Ulrich Bröckling, Wibke Liebhart | Interview | 03.12.2020
"Autor ist der Name für ein Kollektiv, das schwer zu definieren ist"
Ulrich Bröckling im Gespräch mit Wibke Liebhart
Herr Bröckling, sind Sie Ihrem Selbstverständnis nach Autor oder primär Hochschullehrer respektive Wissenschaftler?
Das sind drei Selbstverständnisse, drei Rollen. Qua Amt bin ich Hochschullehrer, dafür werde ich bezahlt. Das schließt die Lehre ein, aber auch die Forschung. Insofern bin ich ebenso Wissenschaftler. Was meine Publikationen angeht, so unterscheide ich zwei Sorten von Texten. Solche, in denen ich mich eher als Autor begreife, und andere, die mehr dem Rollenmodell des Wissenschaftlers entsprechen. Nicht immer lassen sich beide trennscharf auseinanderhalten. Insgesamt würde ich sagen: Ob ich das mag oder nicht, erstmal bin ich Hochschullehrer. Für alles andere muss ich mir Freiräume schaffen. Und das klappt manchmal besser, manchmal schlechter.
Also beginnen wir doch mit Ihrem Selbstverständnis als Hochschullehrer! Sehen Sie es als Teil der soziologischen Ausbildung an, Schreibkenntnisse zu vermitteln?
Die Fähigkeit zu schreiben, also für das angestrebte akademische oder nichtakademische Berufsfeld formal wie inhaltlich angemessene Texte aufsetzen zu können, ist eine grundlegende Qualifikation, die wir im Soziologiestudium zu vermitteln haben. Ich halte es für unverzichtbar, neben Methodenkenntnissen, neben der Auseinandersetzung mit soziologischen Theorien auch die Praxis des Schreibens einzuüben und zu pflegen. Das bezieht sich erst einmal auf die Formate, die es im Studium eben gibt: Hausarbeiten, Essays, Protokolle, Klausuren und schließlich die Abschlussarbeiten. Schreibkompetenz ist keine Kür, nicht bloß eine Ergänzung der fachlichen Inhalte, sie ist vielmehr eine elementare Voraussetzung, um sich im wissenschaftlichen Feld zu bewegen. Es gehört deshalb zu jedem Curriculum, besonders in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Schreibgelegenheiten zu schaffen und Feedback zu Geschriebenem zu geben.
Heißt das, Sie wollen Ihre Studierenden dazu befähigen, Autor*innen zu werden?
Ich begreife es jedenfalls als wichtigen Teil meiner Lehrtätigkeit, sie systematisch dazu anzuhalten, am eigenen Schreiben zu feilen. Dazu gehört es auch, Formate vorzusehen, in denen die Studierenden mitbekommen, was ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen geschrieben haben. Die Auseinandersetzung mit den Texten der anderen, die wechselseitige Begleitung im Schreibprozess, das Experimentieren mit kollektiven Verfahren des Schreibens und Überarbeitens, all das kann helfen, Schreibprobleme zu bewältigen. Schließlich geht es auch darum, sie an das wissenschaftliche Publizieren heranzuführen. Studierende, die spannende Abschlussarbeiten geschrieben haben, ermutige ich, ihre Texte zu einem Aufsatz umzuarbeiten, und biete ihnen dafür redaktionelle Unterstützung an.
Werden Ihre Angebote denn auch angenommen, vielleicht sogar nachgefragt von den Studierenden?
Es gibt jedenfalls viele Studierende, die solche Einladungen sehr wertschätzen. Gerade die Ambitionierten, die eventuell nach dem Master noch weitermachen wollen, nehmen die Offerten gern wahr, fordern sie zum Teil auch direkt ein. Eine differenzierte Rückmeldung ist ihnen oft wichtiger als die Note.
Gehört das Schreiben auch zur zweiten Rolle des Wissenschaftlers?
