Hannah Schmidt-Ott | Zeitschriftenschau |

Aufgelesen

Die Zeitschriftenschau im September 2024

In einer am 24. September 2024 veröffentlichen Videobotschaft[1] stellte Bundeskanzler Olaf Scholz klar, dass er die deutsche Gesellschaft – entgegen anderer Verlautbarungen – nicht für gespalten hält.[2] „So weit liegen wir in zentralen Fragen doch gar nicht auseinander“, konstatierte er, und berief sich auf weitestgehende Einhelligkeit, was Migrationspolitik, die Unterstützung der Ukraine, Umwelt- und Klimaschutz angeht. Die herrsche jedenfalls in der Mitte der Gesellschaft vor, bei den „vielen ganz normalen Leute[n] mit normalen Wünschen, die nicht laut meckern, sondern einfach machen.“ Da radikale Meinungen größere Aufmerksamkeit erhielten, könnten sich in erster Linie extreme Positionen Gehör verschaffen. Vor diesem Hintergrund sei es umso wichtiger, zu diskutieren, miteinander im Gespräch zu bleiben. Denn: „Nicht die Lauten zählen, sondern die Vielen“, schloss Scholz seinen Appell.

Rainer hält sich für einen dieser ganz normalen Bürger, die das Gros der Gesellschaft ausmachen. Rainer ist pensionierter Polizist, finanziell abgesichert und sozial eingebunden, glaubt aber dennoch, gesellschaftlich abgehängt zu sein – zumindest perspektivisch. Denn das, was er als Normalität verstanden und an das er sich angepasst hat, scheint im Verschwinden begriffen. Insbesondere stören ihn die Klimaschutz- und die LGBTQIA+-Bewegung. Er sieht in ihnen Minderheiten, die ihre Meinungen lautstark artikulieren, fühlt sich von ihnen unter Konformitätszwang gesetzt. Mit seiner Kritik daran verortet er sich mittlerweile auf dem Weg ins Abseits.

Das Gefühl, dass sich die als hegemonial empfundene Normalität im Niedergang befindet, zeichnet einen von drei Typen des Zurückgelassenwerdens aus, die Stefan Holubek-Schaum, Natalie Grimm und Patrick Sachweh in ihrem Beitrag „Die Zurückgelassenen. Subjektive Deutungsmuster von Statustrajektorien der Abwertung“ entwickeln. Der Aufsatz ist im Berliner Journal für Soziologie erschienen. Am Beginn steht die Beobachtung, „dass insbesondere jene Bevölkerungskreise, die einen Verlust ihres sozialen Status erfahren haben, zu nationalistischen Orientierungen neigten, rechtspopulistische Parteien wählten oder sich von der Demokratie enttäuscht zeigten.“ (S. 198)

Um diesen Zusammenhang weiter zu erhellen, wollen die Autor:innen eruieren, „welche Bedeutung biographische Erfahrungsaufschichtungen und langfristige soziale Flugbahnen – sogenannte Statustrajektorien – für die aktuelle eigene Statusverortung und das Statuserleben haben.“ (S. 197) Auch wenn die quantitative Sozialforschung in jüngerer Zeit begonnen hätte, neben objektivierbaren ökonomischen und kulturellen Kriterien auch das subjektive Statuserleben in den Blick zu nehmen, sei zweifelhaft, ob sich dessen Vielgestaltigkeit mittels standardisierter Skalen abbilden lasse. Vor diesem Hintergrund haben die Autor:innen 90 biografisch-narrative Interviews mit Personen aus unterschiedlichen beruflich-sozialen Statusgruppen hinsichtlich der Frage ausgewertet, „welche unterschiedlichen Formen des Statuserlebens mit Hilfe der in der Forschung inzwischen etablierten Metapher, sich ,left behind‘ bzw. ,abgehängt‘ zu fühlen, eingefangen werden können“. Mit Statustrajektorien beschreiben sie „längerfristige kollektive Auf- und Abstiegsprozesse von ganzen sozialen Gruppen sowohl mit Blick auf deren materielle Lebenschancen als auch hinsichtlich der ihnen und ihren Lebensformen entgegenbrachten Anerkennung.“ (S. 201) Dabei ist der Zeitverlauf entscheidend: Das Gefühl des Zurückgelassenseins fußt auf einem Vergleich mit der Vergangenheit, in der man sich zugehörig gefühlt hat.

