Nicole Burzan | Rezension | 25.03.2025
Ein Ökonom auf Zeitreise
Rezension zu „Visionen der Ungleichheit. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart“ von Branko Milanović

[1]Branko Milanović hat ein interessantes und kenntnisreiches Buch dazu geschrieben, wie sich das Denken über Einkommensungleichheiten in den letzten 200 Jahren im Werk einschlägiger Ökonomen entwickelt hat, inwiefern Vorstellungen von Ungleichheit somit konkret auch historisch bedingt sind. Er befasst sich mit den Ansätzen von François Quesnay, Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx – also Theoretikern, für die Ungleichheit durch Klassen strukturiert ist – sowie mit den Theorien von Vilfredo Pareto und Simon Kuznets. Darüber hinaus beleuchtet er Ansätze aus der Zeit von den 1960er- bis zu den 1990er-Jahren und schließt mit einigen Überlegungen zur Gegenwart. Dabei vermeidet Milanović es konsequent, Wissenschafts- als Fortschrittsgeschichte zu erzählen. Im Gegenteil: Auch aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen als junger Wissenschaftler in den 1970er-Jahren sieht er die Zeit des Kalten Kriegs als Phase, in der die Wirtschaftswissenschaften Ungleichheit verstärkt marginalisierten und es nicht mehr gelang, ein stimmiges Bild eines Narrativs, einer Theorie und empirischer Unterfütterung zusammenzubringen. Erst mit der Jahrtausendwende und wieder zunehmenden Ungleichheiten sollte sich das erneut ändern.
Die einzelnen Ansätze werden jeweils mit einem Fokus auf die Entwicklung von Einkommensungleichheiten vorgestellt und historisch kontextualisiert. Dabei reflektiert Milanović immer wieder, welche Datenbasis der jeweilige Theoretiker selbst zugrunde legte und was wir heute über die Verhältnisse wissen, die zur betrachteten Zeit in den jeweiligen Ländern herrschten.
Während Quesnay im 18. Jahrhundert noch ein recht statisches Bild der Klassen- und Einkommensstruktur zeichnete, sah Smith vor dem Hintergrund der Wirtschaftsentwicklung etwa in England höhere Löhne und niedrige Zinsen als Merkmale einer sich entwickelnden Gesellschaft an; implizit ging er zumindest von der Möglichkeit abnehmender Einkommensungleichheiten aus. Milanović führt weiterhin aus, dass Ricardo einige Jahrzehnte später die Einkommensverteilung erstmals systematisch mit dem Wirtschaftswachstum verknüpft hat. Diesem zufolge konnte die Einkommensungleichheit auch mit einem von Kapitalisten vorangetriebenen Wirtschaftswachstum sinken, sofern (unter bestimmten Umständen) die Einkommen der Grundeigentümer abnahmen. Im Kapitel zu Marx betont Milanović, dass das Negativszenario einer zunehmenden Kapitalakkumulation bei gleichzeitiger Verelendung der Arbeiterschaft nur eine von mehreren Entwicklungsvarianten gewesen sei, die Marx aufgezeigt hätte. In der politischen Deutung und Instrumentalisierung von Marx‘ Ansatz sei das jedoch zumeist vernachlässigt worden. Mit Pareto beginnt eine Phase der Disziplingeschichte, in der die Perspektive stärker zur interpersonalen Ungleichheit zwischen Individuen im Vergleich zu der zwischen Klassen wechselte. Auch wenn sich Paretos Thesen zu stabilen Einkommensverteilungen nicht bestätigten, schärfte er den Blick für Verteilungen jenseits von Klassengrenzen. Kuznets ging Mitte des 20. Jahrhunderts von einer kurvenförmigen Entwicklung aus, bei der mit steigendem Nationaleinkommen die Einkommensungleichheit (wie im 19. Jahrhundert) erst anstieg, ab einem bestimmten Punkt aber auch wieder abnahm. Spätestens mit zunehmenden Ungleichheiten seit den 1980er-Jahren schien Kuznets widerlegt, allerdings sieht Milanović Hinweise für die Annahme, dass es statt einer Kurve auch aufeinanderfolgende Wellen geben könnte.
