Peter Wagner | Rezension |

Auf der Suche nach dem verlorenen Fortschritt

Rezension zu „Fortschritt und Regression“ von Rahel Jaeggi

Abbildung Buchcover Fortschritt und Regression von Jaeggi

Rahel Jaeggi:
Fortschritt und Regression
Deutschland
Berlin 2023: Suhrkamp
252 S., 28 EUR
ISBN 978-3-518-58714-0

Rahel Jaeggis Betrachtungen über Fortschritt und Regression sind hochaktuell und dringlich. Wohin man auch sieht, wir scheinen heute nicht nur in einer Zeit zu leben, in der kaum noch moralische und soziale Fortschritte erreicht werden, sondern wir sind zu oft auch veranlasst, zu konstatieren, dass es nicht mehr gelingt, Rückschritte in diesen Hinsichten aufzuhalten.[1] Um zu wissen, ob dem tatsächlich so ist, brauchen wir Kriterien für Fortschritt. Rahel Jaeggi bezweifelt, dass der uns geläufige Fortschrittsbegriff belastbare Kriterien dafür liefert, Fortschritt oder sein Gegenteil diagnostizieren zu können, und macht sich auf die Suche nach einem angemesseneren Verständnis von Fortschritt. Schon eingangs (S. 13) betont sie, das Ziel ihrer Untersuchung bestehe nicht darin, auf empirischer Grundlage festzustellen, ob unsere Zeit von Fortschritt oder Regression gekennzeichnet sei, vielmehr wolle sie Kriterien für eine solche Beurteilung entwickeln. Das Problem, dass diese Kriterien auf empirische Beobachtungen anwendbar sein müssen, zieht sich durch das ganze Buch.

Jaeggis Diagnose und Kritik des überkommenen Fortschrittsbegriffs sind klar und überzeugend. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ging man von einem umfassenden Fortschritt in der Menschheitsgeschichte aus, der sich in einem globalen Entwicklungsprozess – unwiderstehlich und verlustfrei – durchsetzen würde (S. 22 ff.). Diese Annahme, so legt die Autorin kurz und knapp dar, ist nicht mehr haltbar, damit befindet sie sich in Übereinstimmung mit vielen anderen Fortschrittskritikern. Im Unterschied zu diesen besteht sie jedoch darauf, dass wir den Fortschrittsbegriff brauchen, um in vernetzten weltgeschichtlichen Veränderungsprozessen Wandel zum Besseren – oder zum Schlechteren – und dessen Voraussetzungen überhaupt erkennen zu können. So weit, so gut. Aber auch: leichter gesagt, als getan.

Das eigentlich Neue in Rahel Jaeggis Überlegungen zum Fortschritt beginnt hier: Substanzieller Fortschritt kann nur in Bezug auf konkrete Ziele definiert werden. Wenn es darum geht, schneller von einem Ort zu einem anderen zu kommen, stellt die Eisenbahn gegenüber der Pferdekutsche einen Fortschritt dar. Aber gesellschaftlich „übergreifender“ (S. 185) Fortschritt lässt sich so nicht bestimmen. Denn „Gesellschaften verfolgen nicht Ziele, sie lösen Probleme“ (S. 173), und Fortschritt, so es ihn denn gibt, würde also aus der erfolgreichen Bewältigung von Problemen resultieren. Mittels dieses bedeutsamen Schrittes betrachtet die Autorin Gesellschaften nunmehr aus der Perspektive ihrer jeweiligen Gegenwart und nicht mit Blick auf eine (bessere) Zukunft, auf die sie sich angeblich hin entwickeln. Rahel Jaeggi „deflationiert“ (S. 168, S. 196) die Annahmen der Moral- und der Geschichtsphilosophie über übergreifenden und anhaltenden substanziellen Fortschritt. Für sie ist Fortschritt ein sich anreichernder Erfahrungs- und Problemlösungsprozess (S. 39 u.a.). „Fortschritt lässt sich zwar nicht substanziell, wohl aber prozedural bestimmen, als Verlaufsform sozialen Wandels, die damit selbst normative Bedeutung erhält.“ (S. 173)

