Felix Trautmann | Rezension | 21.12.2017
Die Gesellschaft der Singularitäten 5
Die demokratische Gesellschaft ist keine Gesellschaft von Singularitäten

„Die demokratische Gesellschaft ist keine Gesellschaft von Individuen“ – auf diese einfache Formel brachte Ende der 1990er-Jahre der Philosoph Claude Lefort seine Einwände gegen den politischen Liberalismus und Rationalismus.[1] Die Bezugnahme auf das Individuum als kleinste soziale Einheit stand ihm zufolge für eine Verleugnung des politischen Charakters moderner Gesellschaften: nämlich dass diese erst aus dem Streit ums Allgemeine hervorgingen – und demokratisch zu nennen seien, wenn dieser Streit offen bleibe. Aber wenn nicht aus einzelnen Individuen, aus was bestehen Gesellschaften dann? Folgt man Andreas Reckwitz und dem von ihm in seiner neuen Studie propagierten „Strukturwandel der Moderne“, dann formieren sich spätmoderne Gesellschaften durch Prozesse der Singularisierung. Das Allgemeine spiele darin nur noch eine nachgeordnete Rolle, es regiere die Logik des Besonderen.
Schnell wird bei der Lektüre klar, dass mit dem Bezug auf das Besondere keine Neuausrichtung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft gemeint ist, sondern eine Bewertungslogik, die zum strukturbildenden Moment gegenwärtiger Vergesellschaftung geworden ist. Wie schon in Reckwitz früheren Arbeiten über Das hybride Subjekt und Die Erfindung der Kreativität wertet diese Perspektive kulturelle und ästhetische Dimensionen von Gesellschaft auf.[2] Die spätmoderne Sozialstruktur ist dabei Reckwitz zufolge, wie die Kapitel des Buches unmissverständlich anzeigen, in jeder Hinsicht durch kulturelle Valorisierungsoperationen geprägt. Valorisierung heißt in diesem Zusammenhang, dass bestimmte Entitäten „Dinge, Menschen, Orte etc.“ (S. 67) als besonders anerkannt oder eben entwertet werden. Die singularistische Wertvergesellschaftung vollzieht sich vor allem in Form von kulturellen Ökonomien der Aufmerksamkeit und Attraktion, der Exzeptionalität und Distinktion. Diese Prozesse lassen sich umfangreicher als in der am ökonomischen Kapital orientierten Betrachtung in Bezug auf sämtliche Lebensbereiche ausdeuten. Die Stärke eines solchen Perspektivenwechsels droht so zu ihrer theoretischen Hypothek zu werden. Gleichwohl erlaubt dieses Deutungsschema Reckwitz eine weit über den Rand der Fachdisziplinen hinausgehende Befragung der Selbstverständigung gegenwärtiger Gesellschaften – die zudem angenehm klar vorgetragen wird.
Die kulturtheoretische Perspektive auf Valorisierungsprozesse setzt Reckwitz vor allem der Rationalisierungsthese Max Webers entgegen, die wie viele moderne Soziologien noch von der Subsumtion des Besonderen unter eine Logik des Allgemeinen ausgeht (S. 75ff.). Die Beobachtung einer gegenläufigen Entwicklung, das heißt einer neuerlichen Dominanz von Singularisierungsprozessen, stützt auch die Hauptthese des Buches: Allgemeines und Besonderes seien nicht nur wechselseitig bestimmbar, sie würden nun auch neu gegeneinander valorisiert (S. 11). Die Singularisierung als dominante Wertoperation zu beschreiben und sie in allen gesellschaftlichen Feldern nachzuvollziehen, gibt auch hinreichend Auskunft über den umfassenden Geltungsanspruch, den Reckwitz seiner Diagnose beimisst. Zugleich wird sie mit der soziologischen Bescheidenheit des bloßen Beobachters vorgetragen, der für sein Tun nicht mehr den Anspruch erhebt, die Logik der Gesellschaft hinter dem Rücken ihrer Akteure zu „entlarven“ (S. 12). Die soziologische Beschreibung stellt sich vielmehr dem sich aufdrängenden Paradox: dass nämlich auch die an die Stelle der Logik des Allgemeinen getretene Logik der Singularisierung selbst eine allgemeine ist (S. 13).
Der Anspruch einer Tiefenanalyse des spätmodernen Strukturwandels kann aber nicht in jeder Hinsicht überzeugen, verzichtet er doch auf jegliches ideologietheoretische oder normative Instrumentarium. Reckwitz will tatsächlich den spätmodernen Bewertungsdiskurs soziologisierbar machen, ohne wiederum dessen Konsequenzen zu bewerten. Mag dieser Ansatz für bestimmte Bereiche der Arbeitswelt, der Lebensstile und der Alltagskultur durchaus überzeugend sein, ergeben sich insbesondere mit Blick auf das abschließende Kapitel über den „Wandel des Politischen“ (S. 371ff.) einige Rückfragen, die ich im Folgenden erläutern will.
