Wibke Liebhart | Zeitschriftenschau | 28.02.2024
Aufgelesen
Die Zeitschriftenschau im Februar 2024
Soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Stratifizierung, Klassenunterschiede – all dies sind Grundmotive der Soziologie. Verdichten und explizieren lassen sie sich, so die Beobachtung von Carlos Spoerhase in der Februar-Ausgabe des Merkur, besonders gut in „literarische[n] Besteckszenen“. Auffallend viele Romane und (Auto-)Soziografien thematisieren immer wieder das gemeinsame und vor allem richtige Essen mit Messer und Gabel. Nach einem dahingehend überzeugenden Einblick in die Literaturlandschaft durchkämmt Spoerhase die Sozial- und Kulturtheorie. Fündig wird er etwa bei Georg Simmel und Norbert Elias, ebenso wie bei Marcel Mauss und Albert O. Hirschman. Das Besteck, so Spoerhase, hat den „Status eines partikularen narrativen Bezugsobjekts, das eine generelle theoretische Perspektive auf das Soziale zu veranschaulichen und zu plausibilisieren verspricht“ (S. 69).
Dies hat dem Literaturwissenschaftler zufolge verschiedene Gründe. Zum einen sei die Besteckszene Leser:innen hinlänglich bekannt und damit leicht anschlussfähig. Zum zweiten träten in ihr die herrschenden Klassenunterschiede besonders augenfällig zutage. Als dritten Punkt führt Spoerhase den buchstäblich szenischen Charakter von Tischsituationen an, weshalb sich die Besteckszene als „dramaturgische[] Verdichtungsform des Sozialen“ eignet, sie gerät „zu einem Kammerspiel hochregulierter Sozialität, das nicht nur vor einer Tischgemeinschaft, sondern auch und vor allem vor einem Lese- oder Filmpublikum aufgeführt wird“ (S. 71).
Anschaulichkeit und Eingängigkeit der Besteckszene sind jedoch limitiert, so Spoerhase weiter. Denn sie reduziert die soziale Komplexität auf ein – leicht erlernbares – Set aus Regeln und Codes: Wer dies verstanden und sich die entsprechenden Verhaltensweisen angeeignet hat, dessen Aufstieg steht nichts mehr im Wege, möchte man meinen. Doch Spoerhase lässt Zweifel an dieser vermeintlichen Gewissheit aufkommen, wenn er rhetorisch fragt: „Führt die szenische Dramatisierung durch temporale Verdichtung des Sozialen hier nicht dazu, dass wir die soziale Relevanz derartiger Konstellationen überschätzen?“ (S. 72) Oder leicht suggestiv: „Was wäre aber, wenn in modernen Gesellschaften der Gegenwart soziale Ungleichheit nicht primär in formalisierten Interaktionskonstellationen, sondern in informelleren Situationen hergestellt werden würde?“ (ebd.)
Sicher hätten dem Aufsatz im analytischen zweiten Teil ein paar mehr konkrete Aussagen statt Andeutungen gutgetan, Spoerhases darin enthaltene Einschätzung ist dennoch interessant: Weil die zahlreichen Besteckszenen den Eindruck vermitteln, soziale Klassen seien anhand ihres Umgangs mit Messer und Gabel erkenn- ebenso wie dadurch überwindbar, handelt es sich um mehr oder weniger oberflächliche „Spontansoziologie“. Sie bestätigen der Leserschaft diejenigen soziologischen Einsichten, die sie bereits hat. Dadurch bleiben jedoch tieferliegende Mechanismen unbemerkt und unbedacht, in diesem Fall „die schwer zu durchschauende Struktur einer stratifizierten Gesellschaft, die den mühsamen sozialen Aufstieg mit Messer und Gabel in der Hand erst notwendig gemacht hat“ (S. 74).
