Mechthild Bereswill | Rezension | 26.11.2024
Eine komplexe Korrelation
Rezension zu „Einsamkeit und Ressentiment“ von Jens Kersten, Claudia Neu und Berthold Vogel
Wie widerstandsfähig sind Demokratien unter dem zunehmenden Druck autoritärer, antidemokratischer Kräfte? Was schwächt ihre Widerstandsfähigkeit? Was hingegen stärkt demokratische Zusammenhänge und Prozesse und was trägt dazu bei, dass Menschen demokratiefähig werden und es auch in unsicheren Situationen bleiben? Fragen wie diese verweisen auf international notwendige wissenschaftliche wie gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen, die durch Demokratiefeindlichkeit und Ressentiments gegenüber politischen Eliten wie gesellschaftlichen Minderheiten geprägt sind.
Der Rechtswissenschaftler Jens Kersten und die Soziolog:innen Claudia Neu und Berthold Vogel untersuchen in ihrer Monografie Einsamkeit und Ressentiment die vielfach geteilte Sorge, die demokratische Gesellschaftsordnung sei grundsätzlich bedroht, für die deutsche Gesellschaft. Unter Bezugnahme auf aktuelle empirische Studien sowie klassische theoretische Ansätze aus Soziologie, Philosophie, Politik- und Rechtswissenschaften gehen sie dem möglichen Zusammenhang zwischen zwei starken Gefühlen nach, „die unsere Gesellschaft beherrschen“ (S. 7): (1) Einsamkeit, beschrieben als „das subjektive Gefühl eines Mangels an sozialen Beziehungen“ (S. 16) und (2) Ressentiment, „ein Gefühl der Ohnmacht, das über eine soziale Polarisierung die gesellschaftliche Spaltung vertieft“ (S. 16). Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Gefühlen wird zu Beginn des einleitenden Kapitels I (S. 7 ff.) pointiert befragt: „Kann sich Einsamkeit in Ressentiments niederschlagen? Machen Ressentiments einsam? Und welche Folgen hat dies für die Bürgerinnen und Bürger, für die Gesellschaft und für die Demokratie in der Bundesrepublik?“ (S. 7).
Die Beantwortung dieser Fragen falle, so betonen Kersten, Neu und Vogel bereits in ihrer Einleitung, nicht eindeutig aus. Ein unmittelbarer, kausaler Zusammenhang zwischen dem Gefühl, einsam zu sein, und feindseligen, mit Groll erfüllten Vorbehalten gegenüber anderen Menschen oder sozialen und politischen Zusammenhängen, existiere nicht. Weder entwickelten alle sich einsam fühlenden Menschen Ressentiments, noch führten Ressentiments zwangsläufig zu Einsamkeit. Ganz im Gegenteil seien geteilte Ressentiments wiederholt auch ausschlaggebend für gemeinsame Proteste, beispielsweise im Zusammenhang der Corona-Pandemie oder für rechtspopulistische Konstellationen von Vergemeinschaftung. Gleichwohl untersuchen die Autor:innen das Verhältnis der beiden Gefühlszustände als eine komplexe Korrelation. Im Fokus ihrer Analysen steht die Wechselbeziehung zwischen individuellen, sozialen und politischen Dynamiken, „die sich desaströs auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Ordnung auswirken kann“ (S. 8). Die Einschätzung, dass Einsamkeit und Ressentiment sich wechselseitig beeinflussen, verstärken und auf diese Weise demokratische Verhältnisse zerstören können, wird in den folgenden Kapiteln des Buches anhand einer Vielzahl von Befunden empirisch differenziert und grundlagentheoretisch diskutiert. Auf diese Weise explorieren die Verfasser:innen mögliche Zusammenhänge zwischen Einsamkeit und Ressentiment, ohne deren Komplexität auf kausale Zusammenhänge zu reduzieren. Ziel dieser Erkundungen ist die „Konturierung eines Konzeptes“ (S. 16), das Einsamkeit und Ressentiment als „undemokratische Emotionen“ zu erfassen vermag. Mit dieser Formulierung in Anlehnung an Eva Illouz unterstreichen die Autor:innen die Bedeutung von Emotionen für politische Verhältnisse. Für ihre eigene Analyse wählen sie in Abgrenzung von Illouz‘ vier Dimensionen von „Gefühlsstrukturen“ (S. 25) einen „dreidimensionalen Ansatz […], der Emotionen, Strukturen und Werte in ihrer spannungsreichen Wechselwirkung analysiert und reflektiert“ (S. 16). Dabei greifen sie im weiteren Verlauf des Buches immer wieder auch auf eigene Forschungen sowie gemeinsame Vorarbeiten und Publikationen zur Daseinsvorsorge, zu gleichwertigen Lebensverhältnissen und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt zurück. Zudem ist die in dieser Monografie geleistete empirische und theoretische Differenzierung des untersuchten Zusammenhangs auch mit dem Anliegen verbunden, konkrete politische Gegenmaßnahmen auf antidemokratische Ressentiments zu formulieren.
