Hartmut von Sass | Rezension |

Unfrohe Botschaft

Rezension zu „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ von Andreas Reckwitz

Andreas Reckwitz:
Verlust. Ein Grundproblem der Moderne
Deutschland
Berlin 2024: Suhrkamp
463 S., 32 EUR
ISBN 978-3-518-58822-2

Betrachtet man es literaturgeschichtlich, bilden Verlustmeldungen eine so langlebige wie prominente Gattung: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“ Das sogenannte Matthäus-Prinzip (Mt 25,29) hat es gar in ökonomische Kreise geschafft und ist in immer neuen Ableitungen im Umlauf. Noch die Formel von der Schere zwischen Arm und Reich ist ein Derivat jenes Evangeliums, das längst keine frohe Botschaft mehr ist. Und so häufen sich die Meldungen ‚negativer Gewinne‘, die entweder direkt als „Allgegenwart des Verlusts“[1] durchgegeben werden oder sich als ‚Abstieg‘, ‚Niedergang‘ oder ‚Devolution‘ noch in dessen semantischem Umfeld bewegen. Mit der These, die Moderne habe ein „tiefsitzendes Problem mit Verlusterfahrungen“,[2] knüpft der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz an diese Traditionslinie an – von Peter Marris bis Wolfgang Streeck, von Hermann Lübbe bis Oliver Nachtwey.

Dabei stimmt er der etablierten These zu, ab den 1970er-Jahren erlahme der wirtschaftliche Motor – keywords: Ölkrise, Überbevölkerung, Grenzen des Wachstums –, sodass das ehemals eingelöste Fortschrittsversprechen seine ideelle Funktion als umfassender Orientierungsrahmen zu verlieren droht (S. 269).[3] Daraus ergibt sich, streng genommen, ein definitorisches Dilemma: Wenn Moderne seit der Aufklärung notwendig an Fortschritt gekoppelt ist, sich die spätmodernen Bürger:innen hingegen auf Regressionen einzustellen haben, kann die Spätmoderne nicht der Moderne angehören, weil es ja gerade der immer verlustreichere Gegen-Fortschritt ist, der von nun an ihr Leitmotiv darstellt. Reckwitz aber hält am begrifflichen Widerspruch fest, denn für seine Großerzählung ist es entscheidend, dass nach den Wirtschaftswunderjahren in Deutschland oder den Trente Glorieuses in Frankreich tatsächlich ein neues Paradigma Einzug erhalten hat.

Die überkommenen Befunde vertieft Reckwitz allerdings ganz erheblich. Dadurch wird greifbar, dass hinter jener begrifflichen Kollision in Wahrheit die Ambivalenz der dadurch bezeichneten Phänomene steckt. Denn die Spätmoderne durchzieht eine „Verlustparadoxie“ (u.a. S. 12, 119, 289), die sich auf vier Ebenen verteilen lässt: (i) Einerseits existiert der alte Fortschrittsglaube zunehmend zombiehaft fort, ohne von einem neuen Versprechen beerbt worden zu sein, andererseits spiegeln Verlustnachrichten aller Art immer deutlicher die „Wirklichkeiten, in der wir leben“; (ii) zwar werden immer noch Erwartungen permanenter Besserung genährt – man erinnere sich: bis vor Kurzem hatte Deutschland eine „Fortschrittskoalition“ –, aber die Anfälligkeit für Ent-Täuschungen steigt simultan; (iii) auf der einen Seite dementiert man Nicht-Fortschritte als kurzweilige Ausnahme, auf der anderen nimmt die „Achtsamkeit“ für und „Vulnerabilität“ durch das heterogene Verlustspektrum zu (S. 189); und (iv) je unruhiger die post-industrialisierte Digital-Welt immer Neues produziert, desto häufiger bringt sie Obsoleszenzen hervor. Jene Paradoxie zwischen Prominenz und Invisibilisierung von Verlusten hat also – hier gehe ich etwas über die von Reckwitz vorgelegte „Kartographie“ (S. 35)[4] hinaus – eine faktuale (i), affektive (ii), sensitive (iii) und strukturelle, genauer: ‚dialektische‘ Dimension (iv).

