich früh von rechtsdogmatischen Kollegen ab, für die Rechtswissenschaft keinen anderen Zweck als die Schaffung und Auslegung rechtsverbindlicher Normen hatte. Wir müssen sowohl die Entscheidungsfindung als auch die sozialen Effekte dieser Entscheidungen studieren, so Kahn-Freunds Überzeugung. In diesen methodischen und epistemologischen Vorstellungen folgt er seinem Lehrer Hugo Sinzheimer, dessen Grundzüge des Arbeitsrechts[3] Walter Kaskel eben wegen dieser Methode als „soziologisches Feuilleton“ beschimpfte.[4]
Welchen Wert die soziologische und ideengeschichtliche Arbeit am Recht hat, stellte GABRIEL BUSCH DE BRITO vom MPI in Frankfurt unter Beweis. Er verband Kahn-Freunds Denken während der Weimarer Republik mit den theoretischen Arbeiten seiner frühen Kollegen Ernst Fraenkel und Franz Neumann. Darüber hinaus zeichnete De Brito die Analogie nach, die Kahn-Freund von der Rechtsprechung des Reichsarbeitsgericht zur italienischen Charta der Arbeit (carta del lavoro)[5] von 1927 zog; Letztere sollte die Verhältnisse von Arbeit, Staat und Privatwirtschaft gemäß dem Faschismus rechtlich regeln. De Brito zufolge kritisierte Kahn-Freund die Funktion von Arbeitsgerichten und Vertretungsstrukturen von Arbeiter*innen: Sie dienten in dieser Konzeption lediglich der Sicherung des sozialen Friedens und dem Erhalt von Produktivität. Auch SIMONE D’ASCOLA aus Pisa beschrieb in seinem Vortrag und in der anschließenden Diskussion diesen inneren arbeitsrechtlichen Konflikt: Sind Arbeitsrechte handfeste Erfolge der Arbeiter*innenbewegung, deren Forderung in Recht übersetzt wurden, oder befrieden sie den industriellen Konflikt, was Zugeständnisse bedeutet, um die Produktivität sicherzustellen?
Die Frage nach dem emanzipatorischen Potenzial von Recht war auch Gegenstand von ZOÉ ADAMS’ Beitrag. Für die Arbeitsrechtlerin aus Cambridge schützt das Arbeitsrecht den/die individuelle*n Arbeiter*in vor dem/der Arbeitgeber*in. Obwohl das Recht die gesellschaftliche Ordnung gewährleiste – und damit in gewisser Weise immer beanspruche, über mehr als den Einzelfall zu entscheiden –, reduziere die juridische Logik Konflikte letztlich doch auf zwei Parteien: Ankläger*in und Angeklagte*r. Das Recht könne daher immer nur den Einzelfall bearbeiten. Darüber hinaus suggeriere die Form des Vertrags, beide Parteien würden ihn als Freie und Gleiche unterzeichnen. Dies missachte allerdings die strukturelle Ungleichheit zwischen Arbeitnehmer*in und Arbeitgeber*in. Adams verwendete in dieser Analyse Jewgeni Pashukanis’ Begriff der legalen Form, die individualisierend statt strukturell funktioniere und deswegen nie Gerechtigkeit herstellen könne. Darauf warf De Brito ein, dass Kahn-Freund und Sinzheimer den Begriff der legalen Form eng an Karl Renner und Eduard Bernstein angelehnt hätten, nicht an Pashukanis. Daraus folge, so de Brito weiter, eine Unterscheidung zwischen der liberalen legalen Form und der sozialistischen legalen Form, wobei Arbeitsrecht eine Transition zwischen beiden darstelle. Zudem mache das Arbeitsrecht die Widersprüche in der liberalen legalen Form sichtbar, weshalb daraus emanzipatorisches Potenzial erwachse. Darauf konnten sich beide einigen.
Für den Briten RICHARD HYMAN, ein Weggefährte Streecks,[6] war die Vorbereitung auf seinen Vortrag eine willkommene Gelegenheit, alte analytische Herangehensweisen wieder aufzugreifen. Gemäß Kahn-Freunds eigener Auffassung erinnerte er das Plenum daran, die erste Aufgabe eines Juristen, der die rechtlichen Rahmungen industrieller Beziehungen diskutiert, bestehe darin, die Leser*innen zu ermahnen, deren Bedeutung nicht zu überschätzen. Wichtiger seien zu jeder Zeit die autonomen Vereinbarungen zwischen sozialen Partnern – also zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber*innen. Folgerichtig vertiefte Hyman sodann die Überlegungen zur Rolle von Gewerkschaften für die staatliche Ordnung über das 20. Jahrhundert hinweg. Die industriellen Beziehungen als Forschungszweig hätten sich, so Hyman, immer zu sehr auf Interaktionen am Arbeitsplatz fokussiert und zu wenig die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen in den Blick genommen. Dies gelte, da war sich die Runde einig, auch für Kahn-Freund, bei dem es ein Aspekt seiner sukzessiven Depolitisierung gewesen sei. Seit den 1980er-Jahren werde den Themen rund um Wohlfahrt und Armut mit dem Neoliberalismus begegnet und in Fragen der sozialen Ordnung dominiere das sogenannte repressive Paradigma. Die Gewerkschaften befänden sich seither auf dem absteigenden Ast.