Krise und Kritik des Allgemeinen
Dass mit Blick auf die letzten 50 Jahre von einem Wandel des Politischen gesprochen werden kann, ist zunächst unstrittig. Die Krisenerscheinungen der Moderne und die spätmodernen Rekonfigurationen von Gesellschaft sind für das Verständnis gegenwärtiger Politik entscheidend und lassen sich durchaus an den von Reckwitz aufgezählten historischen Daten (von 1968 über 1989 bis 2001), Personen und Ereignissen (‚die 68er‘, Thatcher, 9/11) festmachen. Für Reckwitz stehen sich in diesem Paradigmenwechsel vor allem zwei „politische Strukturierungsformen von Kultur“ konträr gegenüber, die gleichermaßen für den spätmodernen Aufstieg einer „Politik des Besonderen“ stehen (S. 372). Was jedoch bei der Verlängerung der Singularisierungsthese in den Raum der Politik fraglich wird, ist der Stellenwert des krisenförmig gewordenen Allgemeinen selbst. Ausgangspunkt für die Singularisierungsthese im Politischen ist – und darin bleibt sie konsequent kulturtheoretisch – weder eine ökonomische Transformation noch ein politischer Wille, sondern vielmehr der gesteigerte Wert des Besonderen, auf den auch die Politik reagiert. Für Reckwitz ist zunächst klar, dass sich seine vielfach vorgetragenen und auch über weite Strecken überzeugenden Analysen der sogenannten creative economy sowie der neuen Praktiken des Konsums und der Lebensführung nicht einfach auf die Politik übertragen lassen. Auffällig ist jedoch, dass seine Analyse des Politikfelds dazu neigt, politische Wirkungszusammenhänge strukturanalog zu beschreiben. An dieser Stelle setzt meine Kritik ein. Denn der Kontinent der Politik scheint sich dem singularistischen Kartierungsprojekt nicht recht zu fügen. In der Weise, in der Reckwitz die Logik des Besonderen auch für die Politik als strukturbildende Kraft deutet, verliert das Politische merklich an Kontur. Die Ausgangshypothese, dass die Logik des Allgemeinen durch eine Vielzahl von Besonderheitssignaturen abgelöst werde, entzieht sowohl der klassischen wie der späten Moderne den konflikthaften Charakter, durch den ihr jeweiliger Allgemeinheitsbezug doch gerade gekennzeichnet ist. In Reckwitz’ Deutungshorizont hingegen erscheint die modernistische Logik des Allgemeinen als eine weitgehend unproblematische. Erst die „Explosion des Besonderen“ (Einleitung), so der dramaturgische Bogen des Buches, habe zur „Krise des Allgemeinen“ (Schluss) geführt. Gegen diese Erzählung werde ich hier, in leicht zugespitzter Umkehr dieses Bogens, für den gleichen historischen Zeitraum die Entwicklung von einer „Kritik besonderer Allgemeinheitsansprüche“ zu einer „Explosion besonderer Ansprüche an das Allgemeine“ behaupten und meine These anhand von drei Kritikpunkten explizieren. In diesem Zusammenhang deute ich den von Reckwitz nachgezeichneten Wandel des Politischen eher als Beschreibung von Effekten, die die Kulturalisierung und Singularisierung des Sozialen auf die Politik hat, und die meines Erachtens besser dafür geeignet wären, die Krise der Politik anhand von Phänomenen zu beschreiben, die in jüngerer Zeit unter dem Begriff der „Post-Politik“ beziehungsweise der „Post-Demokratie“ zusammengefasst wurden.
Im Lichte der kulturtheoretischen Perspektive von Reckwitz vollzieht sich der Wandel des Politischen vor allem im Spannungsfeld der liberalen und konservativen Strömungen – einem, wie es heißt, „apertistisch-differenziellen Liberalismus“ auf der einen und einer Form des „Kulturessenzialismus“ auf der anderen Seite (S. 371 ff.). Der dabei diagnostizierte „Paradigmenwechsel staatlicher Politik“ (S. 371) bleibt jedoch auf den Niedergang eines bestimmten, am Staat orientierten keynesianistischen Liberalismus sowie auf einen spezifischen Ausschnitt der Politik beschränkt. Die beiden Formen der Kulturalisierung von Politik – ein an Wettbewerb und Diversität orientierter Liberalismus sowie allerlei Kulturessenzialismen, die vor allem kollektive Identitäten herausbilden – geben wenig Auskunft darüber, um was es in der Auseinandersetzung mit dem Politischen eigentlich geht. So wirkt der apertistisch-differenzielle Liberalismus lediglich wie ein neuer und durch die zuvor beschriebene liberale Hyperkultur geformter Regierungs- und Verwaltungsstil, während die Varianten des Kulturessenzialismus als unterschiedliche Abgesänge auf eben diese Hyperkultur erscheinen. Der Wandel des Politischen, so mein Eindruck, wäre angemessener beschrieben, wenn er in verschiedene Tendenzen der Entpolitisierung beziehungsweise der Verleugnung des Politischen differenziert werden würde. Angesichts von Reckwitz‘ background story – der Existenz eines parteienübergreifenden sozialdemokratischen Konsenses der früheren Nachkriegszeit und einem damit einhergehenden korporatistischen Staatsverständnis – nehmen sich nahezu alle politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte notgedrungen wie Singularisierungen aus. Problematisch an der Singularisierungsthese im Feld des Politischen ist somit nicht allein die ihr zugrunde liegende Gegenwartsdiagnose, sondern bereits der Hintergrund, vor dem sie entfaltet wird. So attraktiv die These eines shifts vom doing generality zum doing singularity wirkt, verfehlt sie doch womöglich beide. Den Kern des Problems sehe ich vor allem darin, dass die Selbstbeschreibungen der politischen Akteure von Reckwitz in einer Weise überformt und ihre jeweiligen politischen Forderungen dadurch verzerrt werden, dass in die Gegenwartsdiagnose von vornherein nur einfließt, was zur Bestätigung der These taugt. Anders ausgedrückt: Reckwitz sieht, was er sehen will.
Der Wandel des Politischen wird insofern weder soziologisch noch politisch-theoretisch klar umrissen. Obwohl Reckwitz’ kulturtheoretische Beschreibung der politischen Entwicklung spätmoderner Gesellschaften zu begrüßen ist, bleiben die Kämpfe ums Allgemeine hinter der Singularisierungsformel verdeckt. Dabei waren die Bestimmungen universeller Bezugspunkte des politischen Gemeinwesens doch schon in der Moderne strittig. Schon der „sozialdemokratische Konsens“ (S. 374), den Reckwitz in der klassischen Moderne verwirklicht sieht, galt nie für alle gleichermaßen – beruhte er doch unter anderem auf einem patriarchalen Familienbild, dem männlichen ‚Ernährer‘-Modell oder einer rein wirtschaftspolitisch motivierten Inklusion von Arbeitskräften aus dem Ausland. Weil der Bezug auf das Allgemeine sowohl in der Perspektive staatlicher Institutionen als auch in der des klassischen Liberalismus abstrakt blieb, wurde er, wie die politische Geschichte Europas nach 1789 zeigt, immer wieder herausgefordert. Gerade mit Blick auf die Transformation des politischen Felds in der Spätmoderne bleibt unverständlich, wieso Reckwitz für seine Beschreibung die Dimensionen des Konflikts, der Kontingenz und der Hegemonie unberücksichtigt lässt.[3]
Stattdessen schließt er die gesellschaftspolitische Pluralisierung und Differenzialisierung unumwunden mit der wirtschaftsliberalen Logik des Neuen und Besonderen kurz. Die Einflussnahme individualisierter und innovationsgetriebener Wissens-, Kultur- und Serviceökonomien auf die Politik, die Zunahme von diversity-management und die Transformation des Wettbewerbsstaats müssen aber nicht schon als Auflösung jeglichen Allgemeinheitsbezugs gesehen werden. Auch die kulturessenzialistische Beschwörung partikularer, vorpolitischer Identitäten vermag den Allgemeinheitsbezug nicht einfach zu umgehen. Das Politische theoretisch auf einen Kampf ums Besondere zu reduzieren, führt auch zu einer Entpolitisierung des Allgemeinen selbst.