Den theoretischen Rahmen der Untersuchung bildet eine Konzeption von kultureller Hegemonie als „dominante Geltung bestimmter kognitiver, evaluativer oder normativer kultureller Orientierungen“ fasst. Mit ihrer Hilfe entwickeln Holubek-Schaum, Grimm und Sachweh aus dem Interviewmaterial drei Typen, die „die ihr Zurückgelassenwerden und ihr Verhältnis zur hegemonialen Kultur jeweils unterschiedlich erleben, deuten und verarbeiten“. (S. 208 f.) Rainer entspricht dem Typ des Post-Hegemonialen. Er hat den Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft erst kürzlich verloren und die Hoffnung auf Reintegration noch nicht aufgegeben. Darüber hinaus gibt es noch die Anti-Hegemonialen, die ihr Gefühl, „left behind“ zu sein, als Ausdruck eines offenen Konflikts mit der Gruppe deuten, von der sie die Abwertung erfahren, und die Nicht-Hegemonialen, die sich in ihrer Abgehängten-Position eingerichtet haben und sie teilweise zu einem positiven Selbstbild umdeuten. Gemeinsam haben alle Typen, dass sie ihre Biografie als „Trajektorie der gesellschaftlichen Abwertung“ 208) deuten, sich also als Teil eines von einem Kollektiv verstehen, dass von einem anderen, einem Milieu oder einem politischen Lager, abgewertet wird. Auf diese empfundene Abwertung reagieren sie ihrerseits mit Herabsetzung der entsprechenden Gruppe.

Aus ihren Befunden schlussfolgern die Autor:innen zweierlei: Hinter gesellschaftspolitischen Orientierungen im Allgemeinen und populistischen Orientierungen im Besonderen stehen „längere und komplexe biographische Erfahrungsaufschichtungen sowie Deutungen der eigenen Statusposition und ihrer zeitlichen Entwicklung“ (S. 222), wobei der eigene Status stets in Bezug zur gesellschaftlichen Statusordnung verortet wird. Das „desintegrative Potenzial“ der Abwertungstrajektorien sei vor allem mit Blick auf gesellschaftspolitische Statuskämpfe zu eruieren. Ganz im Sinne Olaf Scholz vermuten Holubek-Schaum, Grimm und Sachweh, dass „sich verschiedene, sich überkreuzende Konfliktlinien ausmachen [lassen], die sich auf unterschiedliche, ökonomische, kulturelle und soziale Statusdimensionen beziehen (können) und dementsprechend keiner eindeutigen Spaltung an einer Frontlinie folgen.“ (S. 223)

Einige der Veränderungen, von denen sich Rainer bedroht sieht, betreffen die Diffusion von stereotypen Geschlechterrollen und heteronormativen Beziehungsmodellen. Inwiefern der Umstand, dass insbesondere junge australische Männer zunehmend intime Freundschaften führen, in denen körperliche Zuneigung, das Teilen von Emotionen und das Besprechen sensibler Themen eine Rolle spielen, mit solchen diskursiven Veränderungen zusammenhängt, untersucht Brittany Ralph in einem im Journal of Sociology erschienene Beitrag mit dem Titel „The destabilising effect of feminist, queer-inclusion and therapeutic counter-discourse: A feminist poststructuralist account of change in men’s friendships.“

Bisherige Theorien, die den empirisch vielfach nachgewiesenen Wandel von Männerfreundschaften zu deuten versuchen, bieten Ralph zufolge keine zufriedenstellenden Konzeptualisierungen: Die „inclusive masculinity theory“ von Eric Anderson konstatiert, dass mit einer Abnahme von Homophobie in der Bevölkerung auch die konservativen Männlichkeitsbilder an Wirkmacht verlieren, was es Männern leichter macht, sich auch jenseits der stereotypen Normen zu bewegen. Kritiker dieser These argumentieren hingegen, dass die Hierarchien zwischen den Geschlechtern von solchen Entwicklungen unangetastet bleiben und männliche Dominanz lediglich in einem anderen, weniger machohaften Gewand auftrete. Mittels Diskursanalyse, die sie in einem „feminist poststructuralist“-Ansatz verortet, hat die Autorin 28 Interviews aus einer intergenerationalen Studie zu Männlichkeit und Männerfreundschaften ausgewertet. Am Material sie den zunehmenden Einfluss feministischer, queer-inklusiver und therapeutischer Diskurse auf den „masculinity discourse“ heraus. Diese vermögen keinen fundamentalen Wandel in Bezug auf Männlichkeit anzustoßen, destabilisieren aber nichtsdestotrotz traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit und eröffnen Männern neue Möglichkeiten, Intimität und Emotionalität in ihren Freundschaften zu leben.

