Stefan Eich | Rezension |

Die Vergesellschaftung des Geldkraftwerks

Rezension zu „Die monetäre Maschine. Eine Kritik der finanziellen Vernunft“ von Aaron Sahr

Aaron Sahr:
Die monetäre Maschine. Eine Kritik der finanziellen Vernunft
Deutschland
München 2022: C.H.Beck
447 S., 28 EUR
ISBN 978-3-406-78232-9

Im langen Jahrzehnt seit der globalen Finanzkrise von 2008 haben sich die Debatten zur Geldtheorie und Geldpolitik tiefgreifend verändert. Wichtige rechtsgeschichtliche Studien brachten ein neues Verständnis des Geldes als Herrschaftsinstrument und verfassungsrechtliches Projekt in Umlauf gebracht.[1] Anthropologen deckten den vermeintlich vormonetären Tauschhandel als optische Täuschung auf.[2] Wirtschaftssoziologen befreiten Geld aus der engen Verflechtung mit den Märkten und entwarfen auf dieser Grundlage ein neues, versiertes Vokabular des Kreditgeldes.[3] Geld erscheint aus all diesen Perspektiven nicht mehr als rein ökonomisches Mittel des effizienten Tausches, sondern als eine kollektive Technologie der gesellschaftlichen Wertschöpfung.

Der politische Alltag hinkt diesem Debattenstand noch stark hinterher, gerade der deutsche Diskurs zu Haushalts- und Geldpolitik scheint von den oben genannten geldtheoretischen Entwicklungen nahezu vollständig abgekoppelt. Die alte Bundesbank, seit den 1970er-Jahren Speerspitze der ordoliberalen Gelddisziplinierung, befindet sich zunehmend auf einem einsamen Sonderweg. Während die Londoner Finanzpresse ein offenes Gespräch über Möglichkeiten monetärer Staatsfinanzierung führt und hochrangige amerikanische Kongressabgeordnete die Notenbanker der Federal Reserve mit Fragen zur Modern Monetary Theory (MMT) löchern, dominieren in Deutschland weiterhin die Unantastbarkeit der Schuldenbremse und Sorgen um den deutschen Sparer die Schlagzeilen und Talkshows. Die Inflation im Zuge der Pandemie dient vielen Kommentatoren zudem als rückversichernde Bestätigung ihrer langjährigen Kritik an der vermeintlich unverantwortlichen Politik des billigen Geldes der Europäischen Zentralbank (EZB).

In all diesen Diskussionen hat die globale Finanzkrise – zweckmäßig reduziert zu einer Moralgeschichte über die Gier von Bankern und die Exzesse des US-amerikanischen Kapitalismus – kaum einen Abdruck hinterlassen. Noch immer liegt der Schatten der späten 1990er-Jahre über den geldpolitischen Debatten der Berliner Republik. Diese Kluft zwischen den tektonischen Verschiebungen in der globalen geldpolitischen Debatte und der unbeirrbaren deutschen Perspektive liefert den produktiven Hintergrund für Aaron Sahrs wichtiges Buch zur Theorie des Geldes.

Die Politik der Geldschöpfung

Gegen die irreführende Auffassung von Geld als rein ökonomischem Tauschmittel entwickelt Sahr eine profunde Analyse der Geldschöpfung als „eine der wichtigsten Machtressourcen im Herzen des modernen Kapitalismus“ (S. 13). Wie Sahr richtigerweise betont, lässt sich die Politik der Geldschöpfung zudem nicht einfach auf distributive Fragen reduzieren. Verteilungskämpfe erfassen eine wichtige Dimension der Geldpolitik. Sie lenken aber gleichzeitig von der profunderen politischen Qualität des Geldes selber ab, ja verdecken diese Politik sogar oft.

Sahr verweist sachkundig auf die komplexen Geldschöpfungsprozesse, durch die das Geld nicht nur erwirtschaftet oder verteilt, sondern von Notenbanken und Banken überhaupt erst geschaffen wird. Ihre genuine gesellschaftliche Bedeutung entfaltet die Geldpolitik demnach auf der Ebene der Geldschöpfung selbst. Wer muss Geld erwirtschaften? Und wer darf Geld schaffen? Sahrs eleganter Beitrag liefert bestechende Antworten auf solche Fragen, indem er eine umfassende Artikulation der Erkenntnisse der Modern Monetary Theory im Gewand der Sozialtheorie präsentiert: soziologisch versierte MMT als Kritik der dominanten finanziellen Vernunft.