Um diese Kritik zu veranschaulichen, sei auf die von Reckwitz gewählten Beispiele verwiesen, die er für die gegenwärtige Entgegensetzung von Liberalismus und Kulturessenzialismus anführt. Während der apertistisch-differenzielle Liberalismus von ihm anhand einer neuen Politik der Städte expliziert wird, die sich auch als Ökonomisierung und Kulturalisierung urbaner Lebensformen deuten ließe,[4] geht es in der Beschreibung des Kulturessenzialismus um die verschiedenen Bezugnahmen auf je besondere (kulturelle, ethnische, religiöse) Identitäten und deren nationalistische, fundamentalistische oder populistische Ausprägungen (S. 394). Lediglich als konfligierende Ausdeutungen und Beanspruchungen des Besonderen – nicht von Allgemeinheit – stehen sich Liberalismus und Essenzialismus gegenüber.[5] Doch lassen sich kulturelle Diversität und kulturelle Homogenität wirklich als zwei Seiten des politischen Konflikts beschreiben, ohne damit Politik im negativen Sinne zu ‚kulturalisieren‘? Mehr noch: Wertet es nicht den entpolitisierten Kulturkonservatismus wieder auf, wenn Politik maßgeblich auf den Streit um „kulturelle Ressourcen“ und ihren Erhalt zurückgeführt wird – egal ob es sich dabei nun um „lokale Rapmusik oder ländliche Tänze, gastronomische Traditionen, Designtraditionen oder Architektur, migrantisches Vereinsleben oder klassische Hochkultur“ (S. 381) handelt?
Dieser Verdacht wird dadurch erhärtet, dass Reckwitz die kulturessenzialistischen Bewegungen insgesamt als eine „kritische Reaktion auf die Hyperkultur und als Gegenbewegung zur Struktur kompetitiver Singularitäten“ (S. 419) interpretiert. Damit scheint er rechtspopulistischen oder religiös-fundamentalistischen Bewegungen ein ernsthaftes Interesse an politischer Auseinandersetzung zu attestieren, das diese überwiegend gar nicht mehr besitzen. Der Kulturessenzialismus besteht doch gerade darin, eine Besonderheit politisch zu behaupten, die sich durch keinen Allgemeinheitsbezug mehr in Frage stellen lässt, folglich also auch nicht mehr politisch verhandelbar ist. Die Gegenreaktionen auf die Unbestimmtheit und Offenheit des Allgemeinen auf der Grundlage von „Enttäuschungserfahrungen“ (S. 419) mit der Hyperkultur zu beschreiben, kommt der kulturkritischen Argumentation recht wohlwollend entgegen – zumal die „subjektiven Enttäuschungen, welche die Kultur der Selbstverwirklichung, die Hyperkompetitivität der Singularitätsmärkte und das Kreativitätsdispositiv hervorrufen können“ (S. 419) gerade das liberale Milieu selbst am stärksten treffen, dieses Milieu aber diesen Erfahrungen wiederum nicht allein mit Hass oder dem Begehren nach Entsingularisierung begegnet.[6]
Doch wie lässt sich der Formwandel der Valorisierungen in der Politik, den Reckwitz beschreiben will, anders fassen? Dass auf die ‚großen‘ nun die „‚kleinen Erzählungen‘ des (privaten) Erfolgs und des (privaten) guten Lebens“ (S. 431) folgen, dass sich im Unterschied zur zukunftsoffenen „Fortschrittsgesellschaft“ (ebd.) der Moderne die spätmoderne Gesellschaft allein an der Gegenwart orientiere oder dass überhaupt in Frage stehe, ob die gesellschaftliche Entwicklung noch allgemein bewertet werden kann, erscheint als Analyseansatz für eine Gesellschaftstheorie mit zeitdiagnostischem Anspruch unbefriedigend. In Bezug auf neue Arbeitsformen, Konsumpraktiken, Subjektivierungsweisen und Lebensstile mag dieser Ansatz dagegen durchaus ein Gegenwartsmoment zu erfassen. Auch wenn der kulturtheoretische Ansatz für die Politikanalyse sehr zu begrüßen ist, scheint er in Reckwitz’ Durchführung wesentliche Aspekte politischer Konflikte zu verstellen. Diese Kritik sei anhand von drei Punkten näher erläutert.
(1) Politische und entpolitisierende Kulturalisierung des Besonderen
In der Perspektive der Singularisierung werden, so wäre zu vermuten, politische Positionalität und Interessenskonflikte dann entpolitisiert, wenn nicht mehr differenziert werden kann zwischen solchen Gruppen, die Politik tatsächlich durch ‚Kultur‘ ersetzen wollen und solchen, die ihre politischen claims anhand von kulturellen Praktiken und Erfahrungen artikulieren. Der Wandel des Politischen, der für Reckwitz allein durch die Logik der Singularisierung und einen Prozess der Kulturalisierung und Ästhetisierung gekennzeichnet zu sein scheint, sagt wenig über diese Differenzen aus. Alle beschriebenen Akteure werden unabhängig von deren Ansprüchen erfasst und die unterschiedlichen Phänomene durch das singularistische Analysekriterium eingeebnet. Dagegen würde der von Reckwitz beschriebene Konflikt der drei kulturell gegeneinander valorisierten Klassen (neue Unterklasse, neue Mittelklasse, alte Mittelklasse) eine gute Rahmung bieten, um die vor allem auch gegeneinander gerichteten politischen Ansprüche zu erfassen; jedoch bezieht er diesen Konflikt weniger auf die Frage der kulturalisierten Ungleichheit als vielmehr auf den des Gegensatzes von Hyperkultur und Essenzialismus – also zwei unterschiedliche Verständnisse von Kultur beziehungsweise Kulturalisierung. Damit geht auch die eigentliche Pointe derjenigen politischen Artikulationen verloren, die gerade einen negativen, das heißt kritischen Bezug auf das Allgemeine und nicht einfach nur einen positiven auf das je Eigene und Besondere formulieren. Reckwitz reduziert die äußerst diversen politischen Bewegungen seit den 1960er-Jahren auf die Artikulation singularistischer Interessen und Identitäten.[7] So unterschlägt er, dass sich die meisten neuen politischen Akteure und gesellschaftlichen Gruppen nicht allein aus einer Verbesonderung ihrer eigenen Interessen, sondern gerade im Konflikt und damit in Auseinandersetzung mit anderen gesellschaftlichen Kräften herausgebildet haben. Die kulturellen Valorisierungsoperationen des Politischen verlaufen nicht, wie von Reckwitz suggeriert, zwischen den ‚mehr‘ oder ‚weniger‘ wertvollen Besonderheiten, denn sie durchkreuzen stets den Allgemeinheitsbezug. Was von den Achtundsechzigern ausging und sich in der Außerparlamentarischen Opposition (APO), in den neuen sozialen Bewegungen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren Bahn gebrochen hat, waren ja nicht einfach Identitätsbekundungen und Forderungen nach Anerkennung ihrer jeweiligen Besonderheit. Vielmehr ging es den Beteiligten bei ihrem Engagement um eine Kritik am Anerkennungs- und Willensbildungsmodell der klassisch-bürgerlichen Moderne.