Einsamkeit und Ressentiment beginnt mit einer eingängig verfassten Einleitung, die zugleich mit voraussetzungsvollen theoretischen Argumenten und zahlreichen Literaturverweisen aufwartet. Darüber hinaus umfasst das Buch sieben weitere Kapitel, in denen der Bogen von der Einordnung des eigenen Zugangs (Kapitel II, S. 19 ff.) über die empirische und theoretische Fundierung der untersuchten Phänomene und deren Wechselwirkung (Kapitel III bis V, S. 27 ff.) bis zur Bedeutung des sozialen Raums (Kapitel VI, S. 105 ff.) und schließlich einem konkreten Stufenmodell der demokratischen Einhegung zerstörerischer Dynamiken (Kapitel VII, S. 127 ff.) gespannt wird. In einem knappen Schlusswort (Kapitel VIII, S. 163) verdichten die Autor:innen die Ergebnisse ihrer Untersuchungen in Form einer weiteren Zuspitzung und Zeitdiagnose.
Im zweiten Kapitel diagnostizieren die Autor:innen für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften einen psychological turn (S. 19) und stellen fest, dass gegenwärtige Analysen seit gut fünfzehn Jahren „überwiegend auf psychologische Begriffe, Konzepte und Prinzipien“ (ebd.) zurückgreifen, um gesellschaftliche Entwicklungen zu reflektieren. Vor dem Hintergrund dieser recht pauschal formulierten Feststellung werden im Anschluss verschiedene Theorie- und Forschungslinien zum Verhältnis von Einsamkeit und Ressentiment nachgezeichnet. Diese dichte und zugleich skizzenhafte Zusammenschau umfasst zahlreiche Bezüge zu Hannah Arendts Ausführungen zur „Verlassenheit der Menschen“ (S. 22), Hinweise auf Die einsame Masse von Reuel Denney, Nathan Glazer und David Riesman,[1] streift Überlegungen von Friedrich Nietzsche und Max Scheler sowie Theodor W. Adornos „Kritik des Antisemitismus“ (S. 23) und enthält Verweise auf die Arbeiten von Martha Nussbaum und Eva Illouz. Vor dem Hintergrund dieser Vielzahl an theoretischen Zugängen und Anregungen schließt das Kapitel mit der Erläuterung des eigenen Ansatzes zur „Beschreibung der Bedingungen und Wirkungen undemokratischer Gefühle“ (S. 25): „Mit einem dreidimensionalen Konzept aus Emotionen, Strukturen und Werten sollen die Korrelation von Einsamkeit und Ressentiment als undemokratische Gefühle und ihre Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Ordnung diskutiert und bewertet werden.“ (ebd.) Dabei werden Emotionen als „individuelle, soziale und kollektive Gefühle“ (ebd.) bestimmt. Als Strukturen, auf die Menschen reagieren und die deren Gefühle zugleich prägen, werden Familie, Infrastrukturen sowie „Politik-, Sozial- und Wirtschaftsstrukturen“ (S. 26) genannt. Werte, die ebenfalls durch Emotionen zum Ausdruck kommen, assoziieren die Autor:innen mit „Freiheit, Gleichheit, Individualismus und Personalität, Solidarität und Demokratie“ (ebd.). Diese Aufzählung von Werten verdeutlicht zugleich die normativ-wertegebundene Perspektive der Autor:innen auf eine liberale bürgerliche Demokratie mit starken politischen Institutionen und einem durch soziale Bindungen gestärkten Gemeinwesen, die sich in den folgenden Kapiteln weiter entfaltet.
