Stephanie Kappacher | Zeitschriftenschau | 30.01.2025
Aufgelesen
Die Zeitschriftenschau im Januar 2025
Vor wenigen Tagen, am 20. Januar 2025, trat Donald Trump sein Amt als 47. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika an. Die Sitzordnung der geladenen Gäste war dabei aussagekräftiger als die Worte seiner Antrittsrede: Noch vor den designierten Mitgliedern des neuen Kabinetts saßen die Big Player des Silicon Valley, namentlich Amazon-Chef Jeff Bezos, Facebook-Gründer und Meta-Platforms-CEO Mark Zuckerberg sowie – last but not least – Tesla- und SpaceX-Inhaber Elon Musk. Letzterer war bereits während des Wahlkampfes als Unterstützer Trumps hervorgetreten und scheint offenkundig gewillt, seine wirtschaftliche Machtposition zukünftig auch politisch geltend zu machen.
Über die Ziele, die Musk und Co. verfolgen, informiert die US-amerikanische Wirtschaftssoziologin Brooke Harrington in der Ausgabe 1/2025 der Blätter für deutsche und internationale Politik. Unter dem Titel „Die kommende Broligarchie“ beschreibt sie, worauf man sich zukünftig in den USA einzustellen hat. Mit dem einprägsamen Begriff der Broligarchie bezeichnet Harrington die zu erwartende neue politische Ordnung in Washington, „eine Oligarchie, in der enorme Macht an die Bros der Technologie- und Finanzbranche fließt, an Magnaten, von denen einige den demokratischen Traditionen gleichgültig oder sogar offen feindlich gegenüberstehen“ (S. 71).[1] Zu diesen Bros zählen nicht nur die bei Trumps Inauguration in erster Reihe anwesenden Herren Bezos, Musk und Zuckerberg, sondern etwa auch PayPal- und Palantir-Mitbegründer Peter Thiel oder Tech-Investoren wie Marc Andreessen und David Sacks.
Letzterer wird beispielsweise als kommender „KI- und Krypto-Zar“ im Weißen Haus[2] gehandelt. Was genau Sacks’ künftige Aufgaben sein werden, beschrieb Trump höchstselbst auf seiner hauseigenen Plattform Truth Social:
„In this important role, David will guide policy for the Administration in Artificial Intelligence and Cryptocurrency, two areas critical to the future of American competitiveness. David will focus on making America the clear global leader in both areas. He will safeguard Free Speech online, and steer us away from Big Tech bias and censorship.“[3]
Obwohl Harrington seit beinahe 20 Jahren die Normen und Praktiken der Ultrareichen dieser Welt beforscht und auch auf die sich schon früh abzeichnende Bromance zwischen Musk und Trump bereits länger ein besonderes Auge hatte, zeigt sie sich vom Ausmaß des sich abzeichnenden innen- wie außenpolitischen Einflusses der Broligarchen überrascht (S. 72). Schließlich ist Sacks bei Weitem nicht der einzige, dem in Trumps künftigem Kabinett eine bedeutsame Rolle zukommen dürfte. Neben Finanzmanager Howard Lutnick, dem designierten Handelsminister, gilt dies insbesondere für Musk, der zukünftig einem neuen „Department of Government Efficiency“ vorstehen und dort Einfluss auf die Verwaltung nehmen soll. Damit nicht genug, hat er in beratender Funktion bereits wiederholt an Besprechungen Trumps mit Regierungsvertretern teilgenommen, telefonisch etwa mit Selensky und Erdoğan, persönlich mit Milei in Trumps Anwesen Mar-a-Lago (S. 71).