Neben der notorisch als Beispiel herangezogenen Ökologiebewegung lassen sich eine Vielzahl politischer Bewegungen im Feld der Arbeit sowie zahlreiche gegen Diskriminierung, Marginalisierung und Prekarisierung gerichtete Initiativen als Formen der Kritik am bürgerlichen Konsens verstehen. Statt um den Wert des Besonderen oder ihren jeweiligen Anteil zu konkurrieren, protestieren sie im Namen unabgegoltener universaler Versprechen und fordern ein ganz anderes Allgemeines ein.[8] Insofern sollte ihre Kritik nicht einfach mit dem wirtschaftspolitisch orientierten Liberalismus und dessen Bestreben, das Äquivalenz- und Konkurrenzprinzip in die Politik auszuweiten, zusammengedacht werden. Was viele politische Bewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich artikuliert haben, ist doch eher die Kritik, dass der Allgemeinheitsbezug, etwa die Geltung von Rechten, sich nicht immer gleich auswirkt – dass manche kulturalistisch gesehen ‚gleicher‘ als andere sind und sich der Kampf um politische Gleichheit eben deshalb auch gegen die kulturelle Entwertung von Deprivilegierten und Minderheiten richten muss. Diese Form der Kritik von Macht- und Mehrheitsverhältnissen als Ausdruck einer Singularisierung von Interessen zu deuten hieße sie gründlich misszuverstehen.[9]
Umgekehrt sollte der Kulturessenzialismus als eine Form der Kulturalisierung verstanden werden, die darauf abzielt, ‚Kultur‘ als eine vorpolitische Gegebenheit zu behaupten, über die politisch nicht mehr gestritten werden könne und die lediglich durch die Politik anzuerkennen sei. Damit verweigern sich alle Formen von Kulturessenzialismus – Kulturnationalismus, Rechtspopulismus, religiöser Fundamentalismus – gerade dem politischen Streit ums Allgemeine. Der Ort des Allgemeinen ist dabei immer schon besetzt, sei es partikular (etwa durch die Nation oder ein ‚Volk‘), sei es durch einen politisch uneinholbaren Anderen (‚Gott‘). Aus diesem Grund sollte die Möglichkeit zur Unterscheidung aufrechterhalten werden: Wann dient Kulturalisierung dazu, einen besonderen Aspekt in Bezug auf das Allgemeine zu politisieren und wann geht es darum, einen Aspekt von Gesellschaftlichkeit dem politischen Streit zu entziehen – etwa indem der eigenen Gruppe ein „Primat“ (S. 395) zugeschrieben oder ein „Wert auf Dauer“ (S. 396) gestellt und somit als unhinterfragbarer Bezugspunkt installiert werden soll?
(2) Kulturelle Valorisierung und die Rechtfertigung der Ungleichwertigkeit
Der zweite Kritikpunkt, der gegen die Theorie der Singularisierung angeführt werden kann, betrifft ihren normativen Gehalt. Äußerst elegant und mit Blick auf manchen ideologiekritischen Reduktionismus auch nachvollziehbar distanziert sich Reckwitz in seiner Deutungsperspektive von normativen Ansprüchen und fasst die kulturellen Valorisierungsoperationen selbst als soziologische Grundmaterie. Obwohl die gesamte Skala an Valorisierungen thematisiert wird, erscheinen vor allem die negativen sozialen Konsequenzen der Singularisierung wie eine Art notwendiges und unvermeidliches Nebenprodukt im Wettbewerb um Besonderheit. Die Analyse von Reckwitz widmet sich, anders als viele andere soziologische Gegenwartsdiagnosen, kaum den damit verbundenen Rechtfertigungsnarrativen sozialer Ungleichheit und Ungleichwertungen.[10] Man mag Reckwitz zwar zustimmen, dass der entlarvende Gestus der Ideologiekritik nicht nur häufig selbstgerecht ist, sondern auch über viele konkrete Phänomene hinweggeht. Dennoch stellt sich die Frage, ob eine Soziologie, der es derart um den Prozess kultureller Valorisierungen geht, nicht doch stärker die Formen des Scheiterns zu ihrem Gegenstand machen sollte, wenn sie auch den in der Logik der Besonderheit steckenden kulturellen Imperativ – ideologietheoretisch: die Anrufung – analysieren will. Die kulturelle Abwertung ganzer ,Klassen‘ von Singularisierungsverlierern ist selbst nicht Ausgangspunkt von Reckwitz’ Beschreibungen, obwohl auch er das neue Klassengefüge maßgeblich durch Ausschlüsse, Kränkungen, Enttäuschungen, Neid und andere affektive Beziehungsformen mitgeprägt sieht. Die Perspektive derjenigen, die von den Singularisierungsmärkten ausgeschlossen werden, erhalten innerhalb von Reckwitz‘ heuristischem Ansatz wenig Platz. Der strenge Fokus auf die tonangebende neue Mittelklasse geht einher mit einem, so to say, ‚methodologischen Mittelklassismus‘. Gegen die Auswirkungen dieser perspektivischen Verengung hätte es in der Analyse wenigstens eines Minimums an Normativität bedurft, um stärkere Aussagen darüber zu machen, wo und wie sich die Versprechen der Singularisierung gar nicht erst einlösen lassen beziehungsweise das Versprochene selbst einen Hinweis auf die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Aufwertung von Lebensformen darstellt. Auch wenn Reckwitz von Anfang an klar macht, dass er sich niemals ins „Grand Hotel Abgrund“ (S. 23) einmieten würde, so kann sich eine Beschreibung des Strukturwandels der Moderne – zumal in Bezug auf den Wandel des Politischen – doch nicht ohne eine nähere Beschreibung der Kehrseite und Abgründe dieser Moderne zufrieden geben.
