Cornelia Klinger, Wibke Liebhart | Interview |

"Das gute Schreiben erzieht das gute Denken"

Cornelia Klinger im Gespräch mit Wibke Liebhart

Was am Schreiben fällt Ihnen schwer?

Ich schreibe extrem langsam. Für mich ist Schreiben wie Bergsteigen: Ich hänge in einer Wand, an der es nach unten nicht zurück, sondern nur nach oben geht – mit Seil, Haken und Eisen, die in die Wand geschlagen werden müssen. Es ist eine wirklich harte Arbeit. Das Schreiben fällt mir also nicht leicht. Mir wird oft gesagt, man merke dem Ergebnis diese Anstrengungen nicht an. Ich würde sagen, je leichter es für die Lesenden ist, desto schwerer war die Arbeit vorher. Das Leichte und Flotte ist den Leserinnen vorbehalten, nicht der Autorin. Aber ich schreibe gern, wie andere Menschen eben gerne am Berg hängen. Ich beginne ganz früh, meistens wenn es gerade hell wird. Da setze ich mich an den Schreibtisch und bleibe dort, wie Thomas Mann, etwa vier bis sechs Stunden sitzen. Danach kann ich nicht mehr – jede Bergtour hat eben ihr Tagespensum. Und mein Pensum bemisst sich nicht in der Anzahl von Wörtern oder Seiten, sondern eben in Stunden. Später am Tag drucke ich mir das Geschriebene aus, um es nochmal durchzulesen. Am nächsten Morgen wird der Text korrigiert..

Gibt es Bedingungen, die für diesen Kreislauf aus Schreiben – Durchlesen – Korrigieren förderlich oder hinderlich sind?

Das wichtigste ist: Ich will nicht unterbrochen werden. Früher, als es für mich noch keine Lehrverpflichtungen gab, habe ich hauptsächlich nachts gearbeitet, bis in die frühen Morgenstunden. Die völlige Nachtruhe um mich herum mochte ich sehr. Heute bin ich im Ruhestand und gebe deswegen auch keine regelmäßigen Seminare mehr, aber mittlerweile sind, wie gesagt, die ersten vier oder sechs Stunden des Tages die entscheidenden. Also vermeide ich vormittags nach Möglichkeit auch irgendwelche Termine. Und anders als die Zeit ist mir der Ort ganz egal. Schreiben kann ich überall, im Sitzen, im Stehen, im Liegen; ich brauche nur meinen PC beziehungsweise das Notebook. Am liebsten mag ich die Stille am heimischen Schreibtisch, doch schreibe ich auch gerne auf Reisen, vor allem Flugzeuge beflügeln mich buchstäblich. Wenn ich unterwegs bin, wenn ich bewegt werde, durch einen Zug oder ein Flugzeug, finde ich das ganz inspirierend – im Auto geht es natürlich nicht.

Apropos Inspiration, wann und wo kommen Ihnen Gedanken oder Ideen zu Texten?

Als ich mich vor fünf Jahren in den Ruhestand begeben konnte, durfte, sollte, musste, habe ich mir einen Tag Zeit genommen, um zu überlegen, welche Projekte ich gerne noch abschließen möchte. Nur für mich habe ich eine kleine Liste erstellt. Und wenn ich die wie geplant abarbeite, hätte ich mit ungefähr 85 Jahren alle mir wichtigen Themen behandelt. Allerdings nur, wenn ich für jedes Projekt nicht mehr als zwei Jahre bräuchte – was realistisch, jedoch nicht besonders üppig ist. Diese Perspektive fand ich hilfreich, sie hat mir bewusst gemacht, dass die Zeit, die mir bleibt, immer kürzer wird. Die verbleibende Frist empfinde ich nicht als besonderen Druck, vielmehr respektiere ich das einfach als Realität.

Hat sich mit dieser Perspektive auch Ihr Schreiben oder Ihr Gefühl zum Schreiben verändert?