In Stil und Gestus nüchtern wird auf Prognosen für eine Post-Post-Moderne verzichtet – und so auch darauf, Soziologie (wie es sonst so oft geschieht) in Publizistik, Ratgeberliteratur oder Wissenschaftsjournalismus zu transformieren. Dennoch nimmt die Studie geschichtsphilosophische und kulturkritische Züge an, obwohl der Autor mit seiner wertungsaversen Diagnose eine Figur des Dritten jenseits von Geschichtsphilosophie und Kulturkritik hat bieten wollen (S. 16–18). Hier werden zwar keine Notwendigkeiten in der alten Tradition eines Hegelianismus präsentiert, wohl aber eine immanente Dynamik, nach der sich jeder Fortschritt einmal entschleunigt und mit den systeminternen Konsequenzen dieser Reduktion konfrontiert.[5] Und (kultur-)kritisch geht es bei Reckwitz zu, insofern die Anerkennung und Verarbeitung von Verlusten das „Ende der Illusion“[6] mit sich bringt. Einstige Kollektivtäuschungen können endlich einer kritischen Revision unterzogen werden.

Als methodischer Rahmen fungiert, wie auch in vorangegangenen Büchern, eine Variante soziologischer Praxistheorie. Sie geht davon aus, dass Praktiken das kleinste sinnvolle Modul der Beschreibung (methodisch) sowie die kleinste mögliche Einheit des Sinns (hermeneutisch) bilden (Kap. 1).[7] Die Leser:innen werden umsichtig in immer neue Praxis-Arenen der Verlusterfahrung und ihrer wohlfahrtsstaatlichen, gesellschaftlichen, aber auch psychotherapeutischen Bearbeitung (ein-)geführt. Nach dem Scheitern der Anläufe, Verluste durch Technik, Medizin, Versicherungen, Ideologien oder Risikomanagement ‚aufzuheben‘, wird ein erfolgreiches „doing loss“ (Kap. 9; auch S. 60–69) zum Sinnbild, aber auch zur Kondition der Spätmoderne. Von der einstigen Provokation einer methodisch gerade nicht inklusiven Praxeologie, die sich als (pro-)grammatische Alternative zu einer subjektivistischen Handlungstheorie und ihrem strukturalistischen Gegenpol versteht, findet sich hier jedoch nichts mehr (vgl. S. 40). An die Stelle der ‚häretischen‘ Auskunft, selbst noch ‚Subjekte‘ verdankten sich einer poietischen Performanz, tritt ein ökumenisches Vokabular, das auch für Diskurse, Narrative, Netzwerke, gar für Individuen und Systeme Platz findet.

Kein Verlust ohne das Bewusstsein von ihm, und zwar als negative Wertung im Kontrast zum bloßen Verschwinden und (in seinen stärkeren Formen) im Wissen um die Unwiederbringlichkeit des Verlorenen, so lautet Reckwitz‘ Proto-Definition (S. 19, 52, 91). Im Vergleich zum Vorgängerkonzept der Singularität fehlt diesem Verlustbegriff jedoch die technische Trennschärfe. Die könnte er gleichsam indirekt adoptieren, macht doch Reckwitz selbst auf den Zusammenhang von sich singularisierenden Subjekten und der Verlust-affinen Spätmoderne aufmerksam (S. 28). Nun zielen beide Konzeptionen lediglich auf bestimmte Gesellschaftssegmente, im einen Fall auf die gehobene Mittelschicht, im anderen auf jene Teile der Gesellschaft, die sich dem „muddling through“ verschreiben müssen.[8] Das steht im unausgewiesenen Kontrast zur eigentlichen Ambition beider Bücher, eben nicht nur ein gesellschaftliches Areal in den Blick zu nehmen, sondern die Totale westlicher Gesellschaften (so S. 25).

Das Buch ähnelt – zu seinem großen Vorteil, aber auch in Gefahr des nur noch Kursorischen – einer informationsgesättigten Meta-Studie. So wie diese sich nicht unmittelbar auf die Empirie, sondern auf Einzeluntersuchungen bezieht, so scheint auch Reckwitz gesellschaftliche Realitäten kaum direkt zu adressieren,[9] sondern vermittelt durch bereits bestens etablierte Spezialdiskurse: vom Populismus bis zur Resilienz selbst noch angesichts des Todes, vom Demokratiezerfall über Trauerarbeit bis zur Polykrise, von affektgeladenen Zukunftserzählungen bis zur Klimakatastrophe samt apokalyptischem Ausblick. So ist zu fragen, worin der deskriptive Mehrwert ihrer Integration in ein überwölbendes Paradigma besteht.