Dabei hätten sich die von Reckwitz beschriebene „Kulturalisierung der Ungleichheit“ sowie die Formen „kultureller Entwertung“ (S. 350–359) und Polarisierung doch bestens angeboten, um zu zeigen, inwieweit der Prozess der Singularisierung auch eine politische Konfrontation der Mittel- und Unterklasse bedingt, die mit neuen Klassenkonflikten einhergeht. Denn was bedeutet es etwa für den Arbeitskampf der Gewerkschaften oder die Arbeitsmarktpolitik politischer Parteien, wenn bestimmte Berufsfelder kulturell derart abgewertet werden, wie Reckwitz es beschreibt? Und umgekehrt: Was heißt es für die Singularisierungsgewinner der „postindustriellen Wissensgesellschaft“, „die unmittelbar an der Gestaltung von komplexen Einzigartigkeitsgütern beteiligt sind“ und „deren Arbeit selbst als eine kostbare singuläre Leistung erscheint“ (S. 432f.), wenn ihre Tätigkeiten mit politischer Entsolidarisierung innerhalb von Berufsverbänden oder neuen Formen der Prekarisierung einhergehen? Dann ist nicht mehr ganz so eindeutig, wer nun eigentlich alles „das Nachsehen“ (S. 433) hat.
Dass die Ökonomie der Singularitäten und die Kultur der Attraktivität permanent „die Gerechtigkeitsmaßstäbe der industriellen und bürgerlichen Moderne“ (S. 439) unterlaufen, äußert sich ja nicht allein in einer neuen „kulturellen Differenz zwischen ‚befriedigenden‘ und ‚unbefriedigenden‘ Berufen, zwischen ‚bewundernswerten‘ und ‚bedauernswerten‘ Subjekten, zwischen Boom-Städten und ‚abgehängten‘ Regionen“ (ebd.), sondern auch in neuen politischen Allianzen und Subjekten. So bleibt bei Reckwitz die Frage, auf welche normativen Grundlagen und Ressourcen sich eine Gesellschaft eigentlich stützt und wie sie ihren Zusammenhalt organisiert, eigentümlich leer. Diese alte Frage Frankfurter (am Main) Provenienz beruht ja selbst auf einer kritischen Betrachtung des modernen Selbstverständnisses und der Möglichkeit der Verkehrung ihres Fortschrittsversprechens. Das heißt auch, dass die Fortschrittserzählung der Moderne bereits lange vor ihrer spätmodernen Krise wankt, ihre Widersprüchlichkeit längst zutage getreten ist und politisch problematisiert wurde.[11]
(3) Politische Differenz – that makes a difference
Den schwerwiegendsten Einwand gegen den von Reckwitz beschriebenen Wandel des Politischen sehe ich jedoch in der Rolle der Identitätspolitik. Hier fällt meines Erachtens der Verdacht des Reduktionismus auf die Singularisierungsthese selbst zurück. Die singularistische Analyse der kulturellen Valorisierungsoperationen verliert auch hier jedes Unterscheidungskriterium von politisierenden und entpolitisierenden Bezugnahmen auf Kultur. Bei Reckwitz landet alles im gleichen melting pot kulturalistischer Politik – ob Rechtspopulisten, Ethnonationalisten oder APO, ob Weltkulturerbe und cultural heritage oder Antirassismus und Subkultur, alle sind Teil der Singularisierungsbewegung, Teil eines kulturalisischen Kampfes um Identität. Während die Hyperkultur des differentiellen Liberalismus Vielfalt als „Reichhaltigkeit der Singularitäten im Plural“ (S. 380) wertschätzt, werten die Kulturessenzialismen nur die je eigene Besonderheit. Beide produzieren dabei immer auch, wie Reckwitz kritisch anmerkt, eine Fremdkulturalisierung – positiv („Multikulti“) im ersteren und negativ (Rassismus) im letzteren Fall.
Trotz dieses Verweises auf die Möglichkeit der Fremdkulturalisierung scheint die Singularisierungsgesellschaft im Politischen für Reckwitz von einem Primat der Selbstidentifizierung getragen zu sein. Dabei bleibt jedoch die Bedeutung der Tatsache außer Betracht, dass die Besonderheit einer Identität nicht immer selbst gewählt ist. Die Gewalt des Singularisiert- beziehungsweise Identifiziertwerdens bleibt in der Beschreibung kulturalisierter Politik offenbar Nebensache. Reckwitz’ Deutung, wonach die Antwort auf die Fremdkulturalisierung und die damit verbundenen negativen Erfahrungen der alltäglichen Diskriminierung lediglich in der Selbstkulturalisierung zu suchen sei, greift zu kurz, weil sie die ganze Ambivalenz der negativen Identifizierung vernachlässigt. Zwar geht Reckwitz nicht so weit, aus der Not der diskriminierenden Fremdkulturalisierung eine Tugend der singulären Identitätsbildung zu machen. Doch seine soziologische Beschreibung gesellschaftlicher Diskriminierung bleibt insgesamt unsensibel dafür, dass sich rassistische Zuschreibungen eben nur bis zu einem bestimmten Grad positivieren und umwenden lassen.[12] Es sollte klar sein, dass der politische Kampf um Diskriminierungsfreiheit weniger in der Umdeutung und Aneignung als in der transformatorischen Kritik der negativ singularisierenden Fremdkulturalisierung besteht.