Na ja, eigentlich habe ich mich bereits vor meinem Ruhestand, nämlich jenseits der 50, vom wissenschaftlichen Schreiben verabschiedet. Genau genommen ist mein Fach, das heißt die Philosophie, ja gar keine Wissenschaft, eher die Mutter einiger Wissenschaften, ohne selbst Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu erheben. Darum verlangt sie ein anderes Schreiben. Es ist ein aus der Sprache geborenes Schreiben, die Sätze setzen sich fort, sie haben ihre eigene Logik. Mit Lacan gesprochen, schreibt mich der Text. Ich würde auch behaupten, dass jeder Text eine Art von Individualität besitzt, jedenfalls habe ich zu jedem Text ein anderes Verhältnis. Jeder Text ist unterschiedlich und hat seinen eigenen Sinn – er ist eigensinnig.

Fällt es Ihnen manchmal schwer, sich diesem Eigensinn des Textes hinzugeben oder unterzuordnen?

Manchmal habe ich eine Blockade, wie eine Nase vor der Wand, in der ich als Bergsteigerin gerade hänge. Ich komme nicht weiter, weil ich das, was ich sagen will, nicht formulieren kann. Aber die Blockade hat nichts mit mir, mit meinem Inneren zu tun, sie liegt in der Sache. In solchen Momenten zeigt sich der Eigensinn eines Textes. Meistens, das weiß ich mittlerweile aus Erfahrung, löst sich das von selbst, nach drei Tagen, drei Wochen, drei Monaten. Manchmal fange ich dann an einer anderen Ecke an oder versuche, mich abzulenken, indem ich die Texte anderer Leute lese – das kann schön sein, bringt mich in der Regel aber nicht weiter. Deshalb muss ich geduldig sein und abwarten. Früher fehlte mir diese Geduld. Wenn man jünger ist und sich noch ganz in der Karriereschiene bewegt, ist es schwer, sie aufzubringen. Keine Qualifikationsarbeiten mehr schreiben oder sich und der Welt etwas beweisen zu müssen, ist ein Privileg. Dem publish or perish zu entkommen, ist einerseits eine große Entlastung, die dem Geschriebenen außerordentlich gut tut. Andererseits bin ich früher, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, leichtfüßiger gewesen. Die Wände, an denen ich hing, waren nicht ganz so steil, die Berge nicht ganz so hoch. Also konnte ich auch schneller um die Nasen herum klettern, musste nicht warten, bis sich die Blockade irgendwie von selbst löst. Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich nie eine längere Schreibkrise.

Keine Schreibkrisen zu haben, ist in einer akademischen Laufbahn doch eher ungewöhnlich. Wie gestaltet sich ihr Schreibprozess?

Wie gesagt, ich kreise beim Schreiben um den Text – morgens schreiben, abends redigieren. Gerade in den ersten Korrekturgängen verändert sich das Geschriebene meistens sehr stark. Die ersten Überarbeitungen brauchen viel Zeit, da komme ich oft gar nicht zum Weiterschreiben. Ich fange immer wieder von vorne an mit Lesen, dabei merke ich, wie der Text langsam entsteht. Irgendwann bin ich zufrieden; und so geht es kontinuierlich weiter. Aber ich kreise nicht nur um die Gedanken des jeweiligen Textes, sondern auch um die Sprache. Sprache ist mir wichtig. Ich bin geradezu sprachverliebt, was übrigens nicht nur für meine Muttersprache gilt: Ich schreibe auf Englisch fast so gut wie auf Deutsch, vielleicht sogar besser – obwohl es natürlich doppelt so lange dauert. Ich finde es ganz angenehm, in zwei Sprachen zu schreiben, zwischen den Sprachen wechseln zu können. Früher habe ich auch ein bisschen Französisch gesprochen, eine Kompetenz, die ich mit der Zeit leider verloren habe, wohl weil es im Wissenschaftsbetrieb weniger üblich ist. Jedenfalls hilft es mir, über ein Thema nochmals in einer anderen Sprache nachzudenken. Eine andere Sprache ist eine andere Welt. Sie öffnet einen anderen Horizont, erfordert ein anderes Denken. Was dann entsteht, lässt sich gar nicht eins-zu-eins übersetzen. Solche eins-zu-eins-Übersetzungen, die womöglich noch von einem Computerprogramm erstellt wurden, sind furchtbar. Ich übersetze keine fremden Texte, das ist nicht mein Job, ich bin schließlich keine Übersetzerin. Aber bei einigen meiner eigenen Texte habe ich die deutsche Vorlage selbst ins Englische überführt. Dabei hat sich das deutsche Original häufig verändert, weil ich durch das Denken in der fremden Sprache gemerkt habe, wo in meinem deutschen Text die Sandbänke liegen, wo ich mich als Muttersprachlerin hinter meiner Ausdrucksfähigkeit versteckt habe. Dann habe ich die deutsche Originalversion anhand der englischen Übersetzung – man müsste vielleicht eher Überarbeitung sagen – korrigiert. Die englischen Fassungen sind in der Regel konziser und dadurch prägnanter, weil ich mich in der fremden Sprache nicht so einfach durchmogeln kann. Die dadurch erforderliche Disziplin macht die englischen Texte meist besser.