Es ist nicht offensichtlich, wie etwa die weit verzweigte Populismus-Diskussion durch ihre Rahmung mittels eines „doing loss“ neue Konturen gewinnt, obgleich beim Populismus Verlusterfahrungen (verglichen mit den anderen hier gut integrierten Beispielen) am evidentesten sind. Oder: Die überaus präzisen Erosionsanalysen etwa von Veith Selk[10] und Ingolfur Blühdorn[11] kommen im Blick auf den Zerfall demokratischer Systeme weithin ohne Verlustrechnungen aus, sodass nach der theoretischen „Wertschöpfung“ zu fahnden wäre, wenn diese Bilanzen tatsächlich einmal gezogen werden. Sollte diese Fahndung erfolgreich verlaufen, fragt sich, welcher Status jenen Verlustmeldungen zukommen könnte: Sind sie nur deskriptiv gemeint? Geht es eher um das Verstehen von Phänomenen? Sollen diese ‚Erscheinungen‘ auch erklärt werden? Oder kommen den Analysen gar (kausale) Begründungslasten zu? Ersteres sicher, Zweites und Drittes vielleicht, Letzteres? Schwierig!

Der notwendig verallgemeinernde, beinahe monolithische Verlust-Zugriff unterliegt selbst der von ihm eingefangenen ‚Dialektik‘, da er im Rücken seiner Vorzüge die eigenen Defizite generiert. Zu jenen gehört, dass einige Beschreibungen zentraler Verlustpraktiken sehr konventionell geraten sind (etwa S. 273–278 zu (religiösen) Praktiken des Verzeihens und des Trostes). Die ‚Dialektik‘ lässt sich aber auch positiv auflösen: Das alles umfassende Systemversprechen durch die skizzierte Implikations-performance sorgt dann selbst bereits für den eindrücklichen Gewinn von Verlust. Oder in einem Bild: Reckwitz hat einen Kleiderschrank gebaut, in dem nun die Sachen geordnet werden; dadurch hat man keine neuen Klamotten, aber man weiß endlich, wo sie liegen. Auch ohne ein überzeugendes Szenario dafür, wie es nun weitergehen könnte – etwa in einem souveränen Umgang mit Fortschritts-Evangelien –, leistet diese „Ordnung der Dinge“ viel, sehr viel sogar. Auf diese apollinische Weise bereichert das Buch die eingangs erwähnte Gattung der Verlustanzeigen. Oder in der perfekt futurischen Zeitform, für die Reckwitz eine Schwäche hat (S. 306): Es wird lesenswert gewesen sein.

  1. So Adam Przeworski, Krisen der Demokratie, Berlin, 2020, S. 128.
  2. Andreas Reckwitz, Verlust. Ein Grundproblem der Moderne, Berlin 2024, S. 20.
  3. Vgl. auch Andreas Reckwitz, Interview: „Was heißt hier Fortschritt?“, in: Die Zeit (28.05.2024), online unter: https://www.zeit.de/2024/24/wirtschaftlicher-fortschritt-wachstum-ideal-entwicklung.
  4. Siehe auch Andreas Reckwitz, „Verlust und Moderne – eine Kartierung“, in: Merkur 76, 1(2022), S. 5–21, S. 5 und 13.
  5. Eine andere Spielart des ‚Immanentismus‘ vertritt Rahel Jaeggi, um die Fortschrittskriterien aus den dann zu beurteilenden Praktiken selbst abzuleiten; vgl. Fortschritt und Regression, Berlin 2023, S. 146, 194, 238.
  6. So Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, bes. S. 246 und 270.
  7. Dazu Andreas Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie 32, 4(2003), S. 282–301, S. 289.
  8. Dazu Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 370.
  9. Diese Bedenken wurden schon gegenüber dem Singularitätsbuch laut; so Nils C. Kumkar / Uwe Schimank, „Die Mittelschichtsgesellschaft als Projektion“, in: Merkur 76, 1(2022), S. 22–35, hier S. 33–35.
  10. Vgl. Veith Selk, Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie, Berlin 2023.
  11. Siehe Ingolfur Blühdorn, Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Berlin 2024, S. 79–87.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Demokratie Gesellschaft Gesellschaftstheorie Kultur Ökologie / Nachhaltigkeit Zeit / Zukunft

Hartmut von Sass

Hartmut von Sass lehrt Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der HU Berlin, ab kommenden April in Hamburg. Er beschäftigt sich gerade mit unserem (normativen) Bezug zur Zukunft, mit Einzelemotionen und deren Zusammenhang und mit den Aussichten, Theologie praxeologisch zu verstehen.

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