Niels Penke | Rezension | 16.10.2024
Zwischen Metapher und Möglichkeit
Rezension zu „Science-Fiction zur Einführung“ von Isabella Hermann
In den vergangenen Jahrzehnten stehen Literatur, Film, Gaming und Serie im Zeichen von Genres. Vieles von dem, was auf dem Markt erscheint, ist in der Produktion präformiert und mit bestimmten architextuellen Merkmalen ausgestattet worden, um passgenau rubriziert zu werden. Doch trotz der globalen Popularität von Fantasy, Horror, Thriller, Science-Fiction und anderen sind gute Einführungen in die jeweiligen Genres selten. Das mag daran liegen, dass die Gattung ‚Einführung‘ mit den Säulen Theorie, Geschichte und repräsentativer Auswahl stets zu selektiven Entscheidungen drängt, die sich aus Perspektive Anderer als unglücklich darstellen können. Vielleicht sind informative Einführungen aber auch so selten, weil es sich bei Genres um multimediale Phänomene handelt, die diverse Kompetenzen vorrausetzen, um angemessen über historische Entwicklungen, Medienverbünde und aktuelle Trends sprechen zu können. Wer solchen Materiallagen gerecht werden will, schreibt entweder erschlagend dicke Bücher[1] oder eben solche, deren Lektüre das eindrückliche Gefühl evoziert, schlecht informiert zu werden.
Isabella Hermann geht jedoch einen anderen, eigenen Weg. Als Politikwissenschaftlerin zielt sie weniger auf eine „detaillierte“ Genregeschichte (S. 10) – was eine Einführung trotz Fülle an Details ohnehin nie sein kann –, sondern eruiert, was SciFi diskursiv beizutragen hat und auf „welche Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft das Genre hinweist“ (S. 11). Diese Hinweise wiederum betreffen nicht weniger als einige der Grundfragen menschlichen Daseins, die sich nicht nur, aber insbesondere, im 21. Jahrhundert stellen und eine Tendenz zu „first world problems“ aufweisen. Dementsprechend geht es ihr auch nicht um umfassende Interpretationen eines Romans oder Films, sondern um die Verbindung von Interpretationsansätzen und praktischer Anwendung. „Was kann man damit machen?“ (S. 13 ff.) fragt sie und plädiert für die Funktion von SciFi als einer „Lupe“, die keine schnellen Lösungen (S. 13) sichtbar macht, sondern Imaginationsräume zukünftigen Lebens eröffnet und so Gedankenspiele ermöglicht. Schon seit Jahrhunderten fungiert das Genre als eine solche Lupe, mit der die zum jeweiligen Zeitpunkt avanciertesten technischen Mittel auf das Machbare hin befragt werden. Im Anschluss an Kim Stanley Robinsons Idee eines dreidimensionalen Bildes, argumentiert Hermann, dass SciFi mögliche Zukünfte imaginieren und zugleich als Metapher für die gegenwärtige Situation betrachtet werden kann. Es handelt sich um eine „Doppeldeutigkeit zwischen Möglichem und Metaphorischem, zwischen ‚Science‘ und ‚Fiction‘“ (S. 10), die auch dort zu finden ist, wo das Genre in einer Art Foresight-Methode „von dem wissenschaftlich-technisch tatsächlich Denkbaren und möglichen sozialpolitischen Arrangement [erzählt]“ (S. 17).
Blade Runner zum Beispiel operiert nicht als Vorhersage, sondern synchron als dystopische Lagebeschreibung, die mehr über die Entstehungszeit des Films zeigt, als Zukunft zu prognostizieren.