Angesichts einer solchen Verquickung von überbordendem Reichtum und politischer Macht kann einem ganz schwindelig, womöglich sogar angst und bange werden. Harrington zufolge hätten einige der Ultrareichen insbesondere der Trump’schen Einwanderungs- und Zollpolitik anfangs durchaus kritisch gegenübergestanden (S. 72). Am Ende jedoch habe eine diese elitäre Gruppe einende Überzeugung gesiegt, nämlich jene, dass einige Männer über dem Gesetz stehen sollten, frei von „jeglicher Beschränkung und jeglicher Verpflichtung gegenüber den Gesellschaften, die sie reich gemacht haben“ (ebd.). Trump selbst verweise bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf seinen Status als superreicher Celebrity, einerseits um sich und anderen stets die eigene Bedeutsamkeit gegenwärtig zu machen, andererseits um damit seine juristische Unantastbarkeit zu legitimieren. Tatsächlich wurde Trump bislang weder für seine sexuellen Übergriffe noch für seine mutmaßlichen Steuervergehen belangt. Schon im Wahlkampf 2016 habe Trump sich damit gebrüstet, seit Jahren keine Steuern mehr gezahlt zu haben, und dies im TV-Duell gegen Hillary Clinton zum Anlass genommen, sich selbst als „schlau“ zu bezeichnen (S. 73). Derart „schlau“ seien auch Musk, Thiel und andere, die ebenfalls sehr wenige bis keine Steuern zahlten. Damit, so Harringtons pointierte Schlussfolgerung, hätten die Broligarchen die einstige Forderung der Boston Tea Party „no taxation without representation“ auf den Kopf gestellt, verfügten sie doch trotz ihres vergleichsweise geringen Steueraufkommens über ein hohes Maß an politischer Repräsentation (ebd.).
Harrington attestiert den Bros der Tech-Industrie aber noch weitergehende Absichten. Im Unterschied zu den „amerikanischen Oligarchen alter Schule“ seien sie scheinbar auf die weltweite Untergrabung des Nationalstaatensystems aus (ebd.). Während Musk sich – bislang ohne (größere) staatliche Beteiligung – an der Eroberung des Weltraums versuche, nähmen Thiel und Andreessen unseren Heimatplaneten ins Visier: In Honduras hätten sie alternative „libertäre Kolonien mit minimaler Besteuerung“ geschaffen, Thiel habe außerdem in Projekte zur Errichtung künstlicher Inseln und anderer autonomer Gemeinschaften investiert, die als „Außenposten für private Regierungsführung“ dienen sollen (ebd.).
Dass die Tech-Giganten des Silicon Valley gehörigen Einfluss auf den amtierenden US-Präsidenten auszuüben suchen, liegt auf der Hand. Fraglich ist, wie weit dieser gehen wird. Dass sie nicht immer bekommen dürften, was sie wollen, deutete sich schon bei der Nominierung Howard Lutnicks als Handelsminister an: Musk hatte ihn als Finanzminister vorgeschlagen. Und auch nach Trumps Ankündigung seiner KI-Offensive „Stargate“, die mit „mindestens 500 Milliarden Dollar“ finanziert werden[4] und die führende Rolle der USA bei der Entwicklung Künstlicher Intelligenz stärken sowie 100.000 Arbeitsplätze schaffen soll, zeigte Musk sich verschnupft: Er kritisierte das Projekt und bezeichnete dessen Finanzierung als unsicher.[5] Eingeweihte zeigten sich von Musks Kritik wenig überrascht, stellte Trump das Projekt doch mit den Chefs der drei großen Tech-Firmen OpenAI, Oracle und Softbank vor, ihres Zeichens allesamt wirtschaftliche Konkurrenten von Musk.