Auf jeden Fall. Wissenschaftler zu sein, bedeutet auch, die Ergebnisse des eigenen Nachdenkens und Forschens zu verschriftlichen und öffentlich zu machen. Vieles von dem, was im akademischen Alltag geschrieben wird und werden muss, hat für mich allerdings wenig mit Autorschaft im emphatischen Sinne zu tun. Das gilt für Projektanträge und -berichte, aber auch für Kurzrezensionen, Forschungsüberblicke und vor allem für Gutachten, das Genre, das ich – neben dem unendlichen Strom an E-Mails – wohl am häufigsten zu bedienen habe. Zweifellos ist es eine Kunst, aussagekräftige Gutachten oder erfolgreiche Anträge zu schreiben, auch das will gelernt sein, aber es handelt sich dabei eben um Gebrauchstexte. Sie erfüllen klar definierte Funktionen, sind allerdings nicht unbedingt der Ort, an denen ich neue Ideen entwickle oder eigene Erkenntnisse darstelle. Anders verhält es sich mit Vortragsmanuskripten, Aufsätzen und Büchern. Sicher gibt es auch da Pflicht und Kür, doch in der Regel sind solche Texte anders besetzt. In ihnen steckt mehr Leidenschaft, über sie denke ich länger nach, und auf ihre sprachliche Form lege ich größeres Gewicht. Da definiere ich mich tatsächlich als Autor. Auffällig ist, dass mir diese Texte sehr viel schwerer von der Hand gehen.
Wo, oder besser: von wem haben Sie das Schreiben gelernt?
Meine ersten Artikel, das war Anfang der 1980er-Jahre, habe ich nicht in wissenschaftlichen Journalen veröffentlicht, sondern in politischen Zeitschriften wie der vom Sozialistischen Büro herausgegebenen links oder der gewaltfrei-anarchistischen graswurzelrevolution. Damals war ich intensiv engagiert in der Antinachrüstungsbewegung und später in einer linkssozialistischen Gruppe in Freiburg, die eine eigene Zeitschrift und einen kleinen Buchverlag betrieb. Dieser Kreis war eine hervorragende Schule polemischen Schreibens und zugespitzter Kritik.
Zur gleichen Zeit hatte ich den damals schon über achtzigjähren Publizisten Walter Dirks (1901–1991) kennengelernt, der mir 1984 anbot, seinen Vorlass zu ordnen. Er hatte die gesamten Archivalien aus seiner Tätigkeit als Journalist seit den 1920er-Jahren und als Herausgeber der Frankfurter Hefte nach dem Zweiten Weltkrieg dem Archiv der Sozialen Demokratie überlassen unter der Bedingung, dass sie zuvor in seinem Haus gesichtet und erschlossen werden. Aus dieser Zusammenarbeit wurde rasch eine Freundschaft. Dirks ermutigte mich nicht nur, weiter zu schreiben, sondern brachte mir auch einiges an Handwerkszeug bei. Wenn ich ihm meine Artikel zeigte, waren wir der Sache nach selten einer Meinung und haben leidenschaftlich diskutiert. Mein Schreiben war also früh von einem Mentor begleitet, der ausgesprochen erfahren war im Umgang mit der Arbeit an Texten. Dieses Mentoring war ein enormes Privileg, für das ich bis heute sehr dankbar bin.
Die wichtigste Lehrzeit des Schreibens waren aber wahrscheinlich die sieben Jahre, die ich nach Abschluss meines Soziologiestudiums als Lektor in einem Fachverlag für Soziale Arbeit gearbeitet habe. Das regelmäßige Redigieren fremder Manuskripte schärft die Sensibilität für die eigene sprachliche Ausdrucksfähigkeit, und vor allem lehrt es, Texte nicht als sakrosankte Schöpfungen, sondern als Baustellen zu begreifen. Die Pingeligkeit und Pedanterie, die zum Job eines Lektors oder einer Lektorin gehören, die kleinen Tricks und Routinen beim Umschreiben unverständlicher oder verschwurbelter Sätze lassen sich auch für die Arbeit an den eigenen Texten fruchtbar machen.