Das dritte Kapitel ist eine vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Phänomen Einsamkeit. Reflektiert werden zunächst verschiedene Ausprägungen des subjektiven Gefühls sowie das Verhältnis von Einsamkeit und sozialer Isolation. Im Anschluss daran werden aktuelle empirische Befunde zu Deutschland, auch im Vergleich mit Daten aus Europa, vorgestellt, die unterschiedlichen quantitativen Untersuchungen (SOEP, die aktuelle Mitte-Studie, Allensbach, Depressionsbarometer, eigene Studie zur Einsamkeit von Jugendlichen von Claudia Neu und Kolleg:innen) entstammen. Schließlich erfolgt ein inhaltlicher und zeitlicher Sprung zur in den USA des 19. Jahrhunderts verankerten These von Alexis de Toqueville, der zufolge Demokratie die Menschen grundsätzlich einsam mache (S. 42). Es folgen Ausführungen zu Michel Montaigne, „der Einsamkeit eine wichtige freiheitssichernde Funktion in der demokratischen Gesellschaft“ (S. 46) zuschreibt. Nach weiteren theoretischen Bezügen unter anderem zu Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant und Helmut Schelsky fragen die Autor:innen, ob und in welchen Konstellationen die notwendige Freiheit der Gesellschaft den Rücken zuzukehren, „in die Verachtung von Pluralismus und Demokratie umschlagen“ kann (S. 50). Mit dieser Grundsatzfrage wird der Bogen zurück zu aktuellen empirischen Befunden geschlagen, die solche „ressentimentalen Kipppunkte“ (ebd.) belegen. Die referierten Studien zeigen, dass sich einsam fühlende Menschen weniger Vertrauen in staatliche Institutionen haben und sich verglichen mit Menschen, die sich nicht einsam fühlen, als politisch weniger selbstwirksam erleben. Zugleich wird betont, dass das empirische Bild unvollständig wäre, wenn nicht Befunde zu Diskriminierungserfahrungen einbezogen würden. So verdeutlichen Ergebnisse der „Mitte-Studie“ (S. 55), dass Menschen, die sich diskriminiert fühlen, tendenziell auch stärker dazu neigen, andere Menschen oder Gruppen abzuwerten. Daraus schlussfolgern die Autor:innen, dass die wahrgenommene eigene Vulnerabilität damit einhergeht, „das eigene Selbst durch die Abwertung anderer Menschen zu stabilisieren und aufzuwerten“ (ebd.).
Das vierte Kapitel geht den Ausprägungen des Ressentiments nach. Auch hier holen die Autor:innen theoretisch weit aus, wenn sie aktuelle theoretische Ansätze und Klassiker heranziehen, um dem destruktiven Gefühl und dem daraus resultierenden Zustand „von sozialer und politischer Ohnmacht“ (S. 59) auf die Spur zu kommen. Sie greifen zwei zentrale „konzeptionelle Weichenstellungen“ der Ressentimentforschung auf und reflektieren kritisch: „Die erste besteht darin, dass das Ressentiment zu einem existenzialistischen individuellen, sozialen und kollektiven Gefühl stilisiert wird.“ (S. 61) Die zweite Weichenstellung sehen die Autor:innen in der Behauptung eines „ontologischen Typus“ – dem „Ressentimentmenschen“ (ebd.). Beide Setzungen würden auch die gegenwärtigen wissenschaftlichen und politischen Diskurse noch dominieren. Dabei lohne sich eine Auseinandersetzung trotz aller Kritik, insbesondere im Hinblick auf die Frage und das Anliegen „Ressentiments zunächst soziologisch zu verstehen und sodann demokratisch auf sie zu reagieren“ (S. 69). Hierzu werden im Folgenden auch aktuelle soziologische Zeitdiagnosen zur Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft herangezogen. Eine entscheidende Einsicht am Ende dieses Kapitels lautet, die Politik würde „eine vollkommen destruktive Wendung nehmen […], wenn sie auf Ressentiments mit Gegenressentiments reagiert“ (S. 86).