Wie hart der Konkurrenzkampf in der Branche ist und wie schnell das Blatt sich wenden kann, zeigten unlängst die rasant sinkenden Aktienkurse zahlreicher namhafter Tech-Firmen, darunter der Halbleiterproduzent Infineon und der Chiphersteller Nvidia. Auslöser für die deutlichen Kurseinbrüche waren Berichte über das chinesische „KI-Wunder“ DeepSeek,[6] das den von OpenAI entwickelten Rivalen ChatGPT im Ranking der US-amerikanischen App Stores als am besten bewertete kostenfrei nutzbare Software-Anwendung überholte – und das bei angeblich geringeren Entwicklungskosten und niedrigerem Energieverbrauch. Vor diesem Hintergrund scheinen die bis dato sehr hohen Bewertungen der bislang führenden Tech-Unternehmen plötzlich fragwürdig; und auch Trumps großspurige Ankündigungen zum KI-Projekt Stargate dürften angesichts der jüngsten Entwicklungsfortschritte der Konkurrenz an Überzeugungskraft eingebüßt haben, so die Einschätzung von Experten.[7]
Während der Kampf zwischen den USA und China um die Vormachtstellung im Tech-Sektor damit in eine neue Runde geht, werden in der EU und in Deutschland Stimmen laut, die fordern, den beiden Big Playern nicht das Feld zu überlassen, sondern ebenfalls kräftig zu investieren und die Entwicklung Künstlicher Intelligenz massiv voranzutreiben. Darüber hinaus gibt es jedoch, so informieren Hartmut Hirsch-Kreinsen und Thorben Krokowski in der Ausgabe 6/2024 der WSI-Mitteilungen, auch Bestrebungen, unter dem titelgebenden Label „Vertrauenswürdige KI“ beziehungsweise „Trustworthy AI“ (TAI) ein europäisches Alleinstellungsmerkmal bei der Entwicklung von KI im globalen Wettbewerb zu etablieren (S. 421).
Ziel dieser Strategie sei es, „die Entwicklung und Anwendung von KI an Anforderungen von Transparenz, Rechtmäßigkeit, Verantwortlichkeit, Privatheit, Diskriminierungsfreiheit und Zuverlässigkeit zu binden“ (S. 422). Zu diesem Zweck seien umfangreiche Regulierungen nötig, die bislang in dem im August vergangenen Jahres in Kraft getretenen „Artificial Intelligence Act“ (AI Act) der Europäischen Union mündeten. Ein wichtiger Bestandteil des Gesetzes sei die Vermeidung ethisch wie sozial unerwünschter Effekte von KI-Systemen mittels Risikobewertungskategorien. Letztere teilten Anwendungen entsprechend ihres Einsatzbereiches und Risikos ein: Je höher dieses ausfiele, desto strenger seien auch die Regelungen für den Gebrauch der Anwendung. Die mit KI-Systemen zur Qualitätskontrolle bei der industriellen Fertigung von Waren verbundenen Risiken etwa fielen in Hinblick auf soziale und ethische Aspekte weniger schwer ins Gewicht als bei KI-Algorithmen zur Personalbewertung und -rekrutierung (ebd.). Systeme, die etwa menschliches Verhalten manipulieren, seien aufgrund ihres „unannehmbare[n] Risiko[s]“ vollständig verboten (S. 423), als hochriskant eingestufte Systeme würden nur mit strengen Auflagen zugelassen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete den AI Act als „Blaupause für vertrauenswürdige KI in der ganzen Welt“ (S. 422). In politischer Hinsicht gehe es aber auch darum, „ein Distinktionsmerkmal und einen Wettbewerbsvorteil für europäische KI-Lösungen“ gegenüber der Konkurrenz zu schaffen (ebd.) und Europas Position im Tech-Wettstreit zu stärken.
Der AI Act verfolge zwar einen holistischen Ansatz und adressiere sowohl die europäische Gesellschaft als auch globale Unternehmen, die KI-Systeme innerhalb der EU zur Verfügung stellen oder einsetzen wollen (S. 423). Doch blieben ungelöste Herausforderungen (S. 424 f.), die nicht zuletzt mit Problemen der Durchsetzbarkeit neuer Rechtsnormen verbunden seien. Ein strukturelles Hindernis hinsichtlich der Durchsetzbarkeit von Regelungen des AI Act machen die Autoren in den kommerziellen Interessen von Software-Entwickler:innen aus (S. 425). Zudem attestieren sie dem Gesetz, ein „Innovationshemmnis“ zu sein (S. 426).