Und was waren Ihre ersten Veröffentlichungen im wissenschaftlichen Bereich?
Meine ersten wissenschaftlichen Beiträge habe ich im Leviathan und dem Mittelweg 36 publiziert, in Zeitschriften also, die noch von ihren Redakteuren geprägt waren. In beiden Fällen handelte es sich tatsächlich um Männer. Es existierte zwar auch ein Begutachtungsverfahren, das allerdings wenig formalisiert war. Letztlich gab die Stimme des Redakteurs den Ausschlag. Diese Art von Zeitschrift, die inzwischen fast ausgestorben ist, liegt mir bis heute näher als die formalisierten Peer-Review-Maschinen.
Ich muss allerdings dazu sagen, dass ich nach der Promotion zunächst nicht vorhatte, Hochschullehrer zu werden, sondern andere berufliche Pläne – Lektor oder Redakteur – verfolgte. Dadurch stand ich nicht unter Publikationsdruck und musste mein Schreiben nicht strategisch ausrichten. Ich musste mich weder um die disziplinäre Zuordnung noch um die Impact-Faktoren der Zeitschriften scheren, in denen ich veröffentlicht habe, und konnte mich auch den sprachlichen Normierungen des akademischen Schreibens ein Stück weit entziehen. Diese Freiheit hatte freilich ihren Preis: In den soziologischen Diskurs habe ich kaum hineingeschrieben, und man kann mir sicher vorwerfen, mich an den Debatten unseres Fachs wenig beteiligt zu haben. Ich selbst empfinde mich jedenfalls als ein etwas ausgewildertes Exemplar. Nicht nur mein Weg auf eine soziologische Professur – ich war fünfzig, als ich meine erste Stelle an einem soziologischen Institut antrat –, auch meine Publikationsgeschichte ist ungewöhnlich. Mit einem vergleichbaren CV hätte man heute wohl kaum noch die Chance, einen Ruf zu erhalten.
Wenn es um meinen Weg zum wissenschaftlichen Schreiben geht, fällt mir noch eine Anekdote ein, die erwähnenswert ist: Vor Beginn meiner Doktorarbeit hatte ich den Schweizer Verleger Egon Ammann gefragt, in dessen Verlag ich zu dieser Zeit eine Auswahl von Dirks’ Schriften mit herausgab, ob es mit Anfang dreißig überhaupt noch Sinn mache, zu promovieren, wenn ich vorhätte, später als Lektor zu arbeiten. Ammann hat mir damals geantwortet: „Promoviere, aber schreib keine Dissertation, sondern ein Buch!“ Gemeint war: Adressiere Leserinnen und Leser, statt Qualifikationspunkte zu sammeln. Daran habe ich mich zu halten versucht, auch bei späteren Veröffentlichungen.
Welchen Stellenwert hat die Zusammenarbeit mit Redakteur*innen, aber auch Lektor*innen für Sie als Autor?
Ich war immer froh über eine direkte Kommunikation, habe es als eine Bestätigung erlebt, wenn ein Redakteur oder einer Lektorin sich intensiv mit meinem Manuskript beschäftigt hat. Selbst wenn die Fragezeichen und kritischen Kommentare sich häuften, hat das meine Eitelkeit gestreichelt, und die Texte haben auf jeden Fall gewonnen. Exemplarisch steht da für mich Bodo von Greiff, langjähriger Redakteur der Zeitschrift Leviathan. Er hat die Manuskripte mit Bleistift Satz für Satz durchgearbeitet, mit großem Sprachgefühl, auch mit seinen eigenen Idiosynkrasien. Darauf folgten lange Telefonate, manchmal gingen viele Textversionen hin und her. Der Austausch war dabei immer von großer wechselseitiger Wertschätzung getragen. Ähnlich positive Erfahrungen habe ich mit Paul Assall gemacht, der beim Südwestrundfunk die Sendung Politisches Buch betreute, und, was Buchmanuskripte angeht, mit Raimar Zons vom Wilhelm Fink Verlag und später mit Eva Gilmer, der Wissenschaftslektorin des Suhrkamp Verlags.