Warum ist diese Blickweise dem politischen Alltag so fremd? Warum befassen sich haushaltspolitische Debatten meist nur mit Steuereinnahmen und so gut wie gar nicht mit Fragen der Geldschöpfung? In Sahrs Narrativ resultiert die Ausblendung der Geldschöpfungspolitik aus dem ideologischen Siegeszug des Neoliberalismus, in dessen Folge das Geld entpolitisiert wurde. Die Verbreitung und Akzeptanz dieser Ideologie und Gesellschaftsformation stellt laut Sahr einen „Fehler mit gewaltigen Konsequenzen“ (ebd.) dar, den es nun, da er nicht mehr rückgängig zu machen ist, auf andere Weise zu überwinden gelte. Ein Ziel des Buches ist also klassische Ideologiekritik, die als „Überwindung eines herrschenden Denkens“ (ebd.) angelegt ist. Eine demokratischere Geldpolitik bedarf zunächst der Entmystifizierung des herrschenden Geldverständnisses. Nur so kann der der Bann der „Ideologie des unpolitischen Geldes“ (S. 34) gebrochen werden.

Was seine Diagnosen betrifft, tritt der Autor weitgehend in die Fußstapfen seiner US-amerikanischen Kollegen, die sich als Verfechter der Modern Monetary Theory als Protagonisten einer schlagkräftigen Entmystifizierung positionieren. Laut Stephanie Kelton besteht der wichtigste Schritt für eine neue, auf Vollbeschäftigung zielende Volkswirtschaft in der Entmystifizierung der Geldwirtschaft und vor allem der Geldschöpfung.[4] Sahr artikuliert die ideologiekritischen Argumente und die daraus erwachsenden Gegenvorschläge und Forderungen jedoch in einer neuen Sprache, entwirft eine Reihe innovativer Metaphern und entwickelt ein präzises Begriffsinstrumentarium, das sich bei bereits entwickelten Strängen der Sozialtheorie bedient, diese aber auch kreativ weiterentwickelt.

Vom Werkzeug zur Maschine

Um der Vorstellung des Geldes als eines bloß privaten Mittels des Wirtschaftens zu entkommen, bemüht Sahr eine vielschichtige Analogie von Geld und Maschine. Die neoliberale Theorie des unpolitischen Geldes beschreibt dieses als einfaches Werkzeug für indirekte, vermittelte Tauschvorgänge. Innerhalb dieses Diskurses darf durchaus gefragt werden, ob ein bestimmtes Werkzeug die erwartete Funktion erfüllt. Auch darf gefragt werden, wie viele Werkzeuge gebraucht werden sollten. Und es lässt sich fragen, wie diese Werkzeuge am besten an Akteure und für Problemlösungen verteilt werden sollten.

Doch all diese Fragen setzen unbedingt voraus, dass Geld als individuelles Werkzeug verstanden werden sollte und als solches primär erwirtschaftet werden muss. Sahr schreibt: „Nicht sein Funktionieren, sondern lediglich seine Verteilung kann sinnvoll politisch thematisiert und problematisiert werden, kann als Quelle und Ausdruck von Machtungleichheit und Parteilichkeit moniert und adressiert werden.“ (S. 10) Wie viele Werkzeuge können wir uns leisten? Und wie sollten diese verteilt werden? Das sind Grundfragen des neoliberalen Diskurses. Will man über sie hinausgelangen, sieht man sich schnell mit fundamentalen Fragen der Geldtheorie konfrontiert.

In Aaron Sahrs Metaphorik erscheint die herrschende neoliberale Ideologie des unpolitischen Geldes als veraltetes und fehlerbehaftetes Betriebssystem, das durch Updates alleine nicht mehr zu retten ist, sondern durch ein grundlegend neues Betriebssystem ersetzt werden muss.