Während der feministische Diskurs die Anforderungen an Männer reduziert, dominant, verschlossen und aggressiv zu sein, in dem er Diskurse über männliche Dominanz, Solidarität zwischen Männern und Geschlechterunterschiede generell problematisiert, fordert der queerinklusive Diskurs den heterosexistischen und „homohysteric“ Diskurs heraus, der freundschaftlich-liebevoller körperlicher Nähe zwischen Männern lange im Wege stand. Der therapeutische Diskurs arbeitet der Vergeschlechtlichung von Emotionalität und Offenheit entgegen, was die Wirkmacht von diskursiven Verhaltensregeln für Männer abschwächt: „By challenging these discursive components of masculinism, feminist, queer-inclusion and therapeutic discourse offer men a viable alternative subject position that allows for care, expressiveness and intimacy within their homosocial relationships.” (S. 360)

Fernab von Überlegungen, wie das Leben auf der Erde für möglichst viele ihrer Bewohner:innen verbessert werden kann, entwickeln visionäre Superreiche wie Elon Musk Strategien, um sie in Richtung Weltall – in Musks Fall: dem Mars – zu verlassen. „Es wäre das radikalste Exil, das man sich vorstellen kann.“ (S. 10), schreibt Sibylle Anderl in ihrem schönen Text „Hiergeblieben. Ein kurzes Plädoyer gegen ein futuristisches Exil im Weltall“, der in der aktuellen Ausgabe des Kursbuch zu lesen ist. Sie eruiert die physischen beziehungsweise physikalischen und normativen Schwierigkeiten, die damit verbunden wären, auf dem Mars zu leben. Dabei wird deutlich: um einen heimeligen Ort handelt es sich nicht. Zu den psychologischen Auswirkungen eines Lebens im Exil – Gefühle von Fremdheit und Sehnsucht sind zu erwarten –, kommen extreme Kälte (im Mittel minus 63 Grad Celsius), Mangel an Sauerstoff, ein geringerer Atmosphärendruck und geringere Gravitation als auf der Erde sowie verstärkte kosmische Strahlung. Nur mittels avancierter Technologie könnte man unter diesen unwirtlichen Bedingungen überleben – ein Unterfangen, das so herausfordernd wäre, dass es das Leben auf dem Mars quasi vollständig bestimmen würde. Am gefährlichsten sei dabei die kosmische Strahlung. Sie ist so stark und wirkt dermaßen zerstörerisch auf den menschlichen Körper, dass die Abschirmung von Wohnstätten massiv sein müsste und der Bewegungsradius („Spaziergänge im Raumanzug“) stark eingeschränkt wäre. Doch gibt es vielleicht Möglichkeiten, den Menschen dieser Umgebung und/oder die Umgebung dem Menschen anzupassen? Durch Eingriffe in das Erbgut von Embryonen könnten – den entsprechenden Stand der Technologie vorausgesetzt – Menschen beispielsweise eine größere Toleranz gegenüber radioaktiver Strahlung erlangen. Aber neben der Frage, ob man derlei Eingriffe für moralisch vertretbar hält, erwachsen daraus weitere normative Probleme, mit denen eine Mars-Gesellschaft konfrontiert wäre. Gäbe es eine gesellschaftliche Spaltung zwischen genmodifizierten und nicht-genmodifizierten Menschen, die letztere benachteiligen würde? Dürften diese sich frei bewegen? Dürften sie Kinder bekommen?

Vor diesem Hintergrund scheint der Versuch naheliegend, den Mars selbst lebensfreundlicher zu gestalten, etwa hinsichtlich seiner Temperatur: „Wenn wir es schon auf der Erde geschafft haben, einen Klimawandel in Gang zu setzen, der die globalen Durchschnittstemperaturen nach oben treibt, warum sollte uns nicht Ähnliches auf dem Mars gelingen?“ (S. 21) Musk plädiert dafür, mittels thermonuklearer Bomben einen ersten Temperaturanstieg zu provozieren, der dann mehrere Ereignisketten in Gang setzen soll, die zu einer weiteren Erwärmung führen. In einem dieser Szenarien erzeugt der durch die schmelzenden Eiskappen erhöhte Wassergehalt in der Marsluft einen Treibhauseffekt. Die Wissenschaft meldet allerdings Zweifel ob der Umsetzbarkeit dieser Strategie an. „Es bleibt also aller Voraussicht nach dabei: Der Mars wird der Erde höchst unähnlich bleiben, und alle potenziellen menschlichen Bewohner würden jederzeit erinnert werden, dass der Milliarden Jahre dauernde Prozess der biologischen Entwicklung, die schließlich den Menschen hervorbrachte, ihn als Erdbewohner schuf.“ (S. 22)

  1. Abrufbar etwa unter https://www.welt.de/politik/deutschland/video253672540/Videobotschaft-von-Olaf-Scholz-Uns-eint-viel-mehr-als-uns-trennt.html (26.09.2024)
  2. In der Soziologie ist diese These alles andere als neu, wie unter anderem „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser (Berlin 2023) sowie „Die gespaltene Gesellschaft“ von Jürgen Kaube und André Kieserling (Hamburg 2022) eindrücklich zeigen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jens Bisky.

Kategorien: Demokratie Gender Gesellschaft Gesellschaftstheorie Politik Zeit / Zukunft

Hannah Schmidt-Ott

Hannah Schmidt-Ott ist Soziologin. Sie arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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