Anonyme Gutachterinnen und Gutachter verfügen vielleicht über mehr Kompetenz für die fachliche Beurteilung häufig ja hochspezialisierter Manuskripte, ihre Überarbeitungsvorschläge können allerdings ein sorgfältiges Redigat nicht ersetzen. Schon deshalb halte ich es für essenziell, dass die standardisierten Prozeduren des peer review den Wissenschaftsbetrieb nicht vollständig dominieren. Es ist fatal, wenn Zeitschriftenredaktionen und Lektoratsabteilungen zu Relaisstationen für den Versand von Manuskripten zwischen Autorinnen und Gutachtern degradiert werden.
Gibt es für Sie Themen, die Bücher brauchen, weil sie nur in Büchern abgehandelt werden können?
In den letzten Jahrzehnten ist die Bedeutung von Zeitschriftenpublikationen gegenüber Buchveröffentlichungen enorm gewachsen. Für weite Teile der Sozialwissenschaften sind nur noch Beiträge in journals und working papers relevant. Monografien werden bei vielen Berufungsverfahren überhaupt nicht mehr in die Entscheidungsfindung einbezogen. Noch gibt es in der deutschsprachigen Soziologie zwei Richtungen im Hinblick auf die Publikationsstrategien: Die einen operieren book driven, die anderen journal driven. Das Gewicht verschiebt sich allerdings mehr und mehr auf die zweite Seite, ablesbar an der Zunahme kumulativer Habilitationen und inzwischen auch kumulativer Promotionen.
Auch diejenigen, die im Prinzip book driven arbeiten, setzen noch andere Textformen auf, verfassen Artikel und Rezensionen oder geben, wie ich jetzt gerade, Interviews. Für die Wertigkeit, die ich persönlich meinen Publikationen zumesse, spielen die Bücher allerdings eine außerordentlich wichtige Rolle. Grundsätzlich würde ich die Formatentscheidung immer abhängig machen von der Fragestellung, vom Thema, vom Zuschnitt: Welche Argumentationslinie braucht welche Form der Darstellung? Ein konzise durchgearbeiteter Aufsatz kann gehaltvoller sein als eine umfangreiche Monografie, aber viele historische Kontextualisierungen, dichte Beschreibungen oder systematische Theorierekonstruktionen lassen sich nur über die Langstrecke eines Buchs bewältigen.
Wie kommen Sie zu den Themen, über die Sie schreiben?
Ich bin ein stark responsiver Schreiber, das heißt, ich schreibe meist auf Einladung oder Anfrage. Manchmal handelt es sich auch um Verpflichtungen, die aus der Mitarbeit in einem Forschungsverbund erwachsen. Als verbeamteter Professor stehe ich zum Glück nicht unter dem Zwang, meine Publikationsliste verlängern zu müssen, sondern kann mir überlegen, was ich an Schreibaufträgen oder Schreibanfragen annehmen will und was nicht. Mitunter ist es auch so, dass ich eine Idee habe, die sich im Gespräch mit Freundinnen oder Kollegen konkretisiert. Oder ich ärgere mich über etwas und setze mich daraufhin an den Schreibtisch.
Und wann fangen Sie dann an zu schreiben?
Bevor ich mit dem Schreiben beginne, lese ich kreuz und quer, sammle viele Bücher auf meinem Schreibtisch oder PDFs auf meinem Computer an, bis sich die Konturen des Textes, den ich schreiben will, langsam abzeichnen. Das kann dauern. Wie viele kämpfe ich mit dem Problem, den Umstieg von der rezipierenden Lektüre- in die produktive Schreibphase zu lange vor mir herzuschieben. Auch nach 35 Jahren packt mich immer noch regelmäßig der horror vacui. Die Sorge, den Text nicht zustande zu bringen, an ihm zu scheitern, die ist am Anfang immer präsent. Zu Beginn eines Schreibprojekts bin ich notorisch schlecht gelaunt. Erst wenn ein paar Seiten formuliert sind, geht es leichter voran, aber selbst dann schaffe ich selten mehr als ein bis zwei Seiten pro Tag. Das hat sicher damit zu tun, dass ich in der Regel keine ausführlichen Dispositionen mache, sondern Satz für Satz formuliere und oft noch nicht weiß, wohin mich die Sätze führen werden.
