Barbara Thiessen | Rezension | 16.11.2018
Care Under Pressure
Tine Haubner vermisst den Begriff der Ausbeutung am Beispiel der Laienpflege in Deutschland neu

Derzeit sind die Missstände in der Pflege in aller Munde. Pflegekräfte bringen Kanzlerin und Gesundheitsminister durch die bloße Schilderung ihres ganz normalen Berufsalltags in Bedrängnis. Tatsächlich wird jedoch der Großteil der Pflegebedürftigen im deutschen konservativen Wohlfahrtsstaat von – zumeist weiblichen – Angehörigen sowie zunehmend von migrantischen Pflegekräften versorgt. Dieses Feld der informellen Laienpflege bleibt zumeist unsichtbar und steht daher zu Recht im Mittelpunkt der Untersuchung von Tine Haubner. Zentrales Anliegen ihrer Monografie, die auf der Dissertation der Autorin beruht, ist die Rehabilitierung und Neuformulierung des Ausbeutungsbegriffs. Damit greift die Jenaer Soziologin eine sprichwörtliche Leerstelle gegenwärtiger sozialwissenschaftlicher Anthologien auf. Weder in der aktuellen Neuauflage der „Grundbegriffe der Soziologie“, herausgegeben von Johannes Kopp und Anja Steinbach (2016), noch im „Wörterbuch Soziale Arbeit“ von Dieter Kreft und Ingrid Mielenz (2017) findet sich ein Beitrag zu „Ausbeutung“. Tine Haubner will dagegen mit ihrer theoretisch-analytischen und empirisch-rekonstruktiven Studie diesen „‘toten Klassiker‘ der soziologischen Ungleichheitsforschung revitalisieren“ (S. 17).
Die Untersuchung gliedert sich in zwei Hauptteile. In der theoretischen Analyse des ersten Teils arbeitet Haubner den Marx’schen Ausbeutungsbegriff auf und durchforstet anschließend dessen Rezeption. Dabei wird feministischen Theorien, insbesondere den Care-Theorien, ein prominenter Stellenwert eingeräumt. Schließlich stellen sie die einzigen Denktraditionen dar, welche die Leerstelle im Marx’schen Ausbeutungsbegriff im Hinblick auf Care beziehungsweise Reproduktion systematisch zu füllen vermögen. Gleichwohl findet Haubner auch bei aktuellen soziologischen Konzepten wie Schließung, Exklusion oder Aktivierung produktive Anschlüsse für das von ihr entwickelte theoretische Modell einer Soziologie der Ausbeutung von Sorgearbeiten. Deren Grundgedanke ist eine soziale Beziehung, „bei der sich Akteure einseitig Vorteil durch die Nutzung des Arbeitsvermögens anderer Akteure verschaffen“ (S. 144). Hinzu kommen Überlegungen zur sozialen Verwundbarkeit im Kontext materieller und kultureller Prekarisierungsprozesse. Schlüssig konzipiert Haubner aus den theoretischen Analysen ein Arbeitskonzept, mit dem sie Laienpflege in Deutschland im Hinblick auf Ausschluss, soziale Verwundbarkeit und die Nutzung von Kostenvorteilen durchleuchtet.
Dieses Vorhaben konkretisiert Haubner im empirischen Teil ihrer Studie am Beispiel von pflegenden Angehörigen, Freiwilligen, Arbeitslosen und migrantischen Pflegekräften. Methodologisch orientiert sie sich dabei am Rahmenkonzept der Grounded Theory und dem qualitativen Paradigma subjektiver Sinnrekonstruktion. Der Datenkorpus umfasst 22 Interviews, darunter Experteninterviews, leitfadengestützte problemzentrierte Einzelinterviews und eine Gruppendiskussion. Überzeugend ist auch die Wahl der triangulierenden Perspektiven durch Einbezug von Pflegenden sowie Expert*innen aus unterschiedlichen institutionellen Settings (Pflegedienste, Vermittlungsagenturen, Ehrenamtsinitiative).