Der reduktionistischen neoliberalen Sichtweise stellt Sahr eine Geldtheorie entgegen, die den politischen Prozess der Geldschöpfung ernst nimmt. Die titelgebende „monetäre Maschine“ kann demnach nicht auf eine bloße „Sammlung von Tauschwerkzeugen“ reduziert werden, sondern ist selbst eine komplexe, dynamisch verschaltete „Entität“ (S. 41). Das alternative Verständnis des Geldes als gesellschaftliche Technologie mündet in zwei interessante Bilder: Zum einen deutet die Metapher der monetären Maschine Geld zur komplexen Struktur der öffentlichen Versorgung um. Geld ist hier nicht einfach ein Mittel des effizienten privaten Tausches, sondern wird zum essenziellen Element der öffentlichen Infrastruktur. Diese gelungene Neuformulierung erscheint umso produktiver, wenn man sie ins Licht einer heruntergewirtschafteten deutschen Investitionspolitik setzt, die im Namen der finanziellen Nachhaltigkeit und auf der Basis eines neoliberalen Geldbegriffs enorme Unterinvestitionen zu verantworten hat. Die bröckelnde deutsche Infrastruktur verlangt ein Neudenken der öffentlichen Finanzen, in denen das Geld selbst als öffentliche Infrastruktur verstanden werden kann. Eine direkte Folge von Sahrs alternativem Verständnis des Geldes ist folglich die Umdeutung der Geldpolitik zur Infrastrukturpolitik.

Das zweite bemerkenswerte Bild ergibt sich daraus, dass Sahr verschiedene Geldtheorien und deren implizite geldpolitische Grundüberzeugungen als differente „Betriebssysteme“ beschreibt. Sie regulieren auf je unterschiedliche und teilweise inkompatible Art das „Zusammenwirken von Hard- und Software“ (S. 34) der monetären Maschine. In dieser Metaphorik erscheint die herrschende neoliberale Ideologie des unpolitischen Geldes als veraltetes und fehlerbehaftetes Betriebssystem, das durch Updates alleine nicht mehr zu retten ist, sondern durch ein grundlegend neues Betriebssystem ersetzt werden muss.

Was soll die Kritik der finanziellen Vernunft leisten?

Sahrs „Kritik der finanziellen Vernunft“ ist in vier Teile gegliedert, die den vier Funktionskreisen seiner monetären Maschine entsprechen. Das Buch öffnet mit einer detaillierten Auseinandersetzung mit der herrschenden Ideologie des unpolitischen Geldes auseinander, der derzeitigen Software. Der zweite Teil widmet sich der Logik der Bilanz und dem Begriff der Infrastruktur und schlägt damit eine Brücke zwischen der Ideologie des unpolitischen Geldes und den noch unausgeschöpften Möglichkeiten der monetären Maschine. Das dritte Hauptstück stellt der Ideologie des unpolitischen Geldes eine elegante Beschreibung der tatsächlichen Praxis zeitgenössischer Geldschöpfung entgegen. Der vierte und letzte Teil schließlich diskutiert die politischen Ansprüche an eine neu organisierte Steuerung der Maschine, die sich aus der zuvor geleisteten Diagnose und Kritik ergeben.

Titel und Untertitel von Sahrs Buch stehen in einem engeren Zusammenhang als üblich: Die (Ideologie-)Kritik der finanziellen Vernunft ebnet den Weg für eine bessere Nutzung der monetären Maschine. Doch was ist das genaue Verhältnis zwischen Ideologie und finanzieller Vernunft? Ist die Ideologie des unpolitischen Geldes eine Verzerrung unserer finanziellen Vernunft? Oder ist das Ziel einer Kritik der finanziellen Vernunft, die Ideologie als eine spezifische Art finanzieller Vernunft lesbar zu machen, um diese dann durch eine andere, bessere finanzielle Vernunft ersetzen zu können? Im letzten Kapitel entwickelt Sahr Argumente, die für eine solche bessere finanzielle Vernunft und einen „neuen Pragmatismus“ (S. 355–381) plädieren. Es gelte, den Kategorien des direkten wie indirekten Tausches und der Vorstellung des unpolitischen Geldes zu entkommen und stattdessen „in Bilanzen“ (S. 373) zu denken.