Am deutlichsten zeigen sich diese problematischen Konsequenzen an Reckwitz’ Deutung der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Deren Forderungen nach Gleichheit, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung werden auf die Frage des Schutzes und der Pflege der kulturellen Besonderheit reduziert. Die antirassistischen Kämpfe um Bürgerrechte – die auch die Forderung gleicher Partizipationsmöglichkeiten, die Anerkennung der negativen Auswirkungen der Segregation und der sozialen Folgen der Versklavung umfassen – lässt sich nicht mit der Logik des Besonderen erläutern, ohne ihnen den kritischen Allgemeinheitsbezug abzusprechen. Reckwitz zwängt sie regelrecht in die Singularisierungsthese hinein, wenn er die Geschichte der amerikanischen Schwarzen – wie auch die der europäischen Jüdinnen und Juden – als eine „besondere und einmalige Geschichte“ deutet, die durch diese Besonderheit „erst identifikatorische Kraft entfaltet“ (S. 398). Oder wenn er die Bürgerrechtsbewegung im Kontext einer „Renaissance ethnischer Gemeinschaften“ verortet und ihr insofern eine „Schrittmacherfunktion“ attestiert, als sie „eine singuläre Identität nach innen“ sowie „eine politische Vertretung nach außen“ (S. 401) miteinander verkoppele. Es stimmt zwar, dass ‚race‘ in der Bürgerrechtsbewegung zugleich „kulturelles Stigma und Ressource“ (ebd.) ist, jedoch erschöpft sich ihre politische Bedeutung deshalb nicht einfach in der Forderung nach „Respektierung der kulturellen Andersheit“ (ebd.). Das viel umfangreichere Anliegen dieser Bewegung, das sie bis heute in immer neuen Kontexten – etwa in Bezug auf das Strafrecht, die Polizei oder Fragen des alltäglichen Lebens – reformuliert hat, besteht vielmehr darin, die Auswirkungen der negativen Valorisierungsoperationen in allen Sphären der Gesellschaft zu kritisieren und zu bekämpfen.[13] Nicht die Singularität von blackness gegenüber whiteness, sondern das Aufbegehren gegen die politischen, sozialen und kulturellen Privilegien sowie die behauptete Normalität oder sogar supremacy einer weißen Kultur prägen diesen politischen Kampf: nicht um der Anerkennung der Besonderheit willen, sondern um der Kritik eines falschen, rassistisch und neo-kolonial strukturierten Allgemeinen willen.
Mit seiner Beschreibung deutet Reckwitz jedoch auch diesen spezifischen Fall einer politischen Bewegung als Ausdruck der von ihm diagnostizierten Tendenz der Singularisierung und verfehlt gerade deshalb deren Besonderheit. Dieses Paradox erklärt sich vielleicht dadurch, dass Reckwitz insgesamt bestrebt ist, die verschiedensten politischen Bewegungen gerade unter Absehung ihrer Ziele, Beweggründe und negativ kulturalistischen Valorisierungen als Politiken der Differenz, ergo: der Singularisierung, zu begreifen. Insofern sind die nationalistisch-separatistischen Minderheiten, die Sorben oder die Maori allesamt Teil der gleichen „minory rights revolution“ (S. 402), in der alle gleichermaßen Respekt und Teilhabe einfordern.[14] Doch an wen richten sich diese Forderungen und durch wen sollen sie verbürgt werden? Diese Fragen bleiben aufgrund des in den Hintergrund getretenen Allgemeinheitsbezugs in der Singularisierungsgesellschaft weitgehend unbeantwortet. Auch weil Reckwitz doch erstaunlich beharrlich am Konzept der ‚Identität‘ festhält und keinen der theoretischen Impulse aufgreift, die aus der Intersektionalitätsforschung oder der queer theory stammen und die dieses Konzept teilweise stark in Frage stellen oder zumindest die politische Differenzialität und durchmachtete Relationalität von Identitäten betonen – nicht zuletzt um daran festzuhalten, dass es Differenzen gibt, die einen Unterschied machen.[15]
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Letztlich erweckt die Singularisierungsthese den Verdacht, die kulturtheoretische Beschreibung des spätmodernen Wandels des Politischen zum Preis einer Entpolitisierung der mit diesem Wandel verbundenen Konflikte zu erkaufen. Die unterschiedliche kulturelle Valorisierung beschreibt Reckwitz durchaus plastisch, macht jedoch die Widersprüchlichkeit und Konfliktualität von Identitätsprozessen nicht zum Ausgangspunkt. Eine solche Vorgehensweise hätte es erlaubt, die von Reckwitz als krisenhaft beschriebene Logik des Allgemeinen tatsächlich auch als Ausdruck einer politischen Krise zu begreifen, die mehr umfasst als die Krise bestimmter Formen subjektiver Selbstverwirklichung. Wenn diese Krise Reckwitz zufolge aber vor allem die „kulturellen Grundlagen“ (S. 434) der politischen Öffentlichkeit betrifft, dann verschwimmen die Konturen der von ihm diagnostizierten Krise des Allgemeinen. Ebenfalls unklar bleibt, ob ihm zur Bewältigung überhaupt etwas anderes als eine Restituierung des klassisch modernen Verständnisses staatlicher Politik vorschwebt? Dieser Wunsch nach Restituierung übergeht, dass die Frage der Allgemeinheit die politische Öffentlichkeit einerseits konstituiert, sie aber andererseits auch permanent herausfordert, zerteilt und in Parteien und Positionen aufspaltet. Natürlich ist es richtig, dass die dauerhafte „Parzellierung“ der Öffentlichkeit, die partikularistische Abkehr einzelner Communities oder der „partielle Rückzug des Staates“ den Allgemeinheitsbezug zum Verschwinden bringen können (S. 436). Aber das Potenzial zumindest mancher spätmoderner politischer Bewegungen liegt doch gerade darin, dass sie den Bezug auf das Allgemeine wieder zu politisieren vermögen – und zwar nicht, indem sie das Allgemeine provisorisch rekonstituieren (S. 440), sondern indem sie zeigen, dass es etwas anderes als zeitlich befristete Provisorien des Allgemeinen in einer Demokratie gar nicht geben kann. Das politische „doing universality“ wäre aus dieser Perspektive dann weniger als ein Relikt der Moderne zu begreifen, das gegenwärtig durch ein „doing singularity“ (S. 441) abgelöst würde, sondern als Artikulation einer reflektierten politischen Kritik des Allgemeinen und seiner reartikulierbaren Form. Um zu zeigen, welche Kraft politische Versprechen entfalten können und welche Reaktionen sie erzeugen, wenn sie uneingelöst bleiben, hätte sich die kulturtheoretische Beschreibung gesellschaftlicher Valorisierungsprozesse geradezu angeboten. Zudem hätte sich dann auch die soziologisch interessante Frage nach den Konsequenzen erfolgreicher respektive gescheiterter Formen des doing singularity erörtern lassen.[16] Hat Reckwitz also, wie auch Cornelia Koppetsch in ihrem Kommentar kritisiert, die Selbstbeschreibung der spätmodernen Gesellschaft mit ihren Strukturen verwechselt? Oder hat er vielleicht, was noch schwerwiegender wäre, aus der Kritik des Allgemeinen vorschnell auf dessen Krise geschlossen? Trotz der überzeugenden Beschreibungen des modernen Strukturwandels im Bereich der Arbeit und der Lebensformen gilt für das Politische immer noch, was ähnlich schon für die Frage der Individualisierung richtig war: die demokratische Gesellschaft ist keine Gesellschaft der Singularisierung.
Fußnoten
- Claude Lefort Die demokratische Gesellschaft ist keine Gesellschaft von Individuen, Vortrag anlässlich der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken, übers. v. Ariane Cuvelier u. Hans Scheulen, gehalten in Bremen im November 1998.