Das anschließende Kapitel beinhaltet eine geradezu vernichtende Kritik an ökonomischen Analysen von Einkommensungleichheiten in den 1960er- bis 1990er-Jahren. Für das – sowohl für sozialistische als auch kapitalistische Gesellschaften feststellbare – Schattendasein des Themas werden unter anderem Ideologien im Kalten Krieg, aber in westlichen Ländern auch zum Beispiel Forschungsfinanzierungen durch Reiche verantwortlich gemacht. Mit wenigen Ausnahmen handelt es sich laut Milanović um „unfruchtbares Gebiet“ (S. 307), da strukturelle (Macht-)Faktoren, in die Ungleichheiten eingebettet sind – sprich: eine ‚Vision von Ungleichheit‘ – kaum eine Rolle spielten.
Das Nachwort, das recht knapp die Entwicklungen der letzten ca. 30 Jahre skizziert,[2] schließt wiederum etwas optimistischer und diagnostiziert eine wachsende wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Ungleichheit – was nicht zuletzt deren erneuter Zunahme geschuldet ist. Als Beispiele für diese positive wissenschaftliche Entwicklung werden die Arbeiten von Piketty, die bessere Zugänglichkeit und Vergleichbarkeit von (historischen) Daten sowie Forschung zu globaler Ungleichheit – die Milanović auch selbst betrieben hat – genannt. Das Thema Ungleichheit wird, so die zuversichtliche Einschätzung, vorerst relevant bleiben. Von historischen Kontextualisierungen kann man dabei nur profitieren.
Trotz der Fülle von interessanten Inhalten habe ich mich ein wenig durch das Buch kämpfen müssen. Das liegt aus meiner Sicht sowohl am Schreibstil des Autors als auch an meiner Erwartungshaltung als soziologische Leserin. Zunächst zum Schreibstil: Die Kapitel (1 bis 6) haben zwar eine relativ ähnliche Struktur (einleitende Passagen, unterschiedlich ausführlich zur Person, die zeitgenössischen Ungleichheitsverhältnisse aus heutiger Sicht, Kernpunkte des Ansatzes zu Einkommensungleichheiten) und stellenweise gibt es klare Detailgliederungen, wenn zum Beispiel drei Aspekte genannt und dann erläutert werden. Aber oftmals wird die Reihenfolge der Kapitelelemente durchbrochen, gibt es hier einen punktuellen, teils auch vorgreifenden Vergleich mit anderen Autoren oder historischen Zeiten, dort einen Verweis auf Daten, den Kontext etc. Dabei passen die Inhalte und die (Unter-)Titel nicht immer stringent zusammen. Stellenweise gewinnt man den Eindruck, es wurden Notizen zu einem interessanten Punkt zusammengefügt, wodurch teilweise lose Fäden entstehen. So sei es, schreibt der Autor, bemerkenswert, dass Smith die stärker ungleiche Wohlstandverteilung in Frankreich im Vergleich zu Nordamerika hervorhebt (S. 96), der Abschnitt endet dann aber ohne weitere Einordnung dieser Aussage. Weiterhin erklärt Milanović vorab, sein Vorgehen bestehe unter anderem darin, die Ansätze aus der Sicht des jeweiligen Autors darzustellen. Gleichzeitig geht es ja gerade um eine Reflexion der historischen Einbettung der Ansätze. Die beiden Prinzipien kommen sich gelegentlich ins Gehege und werden nicht zum Beispiel durch Abschnitte getrennt. Möglicherweise hätte eine Zuspitzung der jeweiligen ‚Vision‘ zum Ende jedes Kapitels geholfen, den im Grundsatz erkennbaren roten Faden und die Vergleichslinien auch im Detail noch besser im Blick zu behalten. Der von Milanović gewählte Stil erfordert eine recht hohe Lesekonzentration.