Aber lässt sich Ideologiekritik so ohne Weiteres mit dem Aufspielen eines neuen Betriebssystems vergleichen? Oder, um eine andere Analogie aus dem Buch zu bemühen: Ist Ideologiekritik wirklich nur die Wahl zwischen der blauen und roten Pille der Matrix? Zwischen Mythos und Wahrheit? Wird diese Zuspitzung dem komplexen Zusammenspiel von Wissen und Macht gerecht? Wo bleibt Raum für das konkrete politisch-demokratische Geschehen in dieser durch und durch technisierten Metaphorik, die von Maschinen und Betriebssystemen handelt?

Monetäre Betriebssysteme und neoliberaler Finanzkapitalismus

Die Vorstellung, dass wir schlicht ein anderes geldpolitisches Betriebssystem aufspielen könnten, scheint zunächst in der Tat aus mehreren Gründen fragwürdig. Gibt es denn wirklich keine materiellen oder intellektuellen Verknüpfungen zwischen dem real existierenden Kapitalismus und den verschiedenen Betriebssystemen? Ist die kapitalistische monetäre Maschine vielleicht nur mit bestimmten Anwendungen kompatibel? Ist die Rolle von Zentralbanken, gerade aufgrund ihrer engen Verflechtung mit dem Bankensystem, überhaupt mit annehmbarem Aufwand umzuprogrammieren? Oder brauchen wir eventuell nicht nur ein neues Betriebssystem, sondern die Bauanleitung für eine ganz neue monetäre Maschine? Und schließlich: Kann unser derzeitiges Politik- und Demokratieverständis mit den neuen Anforderungen einer offenen Politik der Geldschöpfung überhaupt umgehen?

Solche Skepsis gegenüber der vermeintlich freien Wahl unseres ideologischen Betriebssystems lässt sich auch im strengeren Sinn als textimmanente Fragen formulieren. Laut Sahr sollen wir uns von der Vorstellung des Geldes als Werkzeug verabschieden, weil das zuverlässige Funktionieren eines Werkzeugs eine technische Frage sei, deren Lösung an Ingenieure delegiert werden müsse. Aber muss für die riesige monetäre Maschine, die den komplexen Anforderungen einer neuen Geldtheorie Rechnung trägt, nicht noch viel mehr technisches Wissen unterstellt und akkumuliert werden? Wiederholt und mit Recht verweist Sahr auf die zentrale infrastrukturelle Rolle der monetären Maschine, doch wie genau kann eine derartige Maschine kollektiv betrieben werden, ohne dass wir erneut in die Abhängigkeiten von Ingenieuren geraten, vor denen uns Sahr am Anfang des Buches nachdrücklich warnt (S. 10)? Nicht ganz ohne Grund wird ja häufig das Bild einer autonom operierenden Maschine bemüht, um den Kapitalismus als ein hochkomplexes System zu beschreiben, das wir zwar geschaffen haben, das sich unserer vernunftgeleiteten Kontrolle aber weitgehend entzieht. Allzu oft stehen wir nicht souverän am Schaltpult der Maschine, sondern stecken fest zwischen den Zahnrädern des Kapitals.[5]

Ihren klarsten Ausdruck findet diese Sorge in Marx’ skeptischer Haltung zu Geldreformen, nicht zuletzt in seinem langwierigen Hadern mit Proudhon. Bei Sahr erscheint Marx hingegen in erster Linie als vermeintlich eindeutiger Verfechter der irreführenden Tauschtheorie, womit er mit der seinerzeit herrschenden Ideologie zumindest assoziiert, wenn nicht identifiziert wird (S. 42, S. 52–56).[6] Dafür lassen sich durchaus triftige textliche Gründe anführen, denn Marx’ Kritik der politischen Ökonomie richtete sich gegen die im neunzehnten Jahrhundert weit verbreitete sozialistische Vorstellung, dass eine bestimmte Veränderung des Geldsystems der kapitalistischen Ausbeutung alleine ein Ende bereiten könne. Man sollte dabei jedoch im Auge behalten, dass Marx’ Position zugleich  immer auch als komplexe Kritik von Geldvorstellungen der orthodoxen politischen Ökonomie gemeint war. Sahr ist sich dieser ironischen Ambivalenz durchaus bewusst, wenn er unter dem Banner der Kritik der finanziellen Vernunft sowohl mit Marx als auch mit Kant kokettiert, beide dann aber als Vertreter genau der orthodoxen Ideologie dargestellt, die es vehement zu kritisieren gilt.

