Marie Kallenberg | Rezension |

Zwischen Roadtrip und Pilgerreise

Rezension zu „Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik“ von Jörg Später

Jörg Später:
Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik
Deutschland
Berlin 2024: Suhrkamp
760 S., 40 EUR
ISBN 978-3-518-43177-1

Auf knapp 600 Seiten zeichnet der Historiker Jörg Später, der 2016 die erste große Biografie über Siegfried Kracauer vorlegte, die intellektuelle Entwicklung von zwölf beziehungsweise dreizehn ausgewählten Schülerinnen und Schülern Adornos nach: Regina Becker-Schmidt, Gerhard Brandt, Ludwig von Friedeburg, Karl Heinz Haag, Jürgen Habermas, Elisabeth Lenk, Oskar Negt, Helge Pross, Alfred Schmidt, Herbert Schnädelbach, Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann. Der dreizehnte Protagonist, Alexander Kluge, war kein akademischer Schüler Adornos, was die Parallele mit Jesu Christi zwölf Aposteln, mit der hin und wieder kokettiert wird (vgl. S. 1, 10), ein wenig entschärft.

Späters Vorhaben, eine Geschichte zu schreiben, „und zwar klassisch-realistisch“, „mit sehr vielen Nahaufnahmen und gelegentlichen Totalen“ (S. 14) ist geglückt. Der Autor versteht es, die Balance zwischen historisch-wissenschaftlicher Distanz und lebendigem Erzählen zu halten, kommentiert auch mal ironisch, verweist auf eigentümliche Details oder baut Spannungsbögen auf. Leser:innen lernen etwa, dass das erste Zuhause des Instituts für Sozialforschung ein Gebäude aus fränkischem Muschelkalk war, das hervorragend geeignet schien, um sich darin zu verbarrikadieren (vgl. S. 24), und dass Horkheimer sich nach seiner Rückkehr nach Frankfurt einer Freimaurer-Loge anschloss (vgl. S. 269).

Später geht grundsätzlich chronologisch vor („Ich betrachte mich als Chronisten“, S. 14), jedoch ist das Buch noch nach zwei weiteren Prinzipien strukturiert: Personen und Geografie. Diese drei Schemata werden in der Erzählung verflochten und machen die Lektüre abwechslungsreich, stellenweise geradezu spannend. Statt jeder Erbin / jedem Erben ein Kapitel zu widmen, zeichnet Später persönliche Biografien, Institutionen, Orte und Fachdisziplinen als sich überlagernde Netzwerke. Trotz des Namensregisters, in dem die Protagonist:innen übrigens nicht verzeichnet sind, ist Adornos Erben also nur bedingt als Nachschlagewerk geeignet. Stattdessen darf oder sollte man sich als Leserin mitnehmen lassen auf eine ideengeschichtliche Reise durch die 1950er- bis 1980er-Jahre der alten Bundesrepublik, beginnend in Frankfurt am Main, mit Stopps in Hannover, Lüneburg und Starnberg, dokumentiert durch Briefe und Fotografien. Apropos Reise, Timur Alexander El-Rafie hat für die Gerda Henkel Stiftung ein episodisches „Roadmovie“ über Jörg Späters Recherchen produziert, das man sich auf der Website der Stiftung ansehen kann.

Doktorvater und Vatermord

Dem Autor geht es neben der Theorie-Erbschaft mitsamt den dazugehörigen Erbstreitigkeiten auch um die persönlichen Beziehungen der ehemaligen Mitarbeiter:innen untereinander und zu Theodor W. Adorno. Die für deutsche Universitäten typische Verschmelzung von Familie (sprich: Patriarchat) und Wissenschaft in der Personalunion des ‚Doktorvaters‘ kommt am Institut für Sozialforschung vielleicht noch einmal besonders zur Geltung. Adorno, der bewusst kinderlos blieb,[1] betrachtete manche seiner Studierenden und Mitarbeiter:innen als „angenommene Kinder“ (etwa Alexander Kluge und Regina Becker-Schmidt, vgl. S. 11 und 94). Ob als jüdischer Ersatzvater für den wissenshungrigen Nachwuchs der schweigenden Tätergeneration oder als Politaktivismus verweigernder Theoretiker und Ziel von Vatermorden: Adorno war ein Fixstern für die junge Generation weit über die Frankfurter Universität hinaus. Jedoch geht es im Buch weniger um jene rebellierenden 68er, sondern um deren Dozentinnen und Dozenten. Während manche dem 1969 plötzlich verstorbenen Adorno ewige Treue schworen (vgl. S. 8), mussten andere sich freischwimmen und Abstand zum „System Adorno“ (Elisabeth Lenk) gewinnen. Der wohl prominenteste und publikationsstärkste Erbe Adornos, Jürgen Habermas, hat sich klar distanziert: Er bestreitet überhaupt die Existenz einer ‚Frankfurter Schule‘ oder einer ‚Kritischen Theorie‘, es handele sich dabei lediglich um ein mediales Konstrukt (vgl. ebd.). Später suggeriert im Rückgriff auf The Invention of Tradition[2], „dass Habermas die Tradition der Kritischen Theorie auf seine Weise formen konnte, gerade weil er seit jeher seinen eigenen Weg gegangen war“ (S. 479). Ob eine Schulbildung von den Gründern intendiert und von den Nachfolger:innen goutiert wurde oder nicht – zum 100-jährigen Jubiläum ließ jedenfalls der Suhrkamp-Baumwollbeutel keinen Zweifel an der Existenz einer Frankfurter Schule, zu der auch „& Habermas“ gehört.