Zudem bleiben interessante Fragen an die heutige Ungleichheitsforschung, die sich aus der Argumentation ergeben, implizit. Zu ihnen zählt die Frage, ob überhaupt und in welcher Form (zum Beispiel in Klassen, Schichten oder intersektionale Gruppierungen) man Einkommensbezieher*innen und ihre Haushalte zusammenfassen sollte, um Vergleiche zu ermöglichen und Erklärungspotenziale abzuschätzen.
Ein weiterer Grund dafür, dass die Lektüre des Buches kein Spaziergang war, hat aber sicherlich mit meinen Erwartungen als soziologische Leserin zu tun, die – auch wenn sie das Buch eines Ökonomen liest – eine disziplinär geprägte Perspektive auf den Begriff ‚Ungleichheit‘ hat So drängt sich mir stets die Frage auf, welche Rolle Machtfragen im Kontext von Einkommensungleichheiten generell spielen. Wenn Konflikte zum Beispiel zwischen Klassen angesprochen werden: Handelt es sich da erst einmal um Interessengegensätze oder wie sieht der Konflikt konkret aus, welche Strategien setzen die Akteursgruppen in welchem strukturellen Kontext ein, mit welchen Folgen? Und ist eigentlich immer das Einkommen beziehungsweise die Einkommensverteilung das primäre Ungleichheitsmerkmal?
Teilweise stellt Milanović diese Punkte auch selbst als Desiderat heraus, etwa wenn er kritisiert, dass eine Studie von Alan Blinder aus dem Jahr 1975 Machtstrukturen als wesentliches Ungleichheitsmerkmal außer Acht gelassen hätte (S. 317), oder wenn er bemängelt, dass der Forschung zu Lohnungleichheiten das Verständnis für ihr eigentliches Ziel fehle: die Determinanten der Klassenstruktur und ihre Auswirkungen auf Politik, Verhalten, Wertvorstellungen sowie ihre intergenerationale Übertragung herauszuarbeiten (S. 341 f.).
Was wäre herausgekommen, wenn eine Soziologin oder ein Soziologe ein Buch über Ungleichheitsvisionen im gleichen Zeitrahmen geschrieben hätte? Gerade für die 1960er- bis 1990er-Jahre könnte die Diagnose anders ausfallen. Zwar gibt es rückblickend auch in der Ungleichheitssoziologie Kritik an der teilweisen Vernachlässigung von Herrschaft. Doch gehen beispielsweise die Arbeiten von Pierre Bourdieu, Erik O. Wright oder zu geschlechtsspezifischen Ungleichheiten über die Untersuchung von Einkommen als Ungleichheitsmerkmal hinaus und sind auch für aktuelle Forschungen weiterhin relevant. Das sind natürlich Anschlussfragen, deren Beantwortung man nicht als Erwartung an Milanović richten kann. So wie ich ihn verstehe, ist er selbst allerdings durchaus offen für fruchtbare Erkenntnisse aus interdisziplinären Perspektiven.
Fazit: Das Buch bietet einen empfehlenswerten Einblick in historisch informierte und ökonomisches Denken erhellende Perspektiven auf (Einkommens-)Ungleichheiten. Der Lektüre sollte man sich aber vielleicht eher am Schreibtisch als auf der Couch widmen
Fußnoten
- Zeitliche Freiräume für das Verfassen dieser Rezension hat die Fritz Thyssen Stiftung mit dem Programm ‚Lesezeit‘ gefördert.
- Der englische Untertitel „From the French Revolution to the End of the Cold War“ weckt weniger als der deutsche Untertitel die Erwartung, die Geschichte würde bis zur jüngsten Gegenwart erzählt.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Geschichte Gesellschaft Kapitalismus / Postkapitalismus Soziale Ungleichheit Wirtschaft
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