Demokratie und Geldwesen

Die Wahl technischer Metaphern aus der Welt der Computer, Rechenmaschinen und Stromgewinnung hat gleichzeitig den Effekt, die dringend notwendige politische Debatte in eine bestimmte Richtung zu lenken. Was bedeutet eine Veränderung des Betriebssystems aus demokratietheoretischer Perspektive? In der Bildsprache der Betriebssysteme könnte man den fortwährenden Gesprächsbedarf der Demokratie als open source-Phänomen beschreiben. Andere demokratische und verfassungstheoretische Aspekte des Geldes sind auf diese Weise allerdings schwerer zu fassen. Sahr beschreibt Geld zwar auch als eine Art sozialer Beziehung, aber die ansonsten hilfreiche Metaphorik der öffentlichen Infrastrukturmaschine kann hier leicht den Blick auf alternative Analogien zu Sprache, Zeit, und Recht versperren. Geld ist nämlich nicht nur öffentliche Infrastruktur, sondern auch ein demokratisches Medium, das die Gegenwart mit der Zukunft verknüpft. Kann eine allzu technische Vorstellung des Geldes als Maschine die potenzielle Rolle des Geldes als Mittel des demokratischen Sprechens voll erfassen? Geht das Bild der monetären Infrastruktur mit einem zeittheoretischen Verlust einher?

In seiner Diskussion des politischen Potenzials einer neuen Theorie des Geldes im Schlusskapitel verweist Sahr selber auf die politische Komplexität der monetären Maschine. Gleichzeitig sollte die vermeintlich simple Forderung nach einem neuen geldtheoretischen Betriebssystem nicht dazu führen, dass wir die strukturellen Hürden und Beschränkungen eines neuen Betriebssystems übersehen. Wie Sahr selbst anmerkt, ist die staatliche Geldschöpfung in der Eurozone zum Beispiel ausdrücklich auf die supranationale Ebene der EZB verlagert. So lange Haushaltsdebatten im Rahmen der Nationalstaaten geführt werden, Geldpolitik aber auf europäischer Ebene gemacht wird, ist es somit kein Wunder, dass die deutsche Debatte diese selbstverschuldete Unmündigkeit der öffentlichen Finanzen widerspiegelt. In der Eurozone ist das derzeit dominierende monetäre Betriebssystem zudem mehr als nur Software. Durch den Vertrag von Maastricht sitzt die Idee des unpolitischen Geldes in Europa verfassungsrechtlich fest im Sattel. Eine Neuausrichtung der öffentlichen Debatte zur Geldpolitik ist daher zwar essenziell, für einen echten politischen und gesellschaftlichen Wandel aber bei weitem nicht ausreichend.

Geld ist politisch. Die Frage bleibt jedoch, welches Politikverständnis unsere Geldpolitik anleiten soll.

Sahrs geldtheoretische Ideologiekritik ist ein politisch wichtiges Buch, nicht nur weil es verspricht, deutsche Debatten zum öffentlichen Haushalten neu anzuregen, sondern gerade auch, weil es Anstöße für mutigeres Denken auf europäischer und globaler Ebene bereitstellt. Dazu kommt, dass Sahr die angestrebte sozialtheoretische Grundierung der Theorie des Geldes gelingt. Mit viel Elan und Erfindungsreichtum greift er in die reichhaltige Werkzeugkiste der Sozialtheorie und liefert wie nebenbei eine dringend benötigte deutschsprachige Einführung in den Maschinenraum der Modern Monetary Theory. Zudem ist stark davon auszugehen, dass seine Schlussplädoyers gegen die fortschreitende Privatisierung der öffentlichen Geldschöpfung und gegen die flächendeckende Einführung digitaler Privatwährungen in den nächsten Jahren nur noch weiter an Bedeutung gewinnen werden.

Geldpolitik nach dem Neoliberalismus?