Bräuchte es also auch im Umgang mit der eigenen, in unserem Fall der deutschen Sprache mehr Disziplin?

Ich finde, wir schreiben alle immer schlechter, wir kürzen immer mehr ab, wir verzählen und verzocken uns ständig. Akronyme, Aufzählungen, Nummerierungen, Punktationen – das schreitet in einer Weise voran, die ich atemberaubend und einigermaßen gefährlich finde. Gerade für das philosophische Schreiben, als nichtwissenschaftliches Schreiben, ist Sprache in der ihr eigenen, umgangssprachlichen Struktur und in ihrer Geschichte enorm wichtig. Ebenso wie die Metaphern, auch die benutzen wir immer weniger – oder falsch. Metaphern müssen konsistent sein, sie müssen in ihrer Bildhaftigkeit zu dem passen, was mit ihnen ausgedrückt werden soll. Eine Metapher muss so verwendet werden, dass die Zusammenhänge eben auch ein Bild entstehen lassen. Und man darf nicht aus der einmal gewählten Metaphorik herausfallen: Wenn ich die Lokomotive als Metapher für den Fortschritt des Schreibens benutze, dann muss es auch dampfen! Gerade in der medialen Wirklichkeit gibt es diesbezüglich viel Schlamperei. Neulich hat ein Sportreporter einen berühmten Schwimmer als „Rolls Royce unter den Schwimmern“ bezeichnet. Das geht nicht! Man kann ein Lebewesen, einen Menschen nicht mit einem Auto vergleichen; auch wenn er noch so schnell schwimmt. Auf solche Sachen versuche ich selbst zu achten und sie selbstverständlich auch meinen Studierenden zu vermitteln – das ist mir wichtig. Denn das gute Schreiben ist ein Instrument, es erzieht das gute Denken.

Was kann man Ihrer Meinung nach für die Ausbildung des guten Schreibens, wie Sie es eben skizziert haben, tun?

Unsere common languages bieten gute Leitlinien für philosophisches Denken und Sprechen. Man kann sich fragen: Wie verhalten sich die Worte zueinander? Worauf beziehen sie sich? Wie kann man sie benutzen? Nehmen wir als ein Beispiel das Wort „sorgen“: Ich kann ein Lebewesen, meinen Opa oder den Hund, versorgen, jedoch keinesfalls entsorgen, wenn Opa oder Hund gestorben sind. Entsorgen kann ich dafür den Müll oder andere Gegenstände. Derartige Beobachtungen und Überlegungen leiten bei sehr vielen Worten das Denken. Allerdings nicht bei allen, und wenn man darauf achtet, bekommt man mit der Zeit ein Gespür dafür, welche Wörter gewachsen sind, also verschiedene Dimensionen, Bezüge, Ableitungen oder Verwendungskontexte entwickelt haben, weil sie gesellschaftliche oder menschliche Erfahrungen beschreiben. Gerade in unserer medialen Welt gibt es unglaublich viele Plastikwörter, die eben nicht solche Ebenen, Aspekte oder Sinnhaftigkeiten haben. Unsere Alltagssprache und ihre Entwicklung beschäftigen mich. Mit dieser Aufmerksamkeit über Sprache nachzudenken, ist nach meiner Erfahrung für das eigene Schreiben wichtig. Ein Philosoph wie Martin Heidegger hat sich dieser Aufgabe eindrucksvoll gestellt und einen ausgeprägten Sinn für die Etymologie von Wörtern entwickelt. Manchmal hat er sein Spiel mit der Wortgeschichte allerdings zu weit getrieben, ist sich selbst sozusagen auf den Leim gegangen – irgendwann ist es auch gut, dann muss man die Bremse ziehen.