Kapitel V (S. 87 ff.) analysiert die Korrelation der beiden titelgebenden Gefühle entlang der drei gewählten Untersuchungsdimensionen. Für die „emotionale Korrelation“ (S. 88) wird festgestellt, dass „vereinsamte, ressentimentgeladene Menschen“ (S. 89) Situationen meiden, in denen Konflikte ausgetragen werden, sie suchen eher homogene soziale Situationen auf. Zugleich könne sich unter strukturellen Bedingungen von sozialer Isolation und Polarisierung ein „hohes emotionales Eskalationspotential“ (S. 90) entwickeln. Für die „Strukturelle Korrelation“ (S. 91) sei Vertrauensverlust in gesellschaftliche Institutionen entscheidend. Auf den zuvor entwickelten Überlegungen zum gesellschaftlichen Kohäsions- und Vertrauensverlust aufbauend wird im dritten Abschnitt die „Funktionale Korrelation“ (S. 99) von Einsamkeit und Ressentiment reflektiert. Mit Bezug zu einer systemtheoretischen Perspektive auf Gesellschaft wird die Funktionalität von Konflikten und Kompromissen für den Zusammenhalt moderner Gesellschaften hervorgehoben. Damit verbunden sei die notwendige Erfahrung einer Rollenvielfalt, deren Minimierung durch soziale Isolation zu einer „dynamischen Konfliktkaskade“ (S. 102) führe, deren Anstieg schließlich eine rigide Unerbittlichkeit und Kompromisslosigkeit zur Folge habe. Für die Autor:innen kann diese dysfunktionale Dynamik durchbrochen werden, indem Menschen, die vereinsamt leben und ressentimentgeladen reagieren, in „unterschiedlichen Rollen und unterschiedlichen Lebensbereichen“ (S. 103) angesprochen würden. Auf diese Weise sammelten sie Erfahrungen mit der Bewältigung von Konflikten, auch mit Hilfe von Institutionen. So könne dem gesellschaftlichen Integrationsverlust konkret begegnet werden.
An diese, allerdings recht allgemein bleibenden Überlegungen zur Bedeutung von konfligierenden Rollenwechseln, die mit der „Wirkung wechselnder Konfliktfronten“ (S. 104) und zugleich mit der „konfliktdämpfenden Funktion von Institutionen“ (S.104) verbunden seien, schließt Kapitel VI (S. 105 ff.) zum sozialen Raum an. Der Begriff „Raum“ wird überraschenderweise begrifflich-konzeptionell nicht weiter von „Ort“ abgegrenzt, die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel beziehen sich auf „Orte“. Dabei werden „Orte der Einsamkeit“ (S. 106) und „Orte des Ressentiments“ (S. 113) von sozialen Orten (S. 123) unterschieden. Untersucht wird zunächst die Verteilung von Einsamkeit im Raum vor dem Hintergrund von Strukturschwäche und demografischem Wandel, aber auch im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen einer fehlenden öffentlichen Infrastruktur und der Frage, ob und an welchen öffentlichen Orten Menschen sich wohlfühlen. Anschließend wird der Zusammenhang zwischen einem extremistischen Weltbild und hermetischen Raumvorstellungen und -praktiken reflektiert. Demgegenüber wird das Konzept „Soziale Orte“ (S. 122) als ein Ansatzpunkt für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts gesehen. Soziale Orte, als Gelegenheitsstrukturen für „Begegnung in Halbdistanz“ (S. 124) und „Räume der Zugehörigkeit“ (ebd.), sind öffentliche Räume, die ganz besonders mit Bezug zu den Menschen zu gestalten sind, „die sich bereits aus dem öffentlichen Geschehen enttäuscht und verbittert zurückgezogen haben“ (S. 125). Dazu zählen auch Ansätze einer niedrigschwellig konzipierten „Neuausrichtung von Bürgerbeteiligung“ (ebd.).