Hirsch-Kreinsen und Krokowski zeigen sich abschließend skeptisch gegenüber der Frage, ob der AI Act und die damit verbundenen ethischen und sozialen Bestrebungen hinsichtlich der Entwicklung und Nutzung Künstlicher Intelligenz ausreichend sind, um als „Alleinstellungsmerkmal einer europäisch-deutschen KI-Variante“ zu überzeugen (S. 427). An dem Beispiel offenbart sich, dass die kritischen Potenziale und die mit der Anwendung von KI verbundenen Risiken diskursiv inzwischen derart präsent sind, dass auf politischer Ebene weltweit – mal mehr, mal weniger ernsthaft – Maßnahmen zur Regulierung diskutiert und zum Teil auch schon ergriffen werden, um nicht nur die Entwicklung der zukunftsträchtigen Technik zu stärken, sondern auch den Schutz der Nutzer:innen und der Gesellschaften sicherzustellen.
Vor dem Hintergrund der Frage nach dem Vertrauen in Künstliche Intelligenz sind die Ergebnisse der Studie von Sascha Armutat, Malte Wattenberg und Nina Mauritz interessant, die das Autor:innentrio in der Rubrik „Neues aus Lehre und Forschung“ der Ausgabe 2/2024 der Femina Politica vorstellt. Die Forscher:innen haben sich mit dem „Gender Bias bei der Wahrnehmung Künstlicher Intelligenz“ und genderrelevanten Aspekten beim Verständnis von KI befasst.[8] Die Ergebnisse der Untersuchung belegen deutliche Unterschiede von Männern und Frauen im Umgang mit den Anwendungen Künstlicher Intelligenz. Hierbei zeige sich insbesondere, dass Männer weitaus mehr Vertrauen in KI haben und auch deren Zukunftspotenziale deutlich positiver bewerten; generell stünden sie den neuen technologischen Möglichkeiten optimistischer gegenüber als Frauen. Letztere hingegen zeigten sich skeptischer und schätzten insbesondere ihre eigenen Fähigkeiten in Bezug auf die Nutzung Künstlicher Intelligenz schlechter ein, als Männer dies tun (S. 125). Armutat, Wattenberg und Mauritz beleuchten hier insbesondere die negativen Auswirkungen dieses Umstands auf die Produktivität am Arbeitsplatz. Schließlich sei das Potenzial von KI riesig und in vielerlei Hinsicht vielversprechend, da berge es ein „unternehmerisches Risiko“, wenn eine „maßgebliche[] Belegschaftsgruppe das Nutzen der neuen Technologien in Frage stell[t]“ (ebd.). Die Zurückhaltung und Skepsis von Frauen und Mädchen bei der Anwendung Künstlicher Intelligenz erklären die Forscher:innen als „das Resultat einer Verkettung von haltungsprägenden Sozialisationsfaktoren mit Blick auf technikbezogene Geschlechterstereotypen“ (S. 126). Das beginne schon damit, dass sie als ‚sozialer‘ eingeschätzt würden als ihre männlichen Pendants und Lehrkräfte ihnen häufig einen geringeren Technik- und KI-Bezug unterstellten als ihren Klassenkameraden (ebd.). Das habe weitreichende Auswirkungen, etwa in Hinblick auf prägende Diskriminierungserfahrungen schon in der Schule, die sich im weiteren Leben fortsetzten und verfestigten. Als Maßnahme gegen die sich hartnäckig haltenden Stereotype und ihre konstante Reproduktion empfehlen die Autor:innen, Bildungsinstitutionen maßgeblich in die Pflicht zu nehmen, etwa indem dort ein fundiertes Basiswissen über die technischen Möglichkeiten vermittelt werde (ebd.), das alle erreicht. Zu diesem Zweck sollten insbesondere vielfältige Lehrmethoden zum Einsatz kommen, um individuelle Lernpräferenzen zu bedienen. Auch gelte es, das Lehrpersonal hinreichend für solche geschlechtsspezifischen Zusammenhänge zu sensibilisieren (S. 127), um Mädchen und Jungen gleichermaßen den Zugang zu diesen Technologien zu vermitteln.