Kann das eigene Schreiben, neben der Sprachbeobachtung, auch durch die gezielte Lektüre anderer Texte geschult werden? Welche Rolle spielt das Lesen wissenschaftlicher Texte für Ihr Schreiben?

Weil wir vorhin schon über die richtige Verwendung von Metaphern gesprochen haben, sage ich jetzt ganz bewusst: Ich lese wie ein Darm, soll heißen, ich führe mir wissenschaftliche Literatur als Nahrung für mein eigenes Schreiben zu und ich lese auf Verwertung. Bei schöner Literatur, wie ich sie in meiner knapp bemessenen Freizeit lese, bin ich ein addict reader – da könnte ich ganze Nächte durchlesen. Das liegt an meiner Sprachversessenheit – oder besser: Sprachbesessenheit; aber jetzt heideggere ich schon wieder. Mit gut geschriebener wissenschaftlicher Literatur kann man mich auch sehr glücklich machen. Aber das rein informative wissenschaftliche Lesen funktioniert bei mir nach einer strikten Verwertungslogik. Ich greife mir das heraus, was ich für hilfreich und nützlich halte: Ich muss durch die Lektüre etwas für das Thema lernen, mit dem ich mich gerade befasse. Danach schmeiße ich das Buch auch schnell wieder in die Ecke. Das meine ich mit „Darm“, dass ich es schnell wieder weglege, also ausscheide – nicht selten, weil ich dann weiß, wie etwas nicht geht. Vieles ist natürlich auch enorm hilfreich, das heißt, vieles wird auch verwertet.

Um im Bild des Darms zu bleiben: Wie verstoffwechseln Sie das Gelesene? Wie wird das Aufgenommene gespalten und abgespeichert?

Wenn mir ein Text oder ein Buch gut und wichtig erscheint, gehe ich damit sehr sorgfältig um. Ich mache mir ausführliche Notizen und lege im Computer ein Dokument an, in dem das Gelernte festgehalten wird. Andernfalls würde es wieder verschwinden, dafür vergesse ich Gelesenes zu schnell. Erscheint mir ein Text bedeutsam, kann ich über einen Passus auch schnell mal 13 Seiten schreiben, die freilich nur für mich bestimmt sind. Das ist meine Art des Memorierens, meine Art, einen Zettelkasten anzulegen. Allerdings muss ich erstmal einen Leitfaden finden, mit dem ich den Argumentationsgang nachvollziehen, aufschreiben und überprüfen kann, damit ich das Gelesene in dieser Form verstoffwechseln kann. Mich treiben dann unterschiedliche Fragen um: Wo fängt der Autor an? Wie geht er vor? Wo hört er auf? Was ist sein Ziel? Funktioniert die Argumentation? Anschließend gebe ich meinen eigenen Senf dazu, das heißt, ich notiere mir, was mir beim Lesen durch den Kopf gegangen ist, was ich dazu gedacht habe. Dafür verwende ich manchmal eine andere Schriftart, damit ich später noch weiß, welches mein Senf ist und welcher der des Autors. Sonst käme es zu Verwechslungen, die natürlich nicht vorkommen sollten.

Mit dem schon erwähnten Abschied vom wissenschaftlichen Schreiben habe ich mir auch abgewöhnt, viel aus anderen Texten zu zitieren. Früher, als junge Autorin, habe ich umfänglich zitiert. Jetzt frage ich mich, warum ich immer eine Klammer aufmachen und mich auf eine andere Autorität samt Seitenzahl berufen soll. Das nützt niemandem, zumindest mir bringt diese Praxis nichts. Deshalb habe ich mich vom Zitieren und von fremden Autoritäten verabschiedet, diese – man könnte sagen – Respektlosigkeit gönne ich mir mittlerweile.