Und wenn der Anfang einmal gemacht ist, was hält Sie bei der Stange?
Ich weiß inzwischen, dass ich dranbleiben muss, dass ich nicht aufstehen und weggehen darf. Die Krise des Anfangens versuche ich buchstäblich auszusitzen. Elementar sind zeitliche Freiräume, in denen ich mich aufs Schreiben konzentrieren kann. Mich abends nach einem Uni-Tag noch an den Schreibtisch zu setzen, das schaffe ich nicht. Selbstverständlich habe ich Rituale: Die Kanne Tee und am Nachmittag etwas Süßes dürfen nicht fehlen, die Bildschirmeinstellungen auf meinem Rechner sind immer dieselben, der Signalton des Mailprogramms ist auf stumm geschaltet, ich halte feste Pausenzeiten ein. Solche Dinge.
Einen Text zu verfassen, ist kein Geniestreich, sondern vor allem Disziplin und Übung. Man braucht und generiert dazu eine eigenartige Konzentration. Einerseits muss man sich fokussieren, muss ganz viel ausblenden, um sich auf das, was man sagen will, zu konzentrieren. Die Kunst des Weglassens ist ja mindestens so wichtig wie die des Artikulierens. Also einerseits Fokussierung, Engführung, andererseits wachsen die Gedanken erst im Schreibprozess. Das erfordert wiederum eine gewisse Offenheit. Oftmals kommen die Pointen eines Arguments oder die gelungenen Formulierungen gerade dann, wenn ich nicht konzentriert am Schreibtisch sitze. Aber sie stellen sich auch nur dann ein, wenn ich zuvor lange und konzentriert am Schreibtisch gesessen habe. Schreiben braucht Inkubationszeiten. Diese Leerlaufphasen, die ungeheuer anstrengend sein können, sind rückblickend betrachtet ein genauso wichtiger und unverzichtbarer Teil des Prozesses, wie die Zeiten, in denen es zügiger vorangeht. Was ich beschreibe, ist schon in Webers Wissenschaft als Beruf nachzulesen: „Der Einfall ersetzt nicht die Arbeit. Und die Arbeit ihrerseits kann den Einfall nicht ersetzen oder erzwingen, so wenig die Leidenschaft es tut. Beide – vor allem: beide zusammen – locken ihn. Aber er kommt, wenn es ihm, nicht, wenn es uns beliebt.“
Das ist ein gutes Stichwort: Braucht man denn unterschiedliche Schreibstile, wenn man von Beruf Wissenschaftler*in sein will?
Zunächst finde ich es wichtig, dass man dem, was man sagen will, eine Stimme gibt. Damit meine ich weder einen prätentiösen Stilwillen noch irgendwelche Authentizitätsansprüche, sondern ganz einfach das Bemühen, im eigenen Schreiben auch für andere erkennbar zu bleiben. Und selbstverständlich sollte man in der Lage sein, verschiedene Register zu ziehen, das heißt unterschiedliche Schreibformate und Genres zu bedienen. Davon haben wir bereits gesprochen, als es um Antragstexte und Gutachten ging. Leider fördern die akademische Ausbildung und der Publikationsbetrieb diese Polyfonie unterschiedlicher Register viel zu wenig. Ich beobachte eine zunehmende Verarmung wissenschaftlicher Darstellungsformen. Es droht eine Monokultur des Journal-Artikels. Dieses Format hat – selbstverständlich – seine Berechtigung, ich beklage lediglich, dass es inzwischen nahezu das einzige Format ist, das eingeübt und im Wissenschaftsbetrieb honoriert wird.