Wir müssen der unpolitischen Vorstellung des Geldes entkommen, denn jeder Versuch der Entpolitisierung des Geldes ist eine Illusion. Geld ist politisch. Die Frage bleibt jedoch, welches Politikverständnis unsere Geldpolitik anleiten soll. Sahr bedauert, dass die neoliberale Entpolitisierung des Geldes von „Erfolg“ gekrönt war. Aber ist neoliberales Geld tatsächlich kohärent und erfolgreich entpolitisiert? Oder sollten wir die neoliberale Geldvorstellung nicht viel eher als ,erfolgreiches‘ Entdemokratisierungsprojekt verstehen? Wie dem auch sei, die Aufgabe liegt nun darin mit Kreativität das Demokratiepotenzial des kapitalistischen Geldsystems neu zu verorten – sowohl hinsichtlich der Rolle von Zentralbanken als auch der Konstitution des Bankensystems. Das ist keine einfache Angelegenheit und sie konfrontiert uns mit fundamentalen demokratietheoretischen Fragen: dem Zustand und der Handlungsfähigkeit der zeitgenössischen Demokratie, ihren materiellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, aber vor allem auch ihren Möglichkeiten und Beschränkungen im heutigen Finanzkapitalismus.

Solche offenen Fragen erwachsen ausdrücklich nicht aus Mängeln dieses mitreißenden Buches, sondern spiegeln stattdessen die inhärenten Schwierigkeiten jeder demokratischen Debatte zur Geldpolitik wider. Es handelt sich um unausweichliche Symptome unseres ungelösten geldpolitischen Dilemmas. Wie können wir über eine elementare politische Institution – das Geld – eine demokratische Kontrolle zurückgewinnen, die aber gleichzeitig auf immer komplizierteres technisches Wissen und immer stärker verflochtene komplexe Infrastruktur angewiesen ist? Wie gehen wir mit der Möglichkeit um, dass dieser Bedarf für technisches Wissen leicht dem demokratischen Prozess zuwiderläuft, noch dazu, wenn die handelnden Akteure das demokratische Potenzial ihrer eigenen Aufgabe zurückweisen und sich stattdessen lieber als Ingenieure sehen?

Nur wer den Bauplan unseres derzeitigen Geldsystems versteht, kann damit beginnen, Geld als öffentliche Infrastruktur neu zu gestalten. Und nur wer die irreführende Idee des unpolitischen Geldes kritisch verstanden hat, kann damit beginnen, ein demokratischeres Geldverständnis zu entwickeln. Sahrs beeindruckende Analyse der monetären Maschine und ihrer noch unausgeschöpften Möglichkeiten wird dafür Pflichtlektüre sein.

  1. Christine Desan, Making Money. Coin, Currency, and the Coming of Capitalism, Oxford 2014.
  2. Keith Hart / Horacio Ortiz, The Anthropology of Money and Finance, in: Annual Review of Anthropology 43, (2014), 1, S. 465–82; David Graeber, Debt. The First 5,000 Years, New York 2011, insbes. S. 21–41.
  3. Geoffrey Ingham, The Nature of Money, Cambridge 2004; Nina Bandelj / Frederick F. Wherry / Viviana A. Zelizer (Hg.), Money Talks. Explaining How Money Really Works, Princeton, NJ 2017.
  4. Stephanie Kelton, The Deficit Myth. Modern Monetary Theory and the Birth of the People’s Economy, New York 2020.
  5. In einem neuen, durchaus als komplementär zu Sahr zu verstehenden Buch illustriert Joscha Wullweber seine Analyse der Zentralbanken mit ähnlicher Metaphorik als ein Hinabsteigen „in den Maschinenraum“ des zeitgenössischen Kapitalismus. Vgl. Joscha Wullweber, Zentralbankkapitalismus. Transformationen des globalen Finanzsystems in Krisenzeiten, Berlin 2021.
  6. Wie Sahr in einer Fußnote scharf formuliert: „In der Geldtheorie ist Marx Teil des Problems, nicht der Lösung.“ (S. 387)

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Samir Sellami.

Kategorien: Geld / Finanzen Gesellschaft Politische Ökonomie Wirtschaft

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Stefan Eich

Dr. Stefan Eich ist Assistant Professor für Politikwissenschaften an der Georgetown University in Washington, DC, wo er zu politischer Theorie und politischer Ideengeschichte forscht und lehrt. Sein Buch „The Currency of Politics: The Political Theory of Money from Aristotle to Keynes“ erscheint im Mai 2022 bei der Princeton University Press.

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