Geben Sie als erfahrene und anerkannte Autorin Ihren Studierenden Tipps und Hilfestellungen zum wissenschaftlichen Lesen und Schreiben?

Auf jeden Fall. Was den Umgang mit philosophischen Texten angeht, sage ich oft zu meinen Studierenden: „In der Philosophie kommt es darauf an, die Frage aufzuspüren, die sich hinter dem breiten Rücken der Antworten versteckt.“ In meinen Seminaren bekommen die Studierenden ein kurzes Dokument, in dem steht, wie sie mit Hausarbeiten, Referaten oder Protokollen umgehen sollen. Dazu gehören auch Lese- und Schreibtipps, zum Beispiel für den Fall, dass sie einen Satz nicht verstehen; was in einem philosophischen Text durchaus vorkommen kann. Aber ich gebe ja keine Seminare über das Schreiben. Insofern thematisiere ich es mit den Studierenden eigentlich nur dann, wenn ich entweder mit ihnen persönlich zusammensitze oder ihnen per E-Mail Rückmeldung dazu gebe, wie sie ihre Hausarbeit oder Masterarbeit oder Bachelorarbeit geschrieben haben.

Das gilt sicher nicht für jede Haus- oder Abschlussarbeit, aber welche Bedeutung hat wissenschaftliches Schreiben Ihrer Meinung nach für die Sozialwissenschaften?

Da sind wir wieder bei der Sprache: Der Gegenstand der Sozialwissenschaften sind sprechende Wesen. Deshalb geht es hier immer um Kommunikation. Das heißt, die Forscher*innen müssen sich ihrem Gegenstand, den sprechenden Wesen, anpassen, indem sie mit ihnen reden, Interviews führen oder eben schreibend mit ihnen in Kontakt treten. Zwar kann man über soziale Verhältnisse Formeln aufstellen – wie es etwa Parsons getan hat –, doch halte ich solche Verfahren für sinnlos, ja für geradezu inadäquat. Menschen sind schließlich sprechende und schreibende Wesen. Folglich muss man mit ihnen sprechen und über sie schreiben. Und das Geschriebene sollten sie wiederum verstehen und idealerweise aus ihm lernen. Dass sie einen Bezug, eine kommunikative Beziehung zu den Objekten, die sie beforschen, nicht nur haben können, sondern haben müssen, ist gewissermaßen das Spezifikum der Sozialwissenschaften. In diesen Wissenschaften ist der Gegenstand zugleich immer auch der Adressat von Forschung. Insofern fungiert die Sprache in hier tatsächlich als ein Medium. In der Physik, wo es um Materie, Kügelchen oder Atome geht, kann ein solches Feedback nicht stattfinden. Die Atome lesen die Texte der Atomphysiker nicht, um sich anschließend womöglich anders zu verhalten. Diese Rückkopplung sollte man wiederum im sozialwissenschaftlichen Schreiben berücksichtigen. Und von ebendieser Situation war die Rede, als ich am Anfang gesagt habe, es müsse leicht für die Lesenden sein, nicht für die Schreiberin: die nämlich schreibt für andere. Allerdings meine ich damit nicht das Schreiben für eine Peergroup oder um einen Titel zu erwerben, sondern für eine breite Leserschaft, ein alltägliches Publikum, das an eine common language gebunden ist. Aus diesem Grund ist die Philosophie in meinen Augen eben keine Wissenschaft. Ihr Medium sind nicht Formeln, Fachsprachen oder Statistiken, sondern die Verständigung in einer gemeinen, im Sinne einer gemeinsamen Sprache.

Teilen Ihre Kolleginnen und Kollegen in der Philosophie diese Auffassung?

Die meisten schreiben eher autorenbezogen und betreiben eine Art Textexegese zu Kant oder Hegel, Fichte oder Wittgenstein. Die philosophische Art des Schreibens ist stark durch den Kanon geprägt. Man interpretiert die heiligen Texte der Tradition. Ich bin da eher ein bunter Vogel, weil ich überwiegend problem- und nicht autorenbezogen schreibe. Als wir vorhin über das Zitieren sprachen, habe ich ja schon bekannt, dass ich keinen Respekt gegenüber den Autoritäten des Faches habe. Ich leiste mir, anders gesagt, eine gewisse Ignoranz gegenüber den großen Namen der Philosophie. Stattdessen arbeite ich gerne mit anderen Disziplinen zusammen, mit der Soziologie oder den Kulturwissenschaften, und schaue, was ich von diesen Fächern lernen kann – zum Beispiel über Gesellschaft oder über ein bestimmtes Problem, das mich gerade beschäftigt.