Der Frage, „wie demokratische Politik auf diese Akkumulation destruktiver Gefühle konstruktiv reagieren kann“ (S. 127), widmet sich Kapitel VII (S. 127 ff.). Die Autor:innen schlagen in ihrer Antwort ein vierstufiges Konzept mit folgender Programmatik vor: Zunächst müsse das öffentliche Bewusstsein für die gesellschaftlichen Ursachen und Folgen von Einsamkeit und Ressentiment geweckt werden. Auf der zweiten Stufe wäre „das soziale und demokratische Vertrauen […] durch eine konsequente Antidiskriminierungs- und Infrastrukturpolitik“ (S. 131) wiederzugewinnen. In einem dritten Schritt müsse Politik auf die Ambivalenz von Einsamkeit hinweisen: zwischen dem Recht auf Einsamkeit und einer Stärkung der Widerstandskräfte gegen Vereinsamung. Zudem habe Politik viertens die verfassungsrechtliche Pflicht, die Demokratie zu verteidigen. Alle vier Stufen werden in dem Kapitel differenziert ausbuchstabiert. Im letzten Abschnitt des Kapitels mit der Überschrift Ressentiment: Dialog und Konflikt (S. 147) plädieren die Autor:innen für den Einsatz der gesamten Bandbreite verfassungsrechtlich legitimierter Strategien, um einer „antidemokratischen Radikalisierung von Ressentiments durch (national-)populistische Politikerinnen und Politiker sowie (rechts-)extremistische Parteien klar entgegenzutreten“ (ebd.). Hierfür wird zwischen integrativer, streitbarer und wehrhafter Demokratie unterschieden und anschließend die verschiedenen Möglichkeiten der politischen Auseinandersetzung mit antidemokratischen Entwicklungen vorgestellt. Die Bandbreite denkbarer Maßnahmen reicht entsprechend von dialogisch-argumentativen Strategien (integrativ) über die verfassungsrechtlich abgesicherte Sanktionierung der freien Rede beispielsweise im Parlament im Falle verfassungsfeindlicher Äußerungen (streitbar) bis hin zu Parteiverboten und dienstrechtlichen Mitteln (wehrhaft). Für die letzte Konstellation rücken sowohl vergangene wie aktuelle verfassungsrechtliche Fragestellungen und Instrumente in den Blick. Dabei wird die ambivalente Rolle des Verfassungsschutzes ebenso analysiert wie die historisch unter anderem durch den ‚Radikalenerlass‘ in der Bundesrepublik Deutschland begründete „demokratische Ambivalenz“ (S. 162) von personalpolitischen Maßnahmen zur Entlassung von Beamt:innen aufgrund fehlender Verfassungstreue.
Das mit knapp sieben Seiten sehr kurze Schlusskapitel (VIII, S. 163 ff.) gibt einen Ausblick auf das komplizierte Verhältnis von Einsamkeit und Ressentiment. Die Autor:innen schlagen vor, dieses Verhältnis „neu zu denken – in dreifacher Hinsicht“ (S. 163): erstens hinsichtlich der Bedeutung von Verwundbarkeit „in Zeiten einer Polykrise“ (ebd.). Hinzu kommt zweitens die Bedeutung, die „soziale und familiäre Beziehungen“ (S. 164) sowie drittens die „Arbeits- und Berufswelt“ (S. 167) für die Herausbildung, aber auch die Vermeidung von Einsamkeit in der Gegenwartsgesellschaft haben.
Bezüglich des Wandels von Familie deutet sich dabei unterschwellig ein eigenes Ressentiment der Autor:innen gegenüber aktuellen Forschungsentwicklungen an, wenn es heißt:
„Die bürgerliche Kernfamilie scheint nicht (mehr) den Erwartungen vieler Sozialforscherinnen und Sozialforscher zu entsprechen. Als interessanter werden bunte, vielfältige Familienformen bewertet. Sie gelten als die modernen Formen einer Familie, die sich in Quantität und Qualität je nach Lebensphase verändert. Aber ist das ein adäquates Bild der familiären Wirklichkeit? Und zieht nicht gerade die Kleinfamilie Ressentiments auf sich – als Familienhölle und letztes Refugium patriarchaler Herrschaft?“ (S. 165).