Diese Familienhistoriografie von Doktorvätern, angenommenen Kindern und Generationen ist jedenfalls – wie so oft – sehr männlich. Jörg Später kaschiert oder beschönigt dies nicht. Er zitiert Lenks Ausführungen zum Thema „Männer-Cliquen“[3] und stellt etwa bei der Rekonstruktion der großen Horkheimer-Konferenz von 1985 fest: „Vorträge von Frauen erneut Fehlanzeige“ (S. 488). Umso wichtiger ist, dass die Arbeiten von Elisabeth Lenk, Regina Becker-Schmidt und Helge Pross neben anderen „Apokryphen der Frankfurter Schule“ (S. 15) in diesem Buch einen festen Platz bekommen haben. Man kann die Geschichte des Instituts für Sozialforschung im Übrigen auch als eine Geschichte von Männerfreundschaften lesen, angefangen mit Horkheimers und Pollocks Freundschaftsvertrag, fortgesetzt in der Konkurrenz Adornos und Marcuses um Horkheimers Gunst. Ohnehin ist das Erbe von Adorno aufs Engste mit dem von Max Horkheimer und Walter Benjamin verbunden. Auch die beiden waren wichtige Bezugsgrößen für die jüngeren Institutsmitarbeiter:innen. So zeigt Später an Helge Pross’ umstrittenen Ansatz, Besitz- und Verteilungsfragen samt (genderbasierter) Arbeitsteilung via Manager-Soziologie „ohne Berührungsängste zur Machtpolitik“ (S. 234) anzugehen, Kontinuitäten und Brüche zum Denken der ehemaligen Lehrer, Horkheimer und Adorno, auf.

Totgesagte leben länger

Vielfältigkeit ist einer der Gesichtspunkte, unter dem Jörg Später die Frankfurter Schule neu erzählen wollte (vgl. S. 13, 586). Nicht nur politische Ökonomie, auch Didaktik, Pädagogik, empirische Soziologie, Ästhetik, Philologie, Politik und Gewerkschaftsarbeit sind durch die Kritische Theorie und ihre Vertreter:innen verändert worden. Mitunter gewinnen die weniger prominenten Erbinnen und Erben aber nur schwerlich Kontur, geraten etwas blass angesichts der Strahlkraft Adornos und dem bemerkenswert kommunikativen Habermas, dessen unerschrockene Bereitschaft zur Auseinandersetzung Jörg Später vielleicht zu einer stellenweisen allzu ausführlichen Wiedergabe seiner Korrespondenzen verleitet hat.

Es ist schade, dass das Unterkapitel Varianten des Feminismus mit 23 Seiten vergleichsweise schmal ausfällt, obgleich dies auch der Quellenlage geschuldet sein mag – so ist etwa der Nachlass von Elisabeth Lenk noch ungeordnet. Beide, die Kritische Theorie und den Feminismus, hält Später für „gescheitert – aber erfolgreich!“ (S. 432). Als erfolgreich beschreibt er sie, weil wir sie noch immer zur Abschaffung jener Ungerechtigkeit und jenes Leidens brauchen, deretwegen sie entstanden sind.