SAM MINER vom Institut für Zeitgeschichte in München war, in Anlehnung an Julia Angster,[7] der Meinung, nicht nur das Arbeitsrecht bewege sich in Richtung der Konflikteinhegung, auch die Gewerkschaften avancierten zu Verwaltern des Unmuts (managers of discontent). AUGUSTIN MENENDEZ provozierte in der Diskussion mit der Aussage: „You need trade unions only to take responsibility for the disasters.“ Die Gewerkschaften seien, so das Fazit des Plenums, getrieben von der Zwangslogik der Wettbewerbsfähigkeit und würden dauerhaft unter Druck gesetzt von Arbeitgeber*innen, die ihrerseits mit Streik drohten, etwa indem sie Investitionen verweigerten (dem „Streik des Kapitals“ von Claus Offe[8]) und Stellenabbau ankündigten, der zur Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit als beinahe natürliche Logik akzeptiert wird. Dagegen komme der ursprüngliche Streik der Arbeiter*innen, die Verweigerung der Arbeitskraft, immer weniger an. Eine andere Gefahr streiften die Teilnehmer*innen nur am Rande: Sobald Arbeitsstandards gebunden sind an Gewerkschaften, die als einzige Vertretung von Arbeiter*innen Tarifverhandlungen führen dürfen, haben tariflich nicht geregelte Sektoren quasi keine Hebel, um Arbeitsstandards kollektiv zu verbessern. Für diese Arbeiter*innen ist das Einklagen von Arbeitsrechten nicht selten die einzige Option auf Verbesserung.
Gewerkschaften und Arbeitgeber*innenverbände stellen als kollektive Vertretungen eine Parallelstruktur dar, die strukturelle Widersprüche moderiert, statt nur eine Ansammlung individueller Interessen gegenüber Arbeitgeber*innen zu vertreten.
Um eine damit verwandte Krise bei den Gewerkschaften ging es bei FELIX SYROVATKA von der Universität Bremen. Er stieß mit seinem Vortrag eine Diskussion darüber an, wie weitreichend der Vertretungsanspruch von Gewerkschaften sein kann und soll sowie darüber, wie prägend der kollektive Gedanke für sie ist. Der Kollektivismus, den Kahn-Freund in der „Sozialen Idee der Arbeitsgerichte“, im „Funktionswandel der Arbeitsgerichte“[9] und in anderen Schriften ausführte, beschreibt eine Ebene zwischen Individuum und Staat, die ein eigenes Repräsentationsmedium braucht: Gewerkschaften wie auch Arbeitgeber*innenverbände. Sie stellen, Kahn-Freund zufolge, als kollektive Vertretungen eine Parallelstruktur dar, die eine Repräsentation für Gruppen erst ermöglicht (Kollektivautonomie) und so strukturelle Widersprüche moderiert, statt nur eine Ansammlung individueller Interessen gegenüber Arbeitgeber*innen zu vertreten. Das Konzept erwies sich für Kahn-Freund als zentral, denn weder unterdrücke es den Klassenkonflikt, noch ließe es diesen sich frei entwickeln. Es lenke ihn mittels Recht in geordnete Bahnen. Der Staat soll also zurücktreten und Strukturen ermöglichen, in denen die Vertretungen von Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen Konflikte miteinander aushandeln können, was Kahn-Freund als collective laissez-faire beschrieb.
An diese Überlegungen schloss REBECCA ZAHN von der University of Strathclyde (Glasgow) mit ihrer historischen Fallstudie wunderbar an. Sie beschrieb mit dem Report of the Committee of Inquiry on Industrial Democracy, auch bekannt als Bullock-Report, einen Meilenstein der industriellen Demokratie. Der 1977 vorgestellte Bericht, den die Labour-Regierung in Auftrag gegeben hatte, schlug vor, dass die Arbeitnehmer*innen in Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten die Hälfte des Vorstandes stellen und damit zentral an Entscheidungen beteiligt werden. Der Bullock-Report wollte, so Zahn, keineswegs den Kapitalismus abschaffen, er war von den Gewerkschaften vielmehr dazu gedacht, eine Lücke in der Arbeiternehmer*innenvertretung zu füllen: die Entscheidungsfindung der Arbeitgeber*innen. Allerdings gab es keinen Konsens über die Umsetzung des Berichts und seine Inhalte gingen letztlich in den politischen und industriellen Turbulenzen ab den späten 1970er-Jahren unter. Auch Kahn-Freund kritisierte den Bullock-Report. Er war der Meinung, eine solche Arbeiter*innenvertretung im Vorstand müsse ebenfalls die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens gewährleisten und stünde in der Pflicht, ‚im besten Interesse des Unternehmens‘ zu handeln. Somit könne sie keine Entscheidungen im Sinne der Arbeiter*innen treffen.