Wie habe ich mir Ihre Zusammenarbeit oder auch Ihren Austausch mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorzustellen?

Dazu muss ich gleich vorweg betonen, dass ich von meiner Ausbildung, von meinem akademischen Lebensweg in der Philosophie her keine Teamplayerin bin. Teamwork ist in der Philosophie unüblich. Die Einbindung in ein Ensemble – wie beim Ballett, in der Oper oder auf der Theaterbühne – habe ich oft vermisst. Sie hat mir auf meinem eigenen Berufsweg gefehlt. Auch beim Lesen und Schreiben stellt sich so ein Ensemble-Gefühl nicht ein. Zwar bin ich nie im klassischen Sinne nach der Formel Humboldts einsam gewesen, habe immer viel mit anderen korrespondiert und gemeinsame Veranstaltungen organisiert, aber meine Teilhabe fand stets eher aus der Distanz heraus statt – eine Distanz, die wohl nicht zuletzt mit der Konkurrenz untereinander zu tun hatte. Gerade bin ich dabei, zusammen mit zwei anderen Kolleginnen, Brigitte Aulenbacher und Tine Haubner, ein kleines Buch zu verfassen, in dem wir uns mit dem Thema Sorge befassen. Wir verfolgen ähnliche Interessen, entstammen jedoch unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, nehmen in der gemeinsamen Arbeit an dem Buchprojekt aber selbstverständlich aufeinander Bezug. Weil wir an unterschiedlichen Orten wohnen und arbeiten, müssen wir uns hauptsächlich via Skype austauschen. Und obwohl wir uns alle drei gut kennen, ist ein solches gemeinsames Schreibprojekt manchmal kompliziert, das heißt vor allem auch sehr zeitintensiv.

Hilft es Ihnen, Ihre Texte anderen zum Lesen zu geben und sich Rückmeldungen einzuholen?

Ja, aber nur in einem sehr späten Stadium des Schreibens. Zu früh im Prozess der Textproduktion ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zu Missverständnissen kommt. Etwas, das noch nicht wirklich ausformuliert ist, ob nun schriftlich oder mündlich, kann nicht ernsthaft kommentiert werden – der Kommentar setzt die Aussage voraus. Selten ist jemand so kongenial, dass er erspürt, was ich gerade im Kopf habe. Beim Schreiben ist es doch so, dass der Weg im Gehen entsteht. La langue me parle, um es noch einmal mit Lacan zu sagen. Der Text schreibt mich. Damit meine ich, dass ich manchmal vor meinen eigenen Texten sitze und mich der Erfahrung ausgesetzt finde, das, was ich formuliere, eigentlich noch gar nicht gewusst zu haben, bevor ich es zu Papier gebracht hatte. Ich hatte es vorher weder erkannt und gedacht, geschweige denn in seinen Implikationen durchdrungen. Sich in diese Situation zu bringen, ist ebenso spannend wie notwendig. Mit Texten, bei denen ich alles schon weiß, werde ich oft nicht fertig, weil ich fieberhaft nach dem einen Punkt suche, den ich noch nicht erfasst habe – das ist eine richtig frustrierende Schreiberfahrung. Umgekehrt fällt es mir aber auch schwer, einen Text aus der Hand zu geben, wenn er fertig ist. Offenbar kann ich als Autorin schlecht loslassen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer, Stephanie Kappacher.

Kategorien: Universität

Cornelia Klinger

Dr. Cornelia Klinger ist außerplanmäßige Professorin für Philosophie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Politische Philosophie, Gender Studies im Bereich Philosophie, Ästhetik und Theoriegeschichte der Moderne.

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Wibke Liebhart

Wibke Liebhart ist Soziologin. Sie arbeitet für das Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Internetportals Soziopolis.

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