Hatten und haben Sie Vorbilder, die Ihre Stimme generell oder auch einzelne Schreibregister geprägt haben?
Bei dieser Frage kann ich nicht mit Originellem aufwarten. Es gab eine Zeit, da habe ich ganz viel Karl Kraus gelesen. Bei ihm ist sprachliche Genauigkeit, natürlich Polemik, vor allem aber auch Verdichtung zu lernen. Die Minima Moralia sind ein wichtiges Buch gewesen, formal gesagt: Adornos Aphoristik und sein Talent als Essayist. Dann natürlich Foucault, der mir auch von seinen Fragestellungen und Zugängen her nahe war. Er ist zudem einfach ein brillanter Autor, wenn auch sicherlich nicht in all seinen Schriften gleichermaßen. Überwachen und Strafen oder Die Geburt der Klinik, um zwei zu nennen, sind wunderbar komponierte Bücher, in denen er historische Quellen in einer Weise zum Sprechen zu bringt, dass Funken geschlagen werden und man Feuer fangen kann.
Und spielt die Belletristik eine Rolle für Ihr Dasein als wissenschaftlicher Autor?
Generell bin ich der festen Überzeugung, dass, wenn man viele gute Texte liest, auch das eigene Schreiben besser wird. Belletristik ist aber nicht nur ein Gegengift gegen Sprachverarmung, sondern auch ein Schlüssel zum Verständnis historischer wie gegenwärtiger Vergesellschaftungsformen. Wer gute Soziologie machen will, sollte nicht nur Max Weber, Georg Simmel und Émile Durkheim lesen, sondern auch Émile Zola, Bertolt Brecht oder Franz Kafka – und natürlich zeitgenössische, neuere literarische Autorinnen und Autoren. Romane und Erzählungen enthalten implizit oft mehr soziologische Reflexion als viele akademische Abhandlungen. Besonders anregend für mein eigenes Schreiben war und ist schließlich essayistische Literatur.
Worin besteht dieses Anregungspotenzial?
Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Fragen, denen sie nachgehen, in einer erhellenden Weise eben nicht beantworten, sondern nutzen, um zu anderen, nicht weniger erhellenden Fragen zu gelangen. Solche Lektüren irritieren im besten Fall eingefahrene Denkgewohnheiten und sorgen für intellektuelle Beweglichkeit. Zugleich eignet diesen Texten meist eine gewisse Sperrigkeit, die Autorinnen und Autoren pflegen idealerweise zum Vorteil der Leserschaft ihre Idiosynkrasien. Ich will diese Art der Lektüre nicht idealisieren, aber wenn ich solche Texte lese, passiert das, was ich vorhin schon erwähnt habe: Nicht immer, aber doch häufig werden für mich singuläre Stimmen vernehmbar. Die Person, die da schreibt, formuliert buchstäblich eigenartig. Lese ich einen anderen Text derselben Person, erkenne ich sie in dieser Eigenartigkeit wieder. Abgesehen davon, dass mich solche Leseerfahrungen zur eigenen Stimme gewissermaßen ermächtigen, erweitern sie ohne Frage auch meinen Wortschatz und schulen die sprachliche Genauigkeit. Sie führen vor, dass es auch ohne die abgegriffenen Münzen des Jargons geht.
Wo wir beim guten Schreiben sind: Gibt es für Sie einen Indikator für gelungenes Schreiben?