Einem gänzlich anderen Thema widmet sich Stefan Hirschauer in der Marginale ebenfalls des aktuellen Merkur. Im Kontext der „Eskalationsspirale in Nahost“ fragt er aus „konfliktsoziologische[r] Perspektive“, welche analytischen Aufgaben den Sozialwissenschaften in der Begleitung und Betrachtung von aktuellen politischen Konflikten zukommen. Hirschauer buchstabiert die Bedingungen aus, unter denen Konflikte entstehen, sich formieren und eskalieren können. Erstens beschreibt er das sogenannte Splitting, also klare Fronten zwischen den involvierten Seiten, die nur mittels kategorialer Zuordnung und Trennung der Gegner herzustellen und aufrecht zu erhalten sind. Im hier konkreten Fall seien die Hamas wie auch die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu „exzellente Polarisierungsunternehmer“, das heißt, Außenstehende müssen sich entscheiden, auf wessen Seite sie stehen: „Bei der Vereinnahmung von Unbeteiligten zwingen die Konfliktparteien dem Publikum auch ihre Empathieverweigerung auf. Wer versucht, gleiche Empathie für beide Seiten zu bekunden, gilt jeder Seite als einseitig.“ (S. 78)
Die zweite Bedingung, das Lumping, geht mit dem Akt des Splitting einher und meint „eine ethnische Versämtlichung der Parteien“: Während die ausländische Öffentlichkeit häufig alle Palästinenser:innen, Araber:innen, Muslim:innen mit der Hamas gleichsetzt, setzen dieselben medialen und intellektuellen Stimmen alle Jüdinnen und Juden ebenso wie die israelische Bevölkerung in eins mit der israelischen Regierung. Eine solche Vereinheitlichung ignoriert – ganz bewusst – „differenzierte Einstellungen, gemischte Zugehörigkeiten und auch demografische Tatsachen“ (S. 79).
Die dritte Bedingung, die Hirschauer in seiner Auseinandersetzung mit politischen Konflikten ausmacht, ist eine gesteigerte Emotionalität. Gewaltexzesse wie die Anschläge vom 7. Oktober 2023 und der darauffolgende Krieg im Nahen Osten „erzeugen Opfer und Täter, sie schaffen Schmerz und Trauer, schüren Angst und Bedrohung“ (ebd.). Entscheidend für die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft und die Frage, ob sie die (Kriegs-)Handlungen als legitim erachtet, sei der strategische Einsatz der eigenen Opfer als moralisches Kapital: „Für den Staat Israel sind getötete Palästinenser ein politisch nur begrenzt hinnehmbarer militärischer Kollateralschaden, der seine Legitimität als Angegriffener unterhöhlt, für die Hamas sind sie ein politischer Trumpf im Ringen um die Sympathie des Globalen Südens.“ (S. 80)
Als vierten und letzten Aspekt nennt Hirschauer perspektivische Verzerrungen, diesmal wieder vonseiten der Beobachter:innen, die ihrerseits bestimmte Ziele verfolgen: „In den aktuellen Darstellungen des Nahost-Konflikts gibt es nun eine ganze Reihe von polemogen gebrauchten Begriffen und schiefen Analogien, mit denen sich die Dynamik des Konflikts auch auf die analytischen Kategorien zu seinem Verständnis ausdehnt, darunter ‚Genozid‘, ‚Apartheid‘, ‚Kolonialismus‘, aber auch ‚Antisemitismus‘.“ (S. 81) Dem entgegenzuwirken, also Verzerrungen zu korrigieren und analytische Begriffe zu präzisieren, sei sowohl Potenzial als auch Pflicht der Sozialwissenschaften – ein eindrückliches Plädoyer, mit dem Hirschauer seine Einlassung schließt.
Ebenfalls um die Rolle und Ausgestaltung der Sozialwissenschaften geht es im Beitrag von Isabelle Bartram, Tino Plümecke und Peter Wehling in Heft 1/2024 der Soziologie. Unter dem Titel „Ein neuer Versuch, die Soziologie zu biologisieren“ fragt das Trio: Was ist Soziogenomik? Es handele sich hierbei um den jüngsten Versuch, „genetische Bestimmungsfaktoren für soziale Verhaltensweisen und Eigenschaften aufzudecken sowie ihre Effekte zu quantifizieren und von sozialen Einflüssen abzugrenzen“ (S. 40). Zentral dafür ist die Heritabilität von Verhaltensmerkmalen, ein Begriff aus der Verhaltensgenetik und Zwillingsforschung, der den Anteil beziffert, zu dem Ausprägungsunterschiede eines Merkmals auf genetische Variationen zurückgeführt werden können. Menschliche Genome sind zu 99,9 Prozent identisch, doch weisen sie Millionen minimaler Varianten im Genom – single nucleotide polymorphisms, SNPs – auf, die man im Zuge zahlreicher genetischer Studien in den letzten zwanzig Jahren entdeckte. Die SPNs werden „auf statistische Zusammenhänge mit Unterschieden in Krankheitsverläufen, Verhaltensweisen oder Eigenschaften“ (S. 29) untersucht, um sie mithilfe von Big Data zu polygenen (Risiko-)Scores (PGS) zu bündeln. „Entsprechende Studien versuchen, mittels PGS abzuschätzen, wie hoch der erbliche Einfluss auf die Ausprägung einer bestimmten Eigenschaft ist.“ (S. 30) Derlei Verfahren sind nur aufgrund technischer Entwicklungen in den letzten Jahren möglich, allen voran deutlich kostengünstigere Genomsequenzierungen und enorm gestiegene Rechenleistungen bei der Auswertung einer Fülle genetischer und genomischer Daten.