Später identifiziert die Bedingungen der Möglichkeit und des Erfolges einer Frankfurter Schule in der spezifischen Konstellation von US-amerikanischer Reeducation-Politik, Kaltem Krieg, Generationenkonflikt und Modernisierungs-/Demokratisierungsprozessen (vgl. S. 579). Auch die von Vertreibung und Exil geprägten Biografien der jüdischen Wissenschaftler waren eng mit der „verdrängten, aber nachwirkenden“ (ebd.) NS-Vergangenheit verbunden. Insbesondere für die Nachgeborenen des Faschismus bot die Kritische Theorie einen attraktiven „Gegenentwurf zur post-volksgemeinschaftlichen Ordnung der Adenauer-Ära“ (S. 584). Später betont, dass die Relevanz des Zivilisationsbruches Auschwitz für Adornos (und Horkheimers) Philosophie erst ab den 1980er-Jahren, angeregt durch die ‚Jüdische Gruppe‘ um Dan Diner, (wieder)erkannt und beachtet worden ist (vgl. S. 559 ff.).

Adornos Erben ist eine Retrospektive, die abschließend den „Niedergang der Frankfurter Schule“ (S. 583), nicht aber den „Tod der Kritischen Theorie“ (S. 587) feststellt. Ihre Wirkmacht als Universaltheorie, so Späters Resümee, sei nicht zuletzt auf Adornos Charisma zurückzuführen. Heute sei die Kritische Theorie aber veraltet und vorrangig als „ethisch-humanistische Haltung zur Welt“ zu verstehen, die dem politischen Subjekt zu „Resilienz gegen Verdummungszusammenhänge“ (ebd.) verhilft. Gleichzeitig hält Später ihren kritischen „Glutkern“ angesichts der industriell verursachten Klimakatastrophe für zeitgemäß (vgl. ebd.) – ist das nicht ein Widerspruch? Das Einkochen der Kritischen Theorie auf ein individuell-psychologisches Durchhalte-Bonbon (so verstehe ich ‚Resilienz‘) ist schwierig angesichts der nach wie vor sehr aktiven akademischen Forschung, die sich mit allen Neuerungen und Schwerpunktverschiebungen doch explizit und kritisch auf diese Tradition bezieht. Auch wenn das Buch „Eine Geschichte aus der Bundesrepublik“ ist, wäre ein Blick auf das intellektuelle Nachwirken der Frankfurter Schule nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA – wo Marcuse allerdings eine größere Rolle spielt als Adorno – eine interessante Ergänzung gewesen.

Von Adorno erben

Als Germanistin erlaube ich mir, diese Buchbesprechung mit einer Interpretation der Erbschaftsmetapher abzuschließen: Erben ist im Grunde ein feudales Relikt, das materielle Ungleichheit gesellschaftlich zementiert. Andererseits kann man auch Schulden erben, ein solches Erbe wird in der Regel ausgeschlagen. Das Schöne an Adornos Erbe ist, dass es keine feudale Erbfolge gibt und dass die Schulden nicht ausgeschlagen wurden. Weltweit wird Adorno gelesen und kritisch weitergedacht. Und auch wenn es einiger Privilegien – oder: mangels Privilegien erhöhter Anstrengungen – bedarf, sich dieses Erbe zu erschließen, so ist es weder Relikt noch Reliquie.

Obwohl Jörg Später die Aktualität und Lebendigkeit der Kritischen Theorie recht nüchtern beurteilt, ist Adornos Erben kein Abgesang; sondern eine sorgfältige Recherche, die sich bewusst auf die Jahre 1949 bis 1989 konzentriert. Die Leseempfehlung wird von der Kritik am Schlusskapitel also keineswegs eingeschränkt.

  1. Vgl. Stefan Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2003, S. 93.
  2. Eric Hobsbawm / Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge, MA 1983.
  3. Lenk berichtet über Alt-68er-Professoren, die „bereits mit der zweiten Studentinnengeneration verheiratet sind, nachdem sie den langen Marsch durch die Institutionen noch mit Professorentöchtern begonnen hatten“ (vgl. Später, Adornos Erben, S. 420. Später zitiert aus der Nachlass-Mappe „Das Prinzip Clique“. Ein gleichnamiger Text von Lenk ist nachzulesen in Elisabeth Lenk, Das Prinzip Clique. Nachrichten aus dem Inneren der Universität, in: Ilse Modelmog / Edit Kirsch-Auwärter (Hg.), Kultur in Bewegung. Beharrliche Ermächtigungen, Freiburg i. Br. 1996, S. 49–59).

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Erinnerung Geschichte Geschichte der Sozialwissenschaften Kritische Theorie Philosophie Universität Wissenschaft

Marie Kallenberg

Marie Kallenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Graduiertenkolleg Gegenwart/Literatur der Universität Bonn. In ihrem Dissertationsprojekt erforscht sie die Genese und Funktion von kräftephysikalischen Metaphern in Theodor W. Adornos ästhetischer Theorie.

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