Armutat, Wattenberg und Mauritz wählen in ihrer Studie ein altbewährtes Vorgehen zum Verständnis empirischer Wirklichkeiten: Sie werten ihre Ergebnisse unter anderem geschlechtsspezifisch aus und versuchen damit, Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu ergründen. Das Geschlecht, binär codiert als männlich oder weiblich, ist in der Sozialforschung nahezu allgegenwärtig, es ist eine grundlegende soziale Dimension. Und: Wer quantitative Sozialforschung betreibt, weiß auch in methodischer Hinsicht eine valide dichotome Variable zu schätzen; nicht zuletzt deshalb spielt das Geschlecht als Explanans eine derart bedeutende Rolle. Doch wie wird diese Variable eigentlich operationalisiert und unter welchen Bedingungen ist sie tatsächlich geeignet, die empirische Realität abzubilden? Kann sie das überhaupt, gerade in Zeiten der zunehmenden Sichtbarkeit von Diversität und geschlechtsspezifischer Varianz?
Mit dieser Frage nach der „Operationalisierung von Geschlechtlichkeiten in der empirischen Sozialforschung“ befasst sich der Beitrag von Sabrina A. Arneth in der Ausgabe 3/2024 der GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft. Von ihren Ursprüngen in den 1970er-Jahren an, so führt Arneth aus, sei die zunächst Frauen-, später dann Geschlechterforschung in einen Widerspruch verstrickt (S. 88). Denn die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten, die die Grundlage und Forschungsgegenstände dieser Disziplin maßgeblich ausmachten, entstammten quantitativen Erhebungen, in denen das Geschlecht der Befragten als sogenannte Globalvariable erfasst werde. Damit, so die Erläuterung der Autorin, ist gemeint,
„dass Geschlecht in der Regel als manifeste Variable mit eindeutigen Ausprägungen verstanden wird, als ein soziodemografischer Indikator unter vielen, der keiner Theorie oder weiteren Differenzierung bedarf, da er unmittelbar und vollständig in der empirischen Realität vorliegt und erfasst werden kann“ (S. 88–89, Hervorh. im Original).
Da jedoch nur mithilfe quantitativer Forschung das tatsächliche Ausmaß geschlechtsspezifischer Ungleichheit und Diskriminierung ermittelt werden könne, habe die Genderforschung die klassische Variante der Variable, die auf zwei Geschlechterausprägungen – männlich und weiblich – vereinfacht wurde, lange Zeit geduldet (S. 89). Doch werde auf diese Weise nicht nur die Varianz der Geschlechter negiert und ein etwaiger sozialer Wandel hinsichtlich der Geschlechtlichkeiten nicht adäquat beforscht, auch bleibe unklar, „welche Dimension von Geschlechtlichkeit“ eigentlich erhoben werde. Obschon seit der Einführung des Personenstandsgesetzes 2018 immerhin eine stärkere Sensibilität für die verschiedenen Dimensionen zu beobachten sei (S. 91), plädiert Arneth für eine intensivere Auseinandersetzung der Geschlechterforschung mit diesem Thema. Vor dem Hintergrund dieses Anliegens formuliert die Autorin sodann „Gelingensbedingungen für die Operationalisierung von Geschlechtlichkeiten in der empirischen Sozialforschung“ (S. 92).
Unter anderem fordert Arneth eine stärkere Offenheit zwischen den verschiedenen Denkstilen und Forschungsparadigmen unterschiedlicher (Teil-)Disziplinen (S. 94 f.). Sie erläutert, dass die Frauen- und Geschlechterforschung sich von ihren Ursprüngen an insbesondere der Methoden der qualitativen Sozialforschung bedient habe (S. 95). Auch wenn der sogenannte Methodenstreit zwischen qualitativen und quantitativen Ansätzen der Sozialforschung ihrer Meinung nach inzwischen so gut wie überwunden sei und sich die Prämisse ‚Der Gegenstand bestimmt die Methode‘ weitgehend durchgesetzt habe, wiesen die Teildisziplinen der quantitativen Sozialforschung und der Geschlechterforschung trotz einiger Annäherungen noch immer nur „wenige (personelle) Schnittmengen“ auf (ebd.), was eine konstruktive Auseinandersetzung und ein produktives Miteinander erschwere. Aus diesem Grund plädiert Arneth für einen intensiveren Austausch zwischen den Disziplinen und betont die Bedeutung von Spielräumen, etwa durch eine offene Gestaltung von Fragebögen, als Voraussetzung für eine gelingende Zusammenarbeit (ebd.).