Das Papier ist als Warnruf zu lesen: Die Autor:innen vermissen hierzulande „eine Auseinandersetzung mit diesem neuerlichen Versuch, Genetik und Genomik in die Sozialwissenschaften einzuführen“ (S. 21) – immerhin erfasst das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) mittlerweile via Speichelprobe genetische und genomische Daten und integriert sie in seine Analysen (Gene-SOEP 2019). Darüber hinaus sei die Abgrenzung der Soziogenomik von diskreditierten früheren Forschungslinien wie Eugenik, Verhaltensgenetik und Zwillingsforschung lediglich rhetorischer Natur, jedoch keinesfalls methodisch und konzeptionell. Die Eugenik ging von einem genetischen Unterschied zwischen Menschen aus, der es ihnen ermöglicht – oder eben nicht –, bestimmte Fähigkeiten zu entwickeln. Obwohl die Aussagekraft soziogenetischer Studien, trotz technischer Innovation und Big Data, äußerst überschaubar sei, berge eine solche Forschung enorme Risiken, ermögliche sie doch „eine Hierarchisierung von Menschen hinsichtlich ihrer genetisch bedingten Möglichkeiten, bestimmte Eigenschaften wie Bildungserfolg, Intelligenz, Risikobereitschaft, aber auch Alkoholismus oder Kriminalität auszubilden“ (S. 36). Davor verschlössen Verfechter:innen der Soziogenomik Augen und Ohren, zudem gebe es kaum Aussagen darüber, wer wann, wie, zu welchem Zweck und mit wessen Einverständnis entsprechende Daten erhebt und auswertet.
Inhaltlich kritisieren Bartram, Plümecke und Wehling unter anderem, dass Soziogenomiker:innen allzu trennscharf zwischen genetischen und umweltbezogenen Einflüssen unterscheiden, um die Wirkmacht der Gene quantifizieren zu können; anstatt die Interaktion von zu untersuchen. Des Weiteren ‚verwechselten‘ sie Kausalität und Korrelation. Entgegen ihrer Vorannahmen ließe sich mithilfe soziogenetischer Studien zwar eine statistische Häufung von Gendaten und Verhaltensausprägung feststellen (Korrelation), jedoch kein zwangsläufig ursächlicher Zusammenhang (Kausalität), sodass die Ergebnisse nur zu einer sehr eingeschränkten Prognose genutzt werden könnten. Den Umweltbedingungen schreibt die Genomik lediglich einen sekundären, allenfalls abschwächenden oder verstärkenden Einfluss zu, dabei ist die Vorhersagekraft „von sozio-ökonomischen Faktoren wie Schichtzugehörigkeit oder Bildungsabschlüssen der Eltern“ (S. 40) wesentlich größer als diejenige genetischer Faktoren. Wir brauchen also, so das Fazit der Autor:innen, auch – oder gerade – in Deutschland eine umfassende und vor allem kritische Auseinandersetzung mit der Soziogenomik, ebenso wie eine Debatte über ihre Methoden, Konzepte, Prämissen und Implikationen. Die Soziologie müsse sich im Klaren darüber werden, inwiefern beziehungsweise ob überhaupt sie sich in einem Forschungsfeld engagiere, das letztlich doch nur neuer Wein in alten, vergifteten Schläuchen sei.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Bildung / Erziehung Gesundheit / Medizin Gruppen / Organisationen / Netzwerke Internationale Politik Normen / Regeln / Konventionen Soziale Ungleichheit
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