Auf der anderen Seite liefert die Fiktion weniger Hinweise auf „eine reale Möglichkeit als vielmehr ein Bild“, mit dem sich „fundamentale Fragestellungen und gegenwärtige Missstände anhand einer fiktiven Zukunft überdeutlich zeigen lassen“ (Ebd.). Blade Runner zum Beispiel operiert nicht als Vorhersage, sondern synchron als dystopische Lagebeschreibung, die mehr über die Entstehungszeit des Films zeigt, als Zukunft zu prognostizieren. Ob H.G. Wells Time Machine, 2001, Ursula K. Le Guin, Alien oder Leif Randt:[2] es geht Hermann nicht um einzelne Autor:innen und ihre Werke, die Entwicklungen nachzeichnen oder Positionen in einem historischen Entwicklungszusammenhang darstellen, sondern primär um das, was sie zeigen und wie sie über die Gegebenheiten unserer Welt nachdenken (und idealiter nachdenken machen). Hermann zeigt, wie das in SciFi praktizierte Denken in Möglichkeiten stets die konträre Option einschließt. Utopie ist nicht ohne Dystopie zu denken et vice versa. Einer dogmatischen – gern imperialistisch-kolonialistisch geprägten – Fortschrittsidee hält sie „queere Perspektiven“ (S. 17) entgegen, die sich insbesondere für Kollektive Figuren und Multiperspektivität interessieren. Diese wiederum sind Ausdruck einer vielförmigen Subevolution des Genres, die mit Cyber- oder Solarpunk, Afrofuturismus oder Climate Fiction alternative Erzählweisen erprobt. In drei umfangreichen, thematisch ausgerichteten Kapiteln stellt die Autorin „Roboter und Künstliche Intelligenz“, die „Eroberung des Weltraums“ sowie den „Klimawandel und Umweltkatastrophen“ in den Fokus. SciFi unternimmt immer wieder den Versuch, derlei Hyperobjekte zu zeigen – in Ausschnitten und Repräsentationen, die, obwohl sie oft vereinfachen oder überdramatisieren, an einem kritischen Diskurs um Technikfolgenabschätzung und Premediation partizipieren können.
Nicht ganz nachvollziehbar ist das von Hermann vorgeschlagene Ordnungsmodell, das sie als „Kontinuum“ modelliert, das von SciFi als technischer Zukunftsexploration bis metaphorischer Gleichnishaftigkeit reicht, obwohl es doch zumeist um ein Entweder-Oder geht (siehe S. 17), sich der Zusammenhang also eher als Polarität darstellt. In meiner Wahrnehmung widersprechen sich die beiden Beschreibungen jedoch nicht. Denn dort, wo die Realisation bereits vollzogen wurde, wird deutlich, dass es zwei, mit einer besonderen Halbwertszeit ausgestattete, Leistungen einer Form sind. Es ließe sich von einem eigenen Chronotopos der Vorläufigkeit sprechen, der bis auf Weiteres von Möglichem handelt, das seiner potenziellen Machbarkeit und seiner faktischen Realisation harrt. Das eigentliche Kontinuum wiederum scheint sich zwischen techni(zisti)scher und sozial(istisch)er Perspektive zu erstrecken und lässt Bestimmungen darüber zu, zu wessen Nutzen und Lasten die getroffenen Entscheidungen gehen. SciFi sagt dann nicht mehr ausschließlich etwas über Träume und Wünsche, Ängste und Hoffnungen der Menschen, sondern über ihre Macht und den Umgang mit verwirklichten „Träumen“, die manches Mal zu spät als fatal („Alpträume“) begriffen werden. Dass diese Projektionsflächen und Gedankenexperimente selten unproblematisch sind, zeigt Hermann unter anderem im Zusammenhang mit geschlechtlich codierter Technik, die, von Pygmalion bis zu sogenannten Fembots, Bilder und Stereotype fortschreibt, die schon (viel zu) lange in der Welt sind.