Mit der Akzentuierung von Erfahrung und Problemen[2] platziert Jaeggi das Fortschrittsverständnis in „Ensembles von Praktiken“ (S. 39, 119) oder Lebensformen.[3] Der Gefahr, eine derartige Kontextualisierung könne zu Relativismus führen, begegnet sie mit dem Verweis darauf, die Analyse von Lebensformen müsse die systematischen und strukturellen Umstände in Betracht ziehen, unter denen Erfahrungen gemacht und Probleme identifiziert werden. Zweifellos – aber führt sie damit nicht doch wieder einen substanziellen Aspekt in das Fortschrittsverständnis ein, wodurch sogar langfristige Entwicklungstendenzen wieder möglich gemacht werden? Rahel Jaeggi ist sich dieser Frage bewusst, scheut aber davor zurück, sie explizit anzusprechen oder gar zu beantworten (siehe bspw. S. 130). Mit anderen Worten: Ist der Versuch, den Fortschritt seiner Substanz zu entleeren, aber den Begriff beizubehalten, vielleicht ein Fall von „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“?

Gehen wir diesem Verdacht nach. Hat Rahel Jaeggi die alten Annahmen wirklich aufgegeben? Wiederholt verweist sie auf die Abschaffung der Sklaverei, die Sanktionierung von Vergewaltigung in der Ehe und die Ächtung von Gewalt in der Kindererziehung als Beispiele von Fortschritt, die sie nuanciert diskutiert. Aber stehen diese „Paradebeispiele“ (S. 129) nicht eher für einen auf eine substanzielle Idee gegründeten Fortschritt, für deren Durchsetzung sich Menschen über Jahrhunderte einsetzten? Die gemeinte Idee wäre die Menschenwürde, die sich in den Menschenrechten konkretisiert: vom Disput in Valladolid 1550/1551 über die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im Jahre 1789 und die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen von 1948 bis zur Gründung von Amnesty International und der KSZE-Erklärung von Helsinki in den 1970er-Jahren. Ich bin weit davon entfernt, diese ‚Entwicklung‘ als ‚unwiderstehlich‘ und ‚verlustfrei‘ anzusehen, und es ist auch unabdingbar, die jeweiligen historischen Momente kontextuell als Problembearbeitungen aufgrund von neuen Erfahrungen zu betrachten.[4] Es handelt sich hier nicht schlicht um eine ‚Erweiterung‘ der Anwendung einer einmal formulierten fortschrittlichen Idee auf mehr Menschen und Situationen – eine Denkweise, die Rahel Jaeggi zu Recht kritisiert. Ihr Neudenken des Fortschrittsbegriffs mobilisiert jedoch Beispiele, die suggerieren, dass man nicht ganz auf Elemente des alten Fortschrittsbegriffs verzichten kann; dies ist durchaus erhellend.

Menschen operieren mit Beziehungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir bearbeiten problematische Erfahrungen mit Erwartungen darüber, wie eine erfolgreiche Problemlösung aussehen kann und woran sich deren Erfolg bemisst. Gesellschaften weisen darüber hinaus unterschiedliche „Regime von Historizität“ auf.[5] Unsere Geschichte war über lange Zeit davon geprägt, dass sich der Erwartungshorizont weit vom Erfahrungsraum getrennt hatte.[6] Genau dies führte zu dem überkommenen Fortschrittsbegriff, den wir nicht länger aufrechterhalten können. Aber wir kommen nicht umhin, zu konstatieren, dass normative Erwartungen den sozialen Wandel in unseren Gesellschaften vom Ende des 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts mitgeprägt haben. Diese Erwartungen wiederum können wohl nicht anders als substanziell beschrieben werden – mit den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit im Mittelpunkt. Dabei haben diese Erwartungen nicht notwendigerweise einen teleologischen Charakter, zielen weniger auf die Realisierung von so etwas wie absoluter Freiheit und Gleichheit als vielmehr auf Verringerung von Unfreiheit und Ungleichheit, also auf Emanzipation. Substanzielle Erwartungen auf übergreifenden Fortschritt stehen also nicht im Gegensatz zur Betonung von Fortschritt als einem sich anreichernden Problemlösungsprozess. Zudem bringt substanziell erwartungsgeprägter sozialer Wandel nicht zwingend Fortschritt hervor. Dies ist eine separate Frage, zu deren Beantwortung sowohl die „Kehrseite“ (S. 210) der Fortschrittserwartungen identifiziert als auch herrschaftsbedingte Widerstände gegen die Realisierung der Erwartungen berücksichtigt werden müssen.