Zwei, die sich selbst als die Exoten der Veranstaltung beschrieben, Agustin Menendez und ERIC TUCKER, untersuchten, wie Otto Kahn-Freund in Spanien, Italien und Kanada rezipiert wurde. Menendez zeigte in seinem Vortrag, dass travelling concepts manchmal nicht den direkten Weg nehmen: Zwar wurden Kahn-Freunds Arbeiten erst Ende der 1980er-Jahren ins Spanische übersetzt, sie fanden durch die italienischen Arbeitsrechtler Gino Giugni und Federico Mancini aber bereits früher Eingang in die spanische Rechtsprechung. Eric Tucker aus Toronto verwies darauf, wie unterschiedlich die Situation sowohl historisch-regional als auch institutionell im Kanada der 1970er-Jahre und in der Weimarer Republik war. Ähnliche Ergebnisse und Rechtsprechungen könnten daher, so seine Schlussfolgerung, nur strukturell begründet sein. Streeck rief in die Runde: „It’s capitalism!“, worauf Tucker entgegnete: „Right, so I can stop here altogether.“ Gelächter. Bei der Etablierung von Arbeitsrechten handelt es sich also allerorts um eine Einhegung des Klassenkonflikts. Wenig überraschend, aber beruhigend, dass auch dieser Kreis – bestehend aus Arbeitsrechtler*innen – die Rolle des Arbeitsrechts nicht überschätzt.
Das ungleiche Duo Dukes/Streeck, das auch schon gemeinsam publiziert hat,[10] war angetreten mit dem Ziel, eine Geschichte zu schreiben über die Architektur des kapitalistischen Staates, so Streeck zum Abschluss der Konferenz, zu dessen Errichtung es Werkzeuge braucht wie Arbeitsrecht und Gewerkschaften. Sie wollten aber auch eine Geschichte schreiben über die Spannungen zwischen Klassenkampf und Reform entlang der Arbeit und dem Leben von Otto Kahn-Freund, dessen Schriften und Biografie zentrale Topoi des 20. Jahrhunderts enthalten. Wie jede stimulierende Konferenz endete auch diese wohl mit mehr Fragen als Antworten – und mit dem Plan für ein gemeinsames Buch.
Fußnoten
- Für seine hilfreichen Anmerkungen zum Text danke ich meinem Kollegen Clemens Boehncke herzlich.
- Rebecca Zahn und Miriam Kullmann haben kürzlich einen faszinierenden Artikel über Liesel Kahn-Freund geschrieben: Discovering the Contributions of Academic Wives to the Development of Labour Law. Liesel Kahn-Freund, in: Industrial Law Journal (2024).
- Hugo Sinzheimer, Grundzüge des Arbeitsrechts. Eine Einführung, Jena 1921.
- Luca Nogler, In Memory of Hugo Sinzheimer (1875–1945). Remarks on the Methodenstreit in Labour Law, in: Cardozo Law Bulletin 2 (1996), S. 565–588, hier S. 570 (meine Übers., F.B.). Kaskel (1882–1928) war der Inhaber des ersten Lehrstuhls für Arbeitsrecht.
- Der Originaltext der Charta der Arbeit findet sich hier: https://docenti.unimc.it/g.mecca/teaching/2022/26166/files/la-carta-del-lavoro-1927 [27.11.2024].
- Richard Hyman / Wolfgang Streeck (Hg.), New Technology and Industrial Relations, Oxford 1988.
- Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, Berlin / Boston, MA 2003.
- Claus Offe, Contradictions of the Welfare State, hrsg. von John Keane, Cambridge, MA 1984, S. 244 (meine Überst., F.B.).
- Otto Kahn-Freund, Der Funktionswandel des Arbeitsrechts [1932], in: Thilo Ramm (Hg.), Arbeitsrecht und Politik. Quellentexte 1918–1933, Neuwied 1966, S. 211–246.
- Ruth Dukes / Wolfgang Streeck, Democracy at Work. Contract, Status and Post-Industrial Justice, Cambridge 2023.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Henriette Liebhart.
Kategorien: Arbeit / Industrie Gruppen / Organisationen / Netzwerke Kapitalismus / Postkapitalismus Sozialstruktur Wirtschaft
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