Dieselbe Frage thematisieren auch Lisa de Vries, Mirjam Fischer und David Kasprowski in Heft 4/2024 der Zeitschrift für Soziologie unter dem Titel „‚männlich‘, ‚weiblich‘, ‚divers‘ – Eine kritische Auseinandersetzung mit der Erhebung von Geschlecht in der quantitativ-empirischen Sozialforschung“. Sie wollen mit ihrem Beitrag fundierte Überlegungen zur Erhebung von Geschlecht in die Debatte einbringen und Empfehlungen formulieren.
Generell konstatieren die Autor:innen:
„Eine inadäquate Erhebung von Geschlecht führt nicht nur zu Messfehlern und einer mangelnden Abbildung der sozialen Wirklichkeit, sondern trägt zur Unsichtbarkeit von geschlechtlicher Vielfalt und einer diskriminierenden Umfragepraxis bei.“ (S. 382)
Wie dem Beitragstitel zu entnehmen ist, geht es um die Verwendung der Geschlechterkategorien „männlich“, „weiblich“ und „divers“. De Vries, Fischer und Kasprowski erachten die übliche, im Nachgang der Einführung des Personenstandsgesetzes 2018 etablierte Erhebungspraxis, wie sie etwa in den Demographischen Standards empfohlen und im Mikrozensus, ALLBUS sowie im GESIS-Panel verwendet wird, als „konzeptionell unscharf“ (S. 365). Sie kritisieren, dass sich die Vorgehensweise „zu Lasten einer empirisch präzisen Messpraktik durchzusetzen“ (ebd.) scheint, obwohl Studien belegten, dass sich ein großer Anteil der TIN*-Personen[9] nicht in der Kategorie „divers“ repräsentiert sieht, da es sich um „eine empirisch kaum verwendete Selbstbeschreibung von TIN*-Personen“ handele (S. 381). Darüber hinaus scheine allgemein ein großes Unwissen darüber zu bestehen, wer eigentlich zu dieser Gruppe zählen soll (S. 371).
Neben der Verwendung der Zusatzkategorie „divers“ stellen die Autor:innen drei weitere Möglichkeiten zur Erhebung des Geschlechts vor: die 1-Schritt-Methode, die 2-Schritt-Methode und die offene Abfrage. Die 1-Schritt-Methode sei international mittlerweile relativ gängig. Hier frage man nach der Geschlechtsidentität (Welchem Geschlecht ordnen Sie sich selbst zu?) und stelle unterschiedliche Kategorien zur Verfügung, um geschlechtlicher Vielfalt und Diversität Rechnung zu tragen; deren Ausgestaltung sei jedoch nicht ganz einfach (siehe S. 371 f.). Zudem lasse diese Erhebungsvariante keine Rückschlüsse auf die Transitionsgeschichte einer Person zu.
Letzteres ermögliche jedoch die Weiterentwicklung dieses Verfahrens in Form der 2-Schritt-Methode. Bei dieser ebenfalls international entwickelten und erstmals 2019 im Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) angewandten Variante werde sowohl der bei Geburt zugewiesene Personenstand (Welches Geschlecht wurde bei Geburt in Ihre Geburtsurkunde eingetragen? Männlich, weiblich, keine Angabe) als auch die Geschlechtsidentität (etwa durch die Frage „Welchem Geschlecht ordnen Sie sich selbst zu?“ mit den Antwortmöglichkeiten 1) männlich, 2) weiblich, 3) weiteres Geschlecht, und zwar:“, 4) keinem Geschlecht sowie 5) keine Angabe) erfragt. Gegenüber der 1-Schritt-Methode weise die Erhebung in zwei Schritten deutliche Vorteile auf. So könne sie Geschlechtervielfalt besser abbilden, ermögliche die Identifikation von Menschen mit abgeschlossener Transition und weise geringe Abbruch- und Antwortverweigerungsquoten sowie Verständnisprobleme auf Seiten der Befragten auf (S. 372).