Nun könnte man natürlich argumentieren, dass sich die zentralen substanziellen Fortschrittserwartungen heute erschöpft haben – entweder dadurch, dass die substanziellen Ziele erreicht wurden, oder wegen der Einsicht in die Unmöglichkeit, sie zu erreichen. Dies war das Thema der Debatte über die Postmoderne und das Ende der Geschichte im Ausgang des 20. Jahrhunderts. Nach dieser Erschöpfung, so könnte man dann schließen, bliebe nur noch ein prozessualer Fortschrittsbegriff. Aber Rahel Jaeggi scheint eher zu suggerieren, dass die Menschheitsgeschichte generell im Lichte eines prozessualen Fortschrittsverständnisses gelesen werden sollte.[7] Darauf deutet nicht nur hin, dass ein übergreifender substanzieller Fortschrittsbegriff für sie an Gesellschaften generell nicht anlegbar ist, sondern auch die Einbettung ihrer Reflexionen in einen geschichtsphilosophischen Rahmen: „Keine Geschichtsphilosophie ist [...] auch keine Lösung.“ (S. 35)

Im Unterschied zur substanziell fortschrittsorientierten Geschichtsphilosophie in der Aufklärungstradition optiert Jaeggi für eine „schwache“ (S. 168), „brüchige“ (S. 39) Logik der Geschichte,[8] für die sie Hegel, Marx und Adorno mobilisiert. Selbst in nuancierter Interpretation ist es aber schwer, die Geschichtsversion der beiden erstgenannten Autoren anders als „stark“ zu sehen. Bei Adorno ist die Geschichte „brüchig“ eher im Sinne einer harten Substanz wie Glas, die unter einem Schock zerbricht, und nicht im Sinne einer Offenheit für unterschiedliche Erfahrungen und Problemlösungen, wie man im Lichte der Argumentation erwarten sollte. Im Gegenteil verweist Jaeggi auf diese Geschichtsinterpretation wohl, um Erfahrungen und Problemlösungen in eine schon bestehende belastbare Theorie von Gesellschaft einzubetten. Es scheint so, dass Krisen und Widersprüche zunächst strukturell und systematisch determiniert sind, während die Erfahrung sozusagen im Nachhinein gemacht wird und Problemlösung induziert.

Nur so kann man mittels eines prozessualen Fortschrittsverständnisses unterscheiden, welche Problemlösung „angemessen“ und welche „unangemessen“ ist (S. 196). Die von Rahel Jaeggi zur Unterscheidung eingeführten Kriterien sind die der „Anreicherung“ oder der „Blockade“ eines Problemlösungsprozesses. Testen wir die Kriterien mit einem Beispiel, das die Autorin selbst, allerdings nur kurz anspricht: die „Sackgasse“ (S. 40), in die die vermeintlich fortschrittlichen westlichen Gesellschaften mit ihrem „Naturverhältnis“ und ihrer „Lebens- und Wirtschaftsweise“ geraten sind. Aber sie sagt nicht, dass in historischer Betrachtung diese Sackgasse als Ergebnis eines sich anreichernden Erfahrungs- und Problemlösungsprozesses angesehen werden kann. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhren westeuropäische Gesellschaften eine Blockade bei der Lösung der sozialen Frage, in deren Folge fragile Demokratien kollabierten. Sie war, so die heutige Diagnose, eine Regression – wenngleich dies damals nicht generell so gesehen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte man den materiellen Wohlstand der Bevölkerung zu erhöhen, um so die Demokratien zu konsolidieren. Dies wurde weithin als Fortschritt angesehen, als Anreicherung im Sinne einer neuen Erkenntnis, es führte sogar zur Wiederbelebung des Fortschrittsbegriffs, der durch die Erfahrungen der ersten Jahrhunderthälfte diskreditiert war. Aber diese Problemlösung vertiefte die Spaltung zwischen sogenannter Erster und Dritter Welt und führte zu massiver Naturzerstörung und zu Klimawandel. Müsste diese „Große Akzeleration“[9] nicht von ihrem Beginn an als Regression betrachtet werden? Oder allgemeiner: Wie gehen wir mit einem Problemlösungsprozess um, der als angemessen und fortschrittlich erscheint, aber im Nachhinein als unangemessen und regressiv zu reinterpretieren ist? Rahel Jaeggi rettet sich aus diesem Dilemma mit der Annahme, die schwache, brüchige Logik der Geschichte sei „mindestens retrospektiv“ erkennbar (S. 39, s. auch S. 164), aber dies ist für die Zeitgenoss:innen kein großer Trost.[10]