Die Darstellung der empirischen Ergebnisse erfolgt in vertiefenden Fallvignetten und kontrastierenden Zusammenfassungen, die entlang des theoretisch gewonnenen analytischen Dreischritts (das heißt im Hinblick auf Ausschlusserfahrungen, soziale Verwundbarkeit sowie Nutzbarmachung von Kostenvorteilen) aufgeschlüsselt werden. Deutlich wird, dass alle vier untersuchten Felder der Laienpflege in Deutschland einerseits durch das konservativ-familialistische Wohlfahrtsregime – und hier konkret die Pflegeversicherung mit dem Leitsatz „ambulant vor stationär“ und einem Teilkasko-Modell – sowie dem geschlechterhierarchischen Care-Regime andererseits in je spezifischer Weise grundiert sind. Die nach wie vor als weiblich konnotierte Pflegetätigkeit wird sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext trivialisiert und abgewertet. Während bei pflegenden Angehörigen, die ganz überwiegend (Schwieger)Töchter und Ehefrauen sind, durch die Übernahme von Pflegetätigkeiten und den damit verbundenen (Teil)Ausstieg aus der Erwerbsarbeit neben physischer wie psychischer Überlastung eine Armutsspirale in Gang gesetzt wird, sind bei freiwillig Engagierten und umgeschulten Langzeitarbeitslosen wirtschaftliche Prekarität und sozialer Ausschluss der Auslöser für einen Einsatz in der Pflege. Bei migrantischen Pflegekräften wirken zusätzliche Faktoren wie eine mangelnde sozialpolitische Absicherung in den Herkunftsländern und ein erhebliches wirtschaftliches Gefälle zwischen Herkunfts- und Zielland als bedeutsame Push-Faktoren. Neben geschlechtstypisierenden Mustern erfahren migrantische Pflegekräfte zudem ethnisierende Kompetenzzuschreibungen. Haubner rekonstruiert in der Gesamtschau auf das ausgewertete Material eine kaskadenförmig strukturierte Dynamik von Ausbeutungsprozessen. Dabei verstärken sich ökonomische und politische Rahmenbedingungen gegenseitig und bewirken insbesondere bei Akteur*innen mit begrenzten Handlungsoptionen einen erhöhten Ausbeutungsdruck. Ein wesentliches Ergebnis dieser aktuellen Care Politics sind neben prekarisierten Erwerbsarbeits- und Engagementverhältnissen nicht zuletzt auch unzureichende Versorgungsleistungen in Privathaushalten und Pflegeeinrichtungen.
Die Pflegekrise lässt sich mit Haubners Modell und differenzierter empirischer Rekonstruktion transparent und detailliert nachvollziehen. Die Studie überzeugt durch eine präzise und schlüssige Aufarbeitung theoretischer Klassiker sowie der breiten Rezeption von Ansätzen feministischer Theorien und soziologischer Ungleichheitsforschung. Das daraus eigenständig entwickelte Konzept einer Soziologie der Ausbeutung von Sorgearbeiten ist einleuchtend und weiterführend. Zu Recht wurde Tine Haubner daher für den Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung 2017 nominiert und ist mit dem Karl Marx Preis 2018 im Bereich „Marxismus-Feminismus“ ausgezeichnet worden. Es ist Haubners Verdienst, dass sie den Ausbeutungsbegriff von der moralisierenden Aufladung als Empörungsmetapher befreit und daraus ein theoretisch fundiertes, analytisches Werkzeug gemacht hat, mit dem prekarisierte Arbeitsverhältnisse aufgeschlüsselt werden können.
Zu wünschen wäre, dass auch im Feld der Arbeits- und Ungleichheitssoziologie die Relevanz der Untersuchung von Sorgearbeiten zum Verständnis gegenwärtiger Sozialverhältnisse aufgenommen würde. Eine weitere Stärke des Buches liegt in dem Nachweis des analytischen Potenzials der feministischen Denktraditionen. So zeigen der Rückgriff auf den „Bielefelder“ Subsistenzansatz und feministische Ökonomiekritik, welche Möglichkeiten diese bald fünfzig Jahre alten theoretischen Konzepte bieten, die nach wie vor vom soziologischen Mainstream – trotz der Wiederentdeckung marxistischer Theorien – zumeist unbeachtet bleiben.
Eine kritische Anmerkung sei dennoch gestattet: Durch die profunde analytische Begriffsarbeit, die theoretische Grundlegung von Ausbeutung und das eher deduktive Vorgehen geraten empirische Eigenheiten etwas aus dem Blick. Etwa die in Care-Beziehungen durchaus relevante emotionale Reziprozität wird vom Ausbeutungsmodell nicht eingefangen. Auch ein spezifischer Nutzen, den sich beispielsweise migrantische, aus patriarchal-ehrenkulturell bestimmten Gesellschaften stammende Pflegekräfte durch Ihre Tätigkeit verschaffen können, bleibt unberücksichtigt. Das kann etwa ein Zugewinn an Freiheit und Selbstbestimmung oder auch ein Ansehensgewinn in der Herkunftsgemeinde sein, der aus den erarbeiteten ökonomischen Mitteln resultiert. Auch pflegende Angehörige können durch die Sorgearbeit einen Benefit erzielen, etwa indem auf diese Weise eine Immobilie gesichert werden kann. Damit soll jedoch die Bedeutung von Haubners Werk keineswegs geschmälert werden. Lohnenswert wäre es sicherlich, die Übertragbarkeit des theoretischen Modells von Ausbeutung auch auf andere personenbezogene Dienstleistungen zu beziehen, etwa im Bereich der Transport- und Lieferservices für Privathaushalte.
Da Pflegefragen nicht nur für Expert*innen relevant sind, stellt diese Studie auch für ein breiteres Publikum eine lohnende Lektüre dar. So wäre zu wünschen, dass beispielsweise auch diejenigen, die für ihre eigenen Eltern eine 24-Stunden-Pflegekraft engagieren, sich mit den Hintergründen und Erfahrungen der Betroffenen auseinandersetzten.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Tanja Carstensen.
Kategorien: Geld / Finanzen
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