Ich gehöre zu den eher langsam Schreibenden, die lange an einzelnen Formulierungen schrauben. Manchmal glückt es, manchmal nicht. Oft stehe ich mir mit dem Wunsch nach einer treffenden Formulierung selbst im Weg. Die Arbeit ist dann quälend, kraftraubend und geht nur schleppend voran. Zwei Stunden an einem Satz herumzubasteln, um eine Wortwiederholung zu vermeiden, ist sicher keine produktive Arbeitsweise. Das passiert aber auch nur dann, wenn es inhaltlich klemmt. Sobald die erste Fassung eines Textes steht, wenn ich ihn einmal durchformuliert habe, verspüre ich fast immer ein starkes Gefühl der Erleichterung. Schreiben ist für mich Mühsal, Geschriebenhaben ein Glück. Insofern gibt es in der Tat ein Gespür, ob das, was da geschrieben steht, stimmig ist, ob es bleiben kann, nicht mehr grundlegend angetastet werden muss. Gelingen ist dabei relativ. Für mich ist ein Text nicht gelungen oder misslungen, eher kenne ich Graduierungen von ‚gefällt mir‘.
Also ist der Indikator tatsächlich ein Gefühl, eine zunächst affektive Zustimmung, oder?
Ja, und das bedeutet in meinem Fall, dass das Geschriebene kein Torso mehr ist. Vielleicht ist es in sich noch nicht ganz rund, doch hat es einen Anfang, ein Ende und einen Mittelteil. Der erste und der letzte Satz sind besonders wichtig, die müssen ‚sitzen‘. Wenn sich der Text an diesem Punkt befindet, habe ich ihn schon relativ weit durchgearbeitet. Er lässt sich dann nicht einfach wieder aufschnüren und womöglich neu organisieren. Also das Gefühl sagt, dieser Text ist jetzt erstmal fertig. Ob er gut geworden ist, steht auf einem anderen Blatt. Dafür hole ich mir Feedback. Dabei bin ich außerordentlich ungeduldig, die Reaktionen der ersten Leserinnen und Leser können gar nicht schnell genug kommen. Bei meinem Wunsch nach einem Echo ist mindestens so viel Unsicherheit im Spiel wie Eitelkeit: Ich möchte nicht zuletzt gelobt werden und Anerkennung bekommen. Aber auch kritische Kommentare lassen sich ja als eine Form der Zuwendung deuten. Gleichzeitig bin ich beim Schreiben fast zwanghaft bemüht, meinen Text argumentativ abzudichten, ihn unangreifbar zu machen, obwohl ich weiß, dass Redaktion wie Überarbeitung des Geschriebenen unverzichtbar sind. Meist hilft es, die erste Version nach den Rückmeldungen ein paar Tage ‚abhängen‘ zu lassen und sie mir erst nach einem kleinen Intervall wieder vorzunehmen.
Hängt dieses zwiegespaltene Bedürfnis nach Resonanz mit der Asozialität des Schreibens zusammen?
Der Akt des Schreibens ist erstmal eine einsame Tätigkeit, selbst wenn er in einen kollektiven Arbeitszusammenhang eingebunden ist. Man schreibt ins Off hinein. Ab einem gewissen Punkt wird diese Isoliertheit zum Problem. Schließlich ist Schreiben auch eine zutiefst soziale Praxis. Ich möchte ja nicht nur etwas sagen, sondern jemandem etwas sagen. Also brauche ich eine oder einen Jemand oder am besten gleich mehrere, und zwar sofort.
Haben Sie diesen Jemand bereits beim Schreiben im Kopf? Schreiben Sie für eine prospektive Leserschaft?
Es gibt unterschiedliche Publika, und es ist mir auf jeden Fall wichtig, sie im Blick zu haben. Auch wenn ich die Leute natürlich nicht kenne, stelle ich mir beim Schreiben mögliche Leserinnen und Leser vor. Manchmal auch ganz konkrete Personen, mit denen ich ohnehin im Gespräch bin oder ins Gespräch kommen will. Nicht zuletzt von ihnen hoffe ich, Resonanz auf das von mir Geschriebene zu bekommen. Ob sich diese Hoffnung dann erfüllt, ist eine zweite Frage. Es freut mich jedenfalls ungemein, wenn ich mit einer Publikation nicht nur ein Fachpublikum erreiche, sondern sie auch in einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wird.
Welche Reaktionen fürchten Sie bereits beim Schreiben? Wie paranoid sind Sie als Autor?