Und auch nicht für die Theoretiker:innen des sozialen Wandels. Durchaus zu Recht erkennt Jaeggi sozialen Wandel als Reaktion auf Krisen und Widersprüche, auf „Problemdruck, der zur Veränderung nötigt“ (S. 38). Aber daraus ergibt sich keine „Theorie sozialen Wandels“ (S. 43, S. 139), die „belastbare“ Lektürekriterien (S. 197) für diese Prozesse als Fortschritt oder Regression bereithält. Wenn Gesellschaften „von Problem zu Problem“ (S. 40) fortschreiten, ist es keineswegs ausgeschlossen, dass die Lösung eines Problems andere Probleme generiert, die schwieriger zu lösen oder vielleicht sogar unlösbar sind.[11] Jaeggi schließt dies auch nicht generell aus; der Begriff der Regression dient der Erfassung einer solchen Situation. Aber ihre Argumentation mäandert zwischen zwei Positionen: Einerseits verringert sie Historizität, indem sie Probleme isoliert voneinander betrachtet und wenig explizites Interesse an Sequenzen von Problemen und deren Lösungen über längere Zeiträume zeigt (Elemente davon auf S. 168). Die von ihr selbst so genannte „pragmatistische“ Haltung ist erforderlich zur Deflationierung des übergreifenden substanziellen Fortschrittsbegriffs. Andererseits aber möchte sie ihren prozessualen Fortschrittsbegriff in der Geschichte verankern, indem sie (möglichen) Fortschritt als „Zunahme an Erfahrung, [...] Wachstum im Sinne einer Zunahme an kriseninduzierter Reflexivität“ (S. 194) oder als „das reflexiv Umfassendere“ definiert (S. 193). Ihre Formulierungen erinnern an die nicht unkritische, aber überoptimistische Zeitdiagnose Ulrich Becks von der Ankunft einer „reflexiven Moderne“ in den 1980er-Jahren.[12]

Menschen machen Erfahrungen, und im Verlauf der Geschichte mehren sich Erfahrungen. Rahel Jaeggi spricht von einer „Dialektik des Fortschritts“ (S. 200) und sieht den Gang der Geschichte „nicht linear“ (S. 193). Aber ihrer schwachen Logik der Geschichte liegt zugrunde, dass sich Erfahrungen kumulieren können und dass in der Geschichte Möglichkeiten geschaffen werden, wenngleich diese manchmal verborgen bleiben und verpasst werden (S. 212). Dem ist nicht generell zu widersprechen. Aber wenn sie von Fortschritt als einem „Schritt [...] in Richtung der Entfaltung der Potenziale einer gegebenen Situation“ (S. 204) spricht, dann erscheint mir die angenommene Gesellschaftstheorie, die diese Potenziale zu identifizieren vermag, als zu „stark“ und in Widerspruch zu Jaeggis Anliegen. Der Begriff „Potenzial“ – häufig an kritischen Stellen eingesetzt – suggeriert, zukünftige substanzielle Möglichkeiten seien schon be- und erkannt und fortschrittliches Handeln bewege sich auf deren Verwirklichung hin. Der Unterschied zum klassischen und kritisierten Fortschrittsverständnis verwischt.

Wäre es nicht oft naheliegender – oder zumindest plausibel – anzunehmen, eine Problemlösung kann zwar erfahrungsgetränkt und „anreichernd“ sein, vernichtet aber dennoch zukünftige, noch unbekannte Möglichkeiten? Eine solche Problemlösung, wie beispielsweise die „Große Akzeleration“, retrospektiv als regressiv zu bezeichnen, wäre weder den Erfahrungen der Vergangenheit angemessen noch in der Gegenwart hilfreich. Die Kriterien für Fortschritt sind nicht so belastbar, wie sie präsentiert werden, in beiderlei Hinsicht: Es ist schwierig, eine Problemlösung als angemessen zu bewerten, wenn sie substanzielle Aspekte ausblendet, und nur den Prozess zu betrachten. Zudem ist es in der Situation oft auch nicht erkennbar und vielleicht auch nicht entschieden, ob ein Problemlösungsprozess anreichernd oder blockierend ist. Eine Dialektik des Fortschritts müsste neben der Kumulation von Erfahrungen auch die Kumulation von Problemen in den Blick nehmen und den Gang der Geschichte, wie wenig linear dieser auch war, bis zur Problemkonstellation der Gegenwart nachzeichnen. Dafür bräuchten wir ein Verständnis unserer Gegenwart als Epoche, als gegenwärtiges Ergebnis einer langen und unabgeschlossenen Kette von Prozessen der Bearbeitung substanzieller Probleme. Auf den letzten Seiten ihres Buches (und in der letzten Fußnote) kommt Rahel Jaeggi einem solchen Schluss nahe. Aber ihre Aussage, dass Fortschritt „kriterial [...] nicht umkehrbar“ sei (S. 245), ist enigmatisch und lässt den Rezensenten etwas ratlos zurück. Nichts in der Geschichte ist umkehrbar, ob „normativ erzählt“ (S. 246) oder empirisch.