- Vgl. Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006; ders., Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Frankfurt am Main 2012.
- Politische Konflikte verliefen in der bürgerlichen Moderne, wie die praktische Kritik der Arbeiter- und Frauenbewegung sowie die theoretische Kritik von Marx über Arendt bis zu den aktuellen Diskussionen um das Verhältnis von Bürger- und Menschenrechten zeigen, zwischen der abstrakten Figur des einzelnen Menschen und ihrer Konkretion als Bürger oder Staatsbürger. Zur Diskussion einer stärker hegemonietheoretischen Konzeption des Universalismus im Zeichen einer Kritik des Allgemeinen vgl. u.a. Judith Butler/Ernesto Laclau/Slavoj Zizek, Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London u.a. 2000.
- Wenig erfährt man dabei über die genaue Gestalt der politischen Konfliktlinien zwischen der neuen Mittelklasse der Hyperkultur und der in ihren Milieus und ihrem Anteil an der urbanen Kultur abgewerteten neuen Unterklasse. Worin der politische Konflikt eigentlich liegt, bleibt offen. Dabei ließe sich gerade mit Blick auf urbane Räume aufzeigen, wie sehr diese in den letzten Jahrzehnten immer wieder zum Schauplatz politischer Auseinandersetzungen um das Allgemeine geworden sind. Von der Frage der politischen Teilhabe (Stichwort ‚Stadt für alle‘, ‚Recht auf Stadt‘, new citizenism, municipalismo, solidarity beziehungsweise sanctuary cities) über sehr konkrete, etwa ökologische Fragen (Luftverschmutzung und Lärmbelästigung) bis zu den großen Platzbewegungen der letzten Jahre (von Kairo über Athen, Istanbul und Madrid bis Hongkong und New York) spiegeln diese politischen Initiativen doch selten ein lediglich partikulares oder nur lokales Interesse. Nicht zuletzt die Repräsentationen der Stadt sind doch niemals das Werk von PR-Strategen, die dabei lediglich die „vernakuläre Kulutralisierung der Stadt“ (S. 385) ausbeuten. Vielmehr gehen, wie etwa Henri Lefebvre in seinen Arbeiten betont hat, neben den gelebten und gebauten Strukturen auch die Vorstellungen und Repräsentationen der Stadt aus den um ebendiese Stadt geführten Konflikten hervor.
- Dabei bleibt unklar, was dann der klassisch-moderne Nationalismus beziehungsweise die verschiedenen kommunitären Projekte der Moderne im Unterschied zur liberal-demokratischen Politik darstellten? Reckwitz erkennt zwar im frühen Nationalismus eine „kulturelle Singularisierung auf der Ebene von Kollektiven“ und die darin enthaltene „Doppelstruktur von Universalisierung und Singularisierung“ (S. 406), zieht daraus aber nicht den Schluss, dass genau diese Doppelstruktur sich bis heute als Matrix der politischen Konflikte erhalten hat.
- Vor diesem Hintergrund scheint auch der Stellenwert der Gewalt, den Reckwitz innerhalb des Wandels des Politischen erkennt, fraglich. Die Taten des islamistischen und neonazistischen Terrors sowie die politisch unmotivierter Amokschützen deutet er – durchaus plausibel – als gewaltvolle Gegenreaktionen auf die Hegemonie der Hyperkultur, die aus der Legitimierung des Einzelnen heraus erfolgen (während sie, paradoxerweise, zugleich an der allgemeinen Aufmerksamkeitsökonomie partizipieren). Doch bleibt die Rolle der Gewalt innerhalb der Politik der klassischen Moderne gänzlich ausgeblendet. Damit bleibt unklar, wieso die Politik der Gewalt ausgerechnet ein „Signum der Spätmoderne“ (S. 423) sein soll.
- Für die Beschreibung des politischen Wandels unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Valorisierungen hätte es doch eigentlich näher gelegen, die ständigen Reevaluierungen oder Kontestationen des Allgemeinen zu beschreiben. Diese Unternehmung findet sich bisweilen in einem älteren, 2004 publizierten Text von Reckwitz, in dem er moderne Politik aus kulturtheoretischer Perspektive und hinsichtlich der symbolischen Antagonismen beschreibt. Kulturelle Hegemonien und ihre Rolle im Politischen fasst er darin noch als Versuche, „die Partikularität einer bestimmten Innen-Außen-Differenz und einer sich daraus ergebenden kollektiven Identität als Universalität zu präsentieren: als eine scheinbare Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, die gewissermaßen ohne ein alternatives ‚Außen‘ auskommt“ (Andreas Reckwitz, Die Politik der Moderne aus kulturtheoretischer Perspektive. Vorpolitische Sinnhorizonte des Politischen, symbolische Antagonismen und das Regime der Gouvernementalität, in: Birgit Schwelling (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft, Wiesbaden 2004, S. 33–56, hier S. 44).
- Dass es der Ökologiebewegung nicht allein um eine Verteidigung der Biodiversität geht, die die Einzigartigkeit und Vielheit der Arten allein aufgrund ihrer ‚Bereicherung‘ des Allgemeinen hegt und pflegt, sondern dass es ihr um ein plurales, anderes, eben ‚grünes‘ Verständnis des Allgemeinen geht, ist – bei aller Kritik – das Mindeste, was man ihr bis heute zugestehen sollte. Die kulturtheoretische Betrachtung dieser Bewegung müsste daher miteinbeziehen, dass das Bild der aus dem Weltall betrachteten Erdkugel ein neues politisches Verständnis von Allgemeinheit geschaffen hat, das mehr enthält als die Logik der Anerkennung von Vielheit.
- Eine andere, vom konstitutiven Konflikt oder der Perspektive des Minoritären ausgehende Sichtweise findet sich vor allem in der französischen politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, etwa bei Claude Lefort, Jean-François Lyotard oder Gilles Deleuze. Vgl. diesbezüglich auch Jean-Luc Nancys Verwendung des Begriffs „Handgemenge“ (mêlée) für die Beschreibung der dissensuellen Dimension kultureller Pluralität: Jean-Luc Nancy, Lob der Vermischung. Für Sarajevo, März 1993, in: Lettre International, Nr. 21 (1993), S. 4-7.