Wenn ich vorhin von dem zwanghaften Versuch gesprochen habe, meine Texte gegen argumentative Angriffe zu wappnen, hat diese Anstrengung definitiv etwas mit Ängsten zu tun. Da zeigt sich zunächst meine ganz persönliche Sorge, angreifbar zu sein, etwas aufs Papier gebracht zu haben, das zerpflückt werden oder womöglich sogar sachlich falsch sein könnte. Und es gibt Themen, bei denen ich unter dem Eindruck schreibe: Vorsicht, hier befindest du dich auf vermintem Gelände. Ich würde diese Nervosität nicht paranoisch nennen, aber ich bin dann besonders sorgsam. Das heißt nicht unbedingt, dass ich mich zurücknehme, sondern dass ein Argument wirklich geschärft werden, dass ich eine These genau so vertreten können muss. Der Qualität eines Textes kommt diese Präzisionsarbeit durchaus zugute.
Kann man denn mit seinen Texten jemals ganz übereinstimmen?
Erstmal würde ich selbstverständlich davon ausgehen, dass der eigene Text wiedergibt, was man sagen will und außerdem ein Ausdruck dessen ist, wie man sich als Autor präsentieren möchte. Doch führen Texte, wie wir alle wissen, natürlich ein Eigenleben. Sie sind widerborstig, drängen beim Schreiben oft anderswohin, als ich es will. Die Renitenz des Geschriebenen führt dann zu Brüchen und Widersprüchen. Meistens kommen mir diese erst zu Bewusstsein, wenn ich einen älteren Text nach längerer Zeit wieder zur Hand nehme. Dabei habe ich, wie viele Kolleginnen und Kollegen, eine große Abneigung dagegen, eigene Texte wieder zu lesen. Sind meine Sachen fertig, spüre ich einen starken Impuls, sie auf Distanz zu halten. Das Gegenstück dazu ist das, was für mich der Inbegriff des narzisstischen Augenblickes ist, nämlich der Moment, in dem ich das gerade eingetroffene Belegexemplar zu den anderen Belegexemplaren ins Regal stelle. Die Ernte ist eingefahren, wunderbar, schau ich mir gerne auf dem Regalbrett an, aber bitte auf keinen Fall lesen. Das ist zum einen Enttäuschungsprävention: die Furcht, der Text könnte meinem Urteil nicht standhalten, ich könnte mögliche Schwächen oder gar Fehler entdecken. Zum anderen bin ich aber auch froh, das Geschriebene vergessen zu können, das Thema ad acta zu legen und den Kopf wieder frei für andere Dinge zu bekommen. Es ist zwar schön, wenn eine Veröffentlichung Interviewanfragen oder Vortragseinladungen nach sich zieht, aber immer wieder dasselbe zu erzählen, kann auch nerven. Man wird zum Gefangenen der eigenen Texte.
Und liefert das Regal mit den Belegexemplaren die Lizenz, die Sie zum (Weiter-)Schreiben autorisiert?
Gut, unbestreitbar kommt jedes Schreiben notwendigerweise durch einen souveränen Akt der Selbstermächtigung in Gang. Man sagt sich: Ich mache das einfach mal, so mühsam es sein mag, und schaue, wohin es mich führt. Insofern steckt in der selbst erteilten Lizenz zum Schreiben zweifelsohne eine Größenphantasie. Die Autosuggestion, dass das, was ich da aufschreibe, irgendwie von Bedeutung sein könnte. Und zwar nicht nur für mich. Allerdings muss sich das Geschriebene auch bewähren, das heißt entweder wird es gedruckt, gelesen, diskutiert und zitiert, provoziert Kritik oder Zustimmung – oder eben nicht. Hätte sich niemand für meine Texte interessiert, hätte niemand sie veröffentlichen wollen, hätte ich das Schreiben vermutlich bald wieder aufgegeben. So gesehen ist ‚Autor‘ vielleicht doch eher der Deckname für ein Kollektiv, das schwer zu definieren ist.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Universität
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