Eine weitere Alternative biete schließlich die offene Fragestellung. Hier könne man entweder schlicht „Geschlecht:“ in Kombination mit einem freien Textfeld einfügen oder erklären, welche Geschlechtsdimension von Interesse ist (ebd.). Die für diese Variante durchgeführten Forschungen fielen jedoch in puncto Verständlichkeit und Kodieraufwand widersprüchlich aus, weshalb de Vries, Fischer und Kasprowski weitere Forschungen als notwendig und sinnvoll erachten (ebd.).
Generell betont das Autor:innentrio die Bedeutung des Forschungsinteresses, aus dem die relevante(n) zu erhebenden Dimension(en) des Geschlechts – beispielsweise körperliche Dimensionen, Personenstand (bei Geburt oder aktuell eingetragen), Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck (gelebtes Geschlecht im Alltag) oder Fremdwahrnehmung (wahrgenommenes Geschlecht im Alltag) – abzuleiten sei(en) (S. 378 ff.). Als Minimalanforderung legen die drei Forscher:innen die Erhebung des Personenstands und der Geschlechtsidentität (mit mindestens den oben genannten fünf Antwortmöglichkeiten, besser noch ergänzt durch eine sechste Antwortmöglichkeit „non-binär“) nahe (S. 381).
Natürlich bringt die Überholung des binären Einzelitems so einige Schwierigkeiten mit sich und birgt Fallstricke. Zu den am häufigsten zu erwartenden Problemen dürften etwa geringe Fallzahlen gehören, beispielsweise wenn viele Antwortmöglichkeiten vorgegeben werden, diese aber nur von wenigen Befragten ausgewählt werden. Auch um die Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Studien dürfte es eher schlecht bestellt sein, wenn sich kein gängiges Verfahren etabliert und Forschende unterschiedlich vorgehen. Und schließlich wird wohl auch der mit mehr Antwortkategorien verbundene Kodieraufwand größer ausfallen, als dies mit einer binären Kodierung der Fall ist. Dessen ungeachtet kann die Lösung nicht darin bestehen, alles beim Alten zu belassen und sich zukünftig nicht eingehender mit der Thematik zu befassen. Denn wenn quantitative empirische Sozialforschung das Ziel hat, die empirische Wirklichkeit zu untersuchen und abzubilden, kann sie sich einer adäquaten Abfrage geschlechtlicher Varianz nicht verwehren.
Fußnoten
- Auch der an der Princeton University lehrende Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller stellt in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27.1.2025 fest: „Die Broligarchen lassen ihre Muskeln spielen“ (S. 9).
- Astrid Dörner, Trump ernennt ehemaligen Paypal-Manager zum „KI- und Krypto-Zar“, in: Handelsblatt, 6.12.2024.
- https://truthsocial.com/@realDonaldTrump/posts/113603133222686186
- O.A., US-Präsident gibt Startschuss für gigantisches KI-Projekt „Stargate“, in: Spiegel-Online, 22.1.2025.
- O.A., Musk missfällt Trumps Stargate-Projekt, in: NTV, 23.1.2025
- O.A., „KI-Wunder“ aus China löst Beben bei Tech-Aktien aus, in: Handelszeitung, 27.1.2025.
- Tobias Möllers, KI-Schock schickt Aktienmärkte auf Talfahrt, in: Börsen-Zeitung, 27.1.2025.
- Zum ausführlichen Projektbericht geht es hier.
- Die Abkürzung TIN* fasst sich als Trans*, Inter* oder non-binär verstehende Personen zusammen.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Digitalisierung Diversity Gender Gesellschaft Internationale Politik Methoden / Forschung Technik
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