- So fragt etwa Stephan Lessenich jüngst – eine eigentlich alte Diskussion aufgreifend –, in welcher Weise heute die sozialen Kosten für den Wohlstand westlicher Gesellschaften durch diese verdrängt und ausgelagert werden: Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016. Auch der in Deutschland viel rezipierte Didier Eribon betont in seiner Diagnose zur aktuellen Verschärfung sozialer Ungleichheit Aspekte wie die Scham und die sozialisatorische Inkorporation kultureller Ungleichwertigkeit, die deren Kritik gerade erschweren. Vgl. Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, übers. v. Tobias Haberkorn, Berlin 2016.
- Gerade im Bereich der Kultur hatte schon die alte Frankfurter Schule zu zeigen versucht, dass sich anhand der uneingelösten Freiheitsversprechen der Kulturindustrie zahlreiche politische Fragen stellen. Die Theorie der Massenkultur expliziert neben der Logik der Ökonomisierung und der damit einhergehenden Homogenisierung der Kulturwaren eben auch eine normative Theorie dessen, was Kultur sein könnte – ohne diese Potentialität jedoch auszubuchstabieren. Trifft diese politische Kritik nicht auch für die Gegenwart noch zu, selbst wenn Kultur heute nicht mehr „alles mit Ähnlichkeit“, sondern mit ‚Besonderheit‘ schlägt (vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1969, S. 128) und gerade die Individualisierung neue kulturelle Imperative und soziale Abhängigkeiten schafft? Vgl. für die Verlängerung des Problems bis ins 19. Jahrhundert und für die Aktualität der Kritik: Juliane Rebentisch/Felix Trautmann, Zerrbilder der Gleichheit. Demokratie und Massenkultur nach Tocqueville, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 14 (2017), 1, S. 99–117.
- Insofern ist race auch nicht einfach als singuläre Identität zu begreifen, die positiv oder negativ ausgedeutet werden kann. Im politischen Kampf gegen Rassismus, der nicht zuletzt ein Kampf für soziale Gerechtigkeit ist, geht es auch um Fragen der Solidarität und der community organization, bei denen es um mehr geht als nur die Herausbildung einer eigenen Identität – aus der geteilten negativen Erfahrung heraus – und mehr als eine so genannte ‚Politik der Differenz‘. Für die diesbezüglich produktive Unterscheidung von ‚thin‘ und ‚thick identities‘ vgl. Tommie Shelby, We Who Are Dark: The Philosophical Foundations of Black Solidarity, Cambridge 2005. Einen Überblick hinsichtlich der Frage eines ‚beyond identity‘ geben Rogers Brubaker/Frederick Cooper, Beyond ‚Identity‘, in: Theory and Society 29 (2000), 1, S. 1–47. Durch die feministische und postkoloniale Theorie wurde die Kritik am Konzept der Identitätspolitik in den letzten dreißig Jahren vielfältig formuliert. Die Breite der Diskussion kann hier natürlich nicht angemessen wiedergegeben werden.
- Das eindrücklichste Beispiel aus jüngerer Zeit ist die Bewegung Black Lives Matter mit ihrer Thematisierung der ungleichwertigen Behandlung von Leben. Die Kritik der Aktivist_innen richtet sich gegen die kulturalistische und affektive Reproduktion und Verfestigung rassistischer Rede- und Handlungsweisen in Alltag und Gesellschaft ebenso wie gegen die Wirksamkeit entsprechender Einstellungen und Praktiken in der Justiz und der Polizei.
- Reckwitz Beschreibung einer Zunahme gruppen- oder sogar personenspezifischer Rechte möchte ich damit nicht widersprechen. Die Logik des Allgemeinen versteht er durchaus als eine, in der sich gesellschaftliche Mehrheitsverhältnisse in Bezug auf die Ansprüche von Minderheiten als blind erwiesen haben. Jedoch erscheint mir die Analyse der Minderheitenforderungen nur sinnvoll im Verhältnis zum grundlegenden Allgemeinheitsbezug und der Logik der Gleichbehandlung. Welche Paradoxien sich daraus ergeben, dass Minderheitenrechte aufgrund ihrer enormen Ausweitung ihre eigentlich stärkende Wirkung für Gerechtigkeitsansprüche zu verlieren drohen, zeigt Pierre Rosanvallon, Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit, Reflexivität, Nähe, übers. v. Thomas Laugstien, Hamburg 2010, v.a. S. 210ff.
- Diesbezüglich wäre es sinnvoll noch eine andere nicht-essenzialistische Form der kulturalisierten Politik zu unterscheiden, die sich unter dem Begriff cultural politics zusammenfassen lässt und die sich durch den Versuch auszeichnet, den Identitätsbezug selbst zu pluralisieren beziehungsweise offen zu halten – oder ihn sogar ganz in Frage stellt, um die in Rassismus, Sexismus oder anderen Formen der Diskriminierung vorausgesetzten Identitäten selbst aufzulösen. Eine solche Politik wendet sich somit auch von institutionalisierten Formen der Politik ab und „macht Politik“ vor allem auch, indem sie „Kultur betreibt“ (vgl. dazu Diedrich Diederichsen, Der Boden der Freundlichkeit. Von der Unmöglichkeit, Politik zu machen, ohne Kultur zu betreiben, in: Die Beute (neue Folge), Band 1, 1998, S. 37–54). Eine ähnliche politische Pointe hätte sich durchaus auch ausgehend von Reckwitz’ eigenem Begriff der „heterogenen“ oder „hybriden Kollaborationen“ (u.a. S. 107) angeboten, doch bezieht er diesen fast ausschließlich auf die Frage der projektbasierten Lebens- und Arbeitsformen. Lediglich einmal am Rande fällt der Begriff mit Bezug auf die Politik der Städte, die Reckwitz durch neue Formen von Bürgerinitiativen und Nachbarschaftsorganisation geprägt sieht (S. 386).
- Dass auch diese Frage nicht ganz neu ist, wird deutlich, wenn man die mit der Auflösung der Ständegesellschaft einhergehenden gesellschaftlichen Distinktionspraktiken seit den Anfängen der Moderne betrachtet. ‚Mehr scheinen wollen als man ist‘, war schon für Tocqueville ein Begehren, das durch und nicht gegen den Gleichheits- oder Allgemeinheitsbezug entstanden ist. Interessant, vor allem in politischer Hinsicht, ist auch die Frage, inwieweit diese Produktion von Differenz, Innovation und Besonderheit notwendig mit der Produktion von Gleichförmigkeit, Mittelmaß und Konformismus einhergeht. Anders als die Exzeptionalität des Aristokraten macht die Distinktion des Bürgers in einer modernen Gesellschaft den beständigen Abgleich mit anderen erforderlich.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Moderne / Postmoderne
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