  1. Claus Offe fragte bereits im Jahr 2010, was man heute noch unter Fortschritt verstehen könne, und kam zu der skeptischen Mutmaßung, der einzig mögliche Fortschritt bestehe gegenwärtig vielleicht darin, Rückschritte aufhalten zu können. Claus Offe, Was (falls überhaupt etwas) können wir uns heute unter politischem „Fortschritt“ vorstellen? in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 7 (2010), 2, S. 3–14. Die geschichtsphilosophische These von der Erschöpfung der emanzipatorischen Erzählungen wurde in den 1980er-Jahren weithin debattiert, aber das Thema verschwand im scheinbar progressiven Elan von Globalisierung und Individualisierung wieder. Der Fortschrittszweifel kehrte seit der Finanzkrise von 2008 und ihren vielfältigen Folgen zurück. Es stellt sich die wichtige Frage, ob dies nicht vornehmlich eine Perspektive ist, die in jenen Gesellschaften plausibel erscheint, die annahmen, Fortschritte bereits gemacht zu haben; sie kann hier aber nicht behandelt werden.
  2. Vgl. auch Peter Wagner, Moderne als Erfahrung und Interpretation. Eine neue Soziologie zur Moderne, Konstanz 2009.
  3. Ein Konzept, das sie zuvor entwickelt hatte: Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2013.
  4. Vgl. etwa Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge, MA 2010; ders., Not Enough. Human Rights in an Unequal World, Cambridge, MA 2018.
  5. François Hartog, Régimes d'historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003.
  6. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979.
  7. Ersteres entspräche mehr der Denkweise der historischen Soziologie in Verbindung mit Begriffsgeschichte, Letzteres jener der Sozialphilosophie. Der Graben zwischen diesen Denkweisen scheint bedauerlicherweise unüberbrückbar zu bleiben.
  8. Es ist äußerst angenehm zu sehen, wie Rahel Jaeggi explizit die anderen – oft jüngeren – Forscher:innen erwähnt, die im direkten Austausch mit ihr die Untersuchung bereichert haben. In diesem Fall Isette Schuhmacher für den Begriff brüchig.
  9. Will Steffen / Wendy Broadgate / Lisa Deutsch / Owen Gaffney / Cornelia Ludwig, The Trajectory of the Anthropocene. The Great Acceleration, in: The Anthropocene Review 2 (2015), 1, S. 81–98.
  10. Man könnte einen Ausweg in einem anderen Verständnis der Qualität des Prozesses suchen. Die Blockade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hängt sicherlich mit der Abwesenheit von lösungsorientierter Kommunikation zwischen den gesellschaftlichen Eliten und der Arbeiterbewegung zusammen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten die Eliten zur Problemlösung auf die Apathie der Bevölkerung und nicht auf kommunikative Verständigung. Verfechter einer deliberativen Demokratie mögen annehmen, dass die Qualität der politischen Kommunikation auch die Qualität der demokratischen Entscheidung beeinflusst. In diesem Sinne wäre Erstere prozessual und Letztere substanziell. Aber diesen Weg will Rahel Jaeggi offenbar nicht gehen – wohl weil so das Prozessuale auf Kommunikation reduziert wird und das Substanzielle nicht verschwindet.
  11. Wir sind uns nicht mehr so sicher wie einst Marx, dass „sich die Menschheit immer nur Aufgaben [stellt], die sie lösen kann“. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort [1859], in: Karl Marx / Friedrich Engels,Werke, Bd. 13, Berlin/DDR 1961, S. 7–11, hier S. 9.
  12. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Geschichte Kritische Theorie Moderne / Postmoderne Philosophie Zeit / Zukunft

Peter Wagner

Peter Wagner ist Forschungsprofessor für Sozialwissenschaften am Katalanischen Institut für Forschung und höhere Studien (ICREA) und an der Universität Barcelona sowie gegenwärtig ein Leiter des Research Clusters „Modernity in Central Asia: Identity, Society, Environment“ an der University of Central Asia. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Gesellschaftstheorie, der historisch-vergleichenden Soziologie, der politischen Soziologie und der politischen Philosophie.

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