Dabei kommt die Frage auf, ob der SciFi ihr utopisches Moment verloren gegangen ist und damit ihr Potenzial, von besseren Gesellschaften zu träumen (S. 78) oder ob auch aus der dystopischsten Vision heraus noch Premediation möglich ist, die Optionen zur Konfliktbeendung und einer „Einigung der Menschheit“ (S. 97) zur Lösung globaler Probleme eröffnet. In der Fiktion scheint dies kaum ohne extraterrestrisches Anderes möglich. Wie Star Trek anschaulich zeigt, bedarf es der grundsätzlich anders angelegten Welten, um über Alternativen sinnvoll nachzudenken. Auch Autor:innen wie Ursula K. Le Guin und Dietmar Dath haben alternative Fortschrittssemantiken entwickelt und unter anderem in The Left Hand of Darkness oder Neptunation auch plastisch ausgestaltet. Sie liefern Beispiele, wie der homo imperialis, der ansonsten in der SciFi (nicht nur) geopolitische Fantasien ausagiert, durch ein neues, ein anderes Wir ersetzt wird. Dadurch wird zum wiederholten Male deutlich, dass auch noch so gute Tech-Fixes und solutionistische Maßnahmen kaum Aussichten auf ein besseres Leben – schon gar nicht für möglichst viele (S. 162) –, eröffnen, sondern dies primär durch Kooperation und Enthierarchisierung geschieht. Lino Alexander Zeddiesʼ Utopia 2048 erscheint dann als gelungener Integrationsversuch, der die Grenzen zwischen Entertainment und Aktivismus (S. 144), Fiktion und Handlungsanweisung verschwimmen lässt. Sichtbar werden hier wiederum die Grenzen von SciFi, die nicht Fortsetzung von Wissenschaft mit anderen Mitteln sein, sondern eine eigene ästhetische wie kulturelle Form bleiben will. Als beständig wachsender „Megatext“ (S. 22 ff.), der zahlreiche Tropen, Figuren und Schreibweisen umfasst, hat SciFi sich auch die Gattung der Utopie einverleibt, welche die Denkform (als „Denken nach vorwärts“) und ästhetische Form (als Gattung) in sich vereint. Und das wiederum ist vielleicht die besondere Eigenschaft von Genres als Megatexten: sie können wachsen und ganz unterschiedliche Gestalten annehmen, die doch qua Familienähnlichkeit stets miteinander verbunden bleiben. Wiederholungen und Neuanfänge gehören daher zusammen, wie auch die Untergangsszenarien, die reproduzieren, was auch vor ihnen schlecht war, und die optimistischen Verheißungen, die in den Blick nehmen, was möglicherweise im Maschinenraum des Fortschritts vergessen wurde, zwei Seiten einer Form sind.
Gerade jene SciFi, die von solutionistischem Eifer geprägt ist, ruft in Erinnerung, dass das Denken in Möglichkeiten und Alternativen kaum genug trainiert werden kann.
Ob Robotik, Überwachung, Begegnungen mit außerirdischen Lebensformen, KI, Hirn-Computer-Interfaces oder posthumane Szenarien, die den Menschen von seiner Spitzenpredatorenstellung degradieren – die Begegnungen mit dem bis dato Unbekannten in außergewöhnlichen Situationen, sie regen nicht nur an oder auf, sie unterhalten auch (S. 173), selbst wenn sie hanebüchenen Unsinn zur Darstellung bringen. Doch dies zu durchschauen benötigt einen geschulten Blick, der sich mit Isabelle Hermanns Einführung entwickeln und schärfen lässt. Das Buch regt nicht nur auf unterhaltsame Weise zu fragen an, sondern macht – auch dank der zahlreichen Beispiele aus Literatur und Film –, Lust, weiterzulesen und -zuschauen, um dabei neben dystopischem Schauder auch mit dem einen oder anderen Aufschein besserer Welten konfrontiert zu werden. Denn gerade jene SciFi, die von solutionistischem Eifer geprägt ist, ruft in Erinnerung, dass das Denken in Möglichkeiten und Alternativen kaum genug trainiert werden kann. Ob Terraforming, Geo-Engineering oder intergalaktische Fernreisen – angesichts der damit einhergehenden grundsätzlichen Verunsicherungen wäre es wünschenswert, dass die simple Option des Unterlassens[3] in den Denkhorizont derjenigen rücken würde, die solche Entscheidungen realiter zu treffen haben und potenzielle Folgen kaum zu erahnen scheinen. Der Mensch als Landgänger, er findet nur schwerlich „Halt in der Leere des Alls“ (S. 127). Oder anders: es wäre schön, wenn Personen wie Elon Musk, die wie gestaltgewordene Jules Verne-Figuren agieren, nicht nur In Stahlgewittern, sondern Aniara[4] läsen, um mit Szenarien konfrontiert zu werden, die trotz aller Willensanstrengungen ausweglos bleiben.
Fußnoten
- Dietmar Dath, Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine, Berlin 2019.
- Aufgrund der nicht linearen Darstellung wäre ein Namensregister sinnvoll und der Handhabung förderlich gewesen.
- Vgl. Philipp Lepenies, Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens, Berlin 2022.
- Vgl. Niels Penke, „i galaxens hav“ – das Ethos als Epos. Harry Martinsons Aniara. En Revy Om Människan I Tyd Och Rum, in: Imme Bageritz / Hartmut Hombrecher / Vera Kostial (Hg.), Fordschritt und Rückblick. Verhandlungen von Technik in Literatur und Film des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2019, S. 291-304.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Gesellschaft Kunst / Ästhetik Medien Technik Zeit / Zukunft
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