Mit dieser Polemik unterlaufen die Autor:innen eine wissenschaftlich differenzierte Sicht auf ihren anschließenden Vorschlag „einer soziologischen Tiefengeschichte familiären Wandels“ (S. 166), deren Rekonstruktion im Zusammenhang von Einsamkeit und Ressentiment zweifelsohne wichtige Erkenntnisse verspräche. Eine solche „Tiefengeschichte“ käme aber um die Dekonstruktion der bürgerlichen Kernfamilie als für viele Familien in Geschichte und Gegenwart hegemoniale und zugleich unerreichbare Norm nicht herum, das dürfte familiensoziologisch unstrittig sein – auch ohne feministische Analysen zu bemühen. Insofern irritiert der unreflektierte Seitenhieb in Richtung von Öffnungen der Familienforschung für feministische und queere Ansätze. Hinzu kommt die Ausblendung von komplexen Familienkonstellationen in Migrationsgesellschaften.
Für die Arbeits- und Berufswelt fragen die Autor:innen abschließend nach möglichen Zusammenhängen zwischen Statusverlusten und -gewinnen (Absteiger:innen und Aufsteiger:innen) und der Entstehung von Ressentiments. Macht der Verlust von Stabilität der sozialen Herkunft möglicherweise einsam? Diese und weitere Fragen, so die Autor:innen, bedürfen zukünftig eines „präzisen empirischen Blicks“ (S. 168).
Das Resümee schließt mit einer bemerkenswerten Diagnose: Es ist die Beobachtung der Verallgemeinerung einer Kultur, „in der sich jeder und jede benachteiligt fühlen darf. […] So nimmt es kaum Wunder, dass Wertschätzung, Anerkennung, Sichtbarkeit, Selbstwirksamkeit zu Leitvokabeln unserer Zeit wurden.“ (S. 169) Vor diesem Hintergrund konstatieren die Autor:innen die Zurückdrängung von (demokratischen) Leitidealen wie „Solidarität, Konsensfindung und Kompromissbereitschaft“ (ebd.). Diese Feststellung dürfte für viele Leser:innen einen hohen Wiedererkennungswert haben, lädt allerdings gleichzeitig zu weiteren Differenzierungen der Argumentation ein. Denn Missachtung, vorenthaltene Anerkennung, Unsichtbarkeit oder Stigmatisierungen und eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten prägen auch jenseits einer neoliberalen Vereinnahmung des Subjekts die gesellschaftlichen Erfahrungen vieler Menschen und verweisen auf die zuvor betonte Bedeutung von Vulnerabilität. Insofern wäre auch für diese „Leitvokabeln“ zu untersuchen, welche ambivalenten Qualitäten sie umfassen und in welchem Verhältnis sie zu Solidarität stehen.
Die mehrhändig geschriebene Monografie schöpft aus dem breiten und interdisziplinären Fachwissen der beteiligten Autor:innen. Komplexität wird nicht reduziert, empirische Befunde und theoretische Reflexionen verdeutlichen, dass die Korrelation zwischen Einsamkeit und Ressentiment mit grundlegenden Fragen der politischen Vergesellschaftung und der Sozialität von Menschen verbunden ist. Die konzeptionelle Mehrstimmigkeit des Buches fordert Leser:innen dabei eine Leistung ab, die Francis Picabia in einem seither viel zitierten Aphorismus auf den Punkt gebracht hat: „Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann.“[2] Der bei dieser Lektüre ständig notwendige Richtungswechsel zwischen verschiedenen Zugängen zu grundlegenden gesellschaftswissenschaftlichen Fragestellungen hält das Denken der Leser:innen in Bewegung. An manchen Stellen hätte ein besser nachvollziehbarer Übergang zwischen den verschiedenen Perspektiven und eine explizitere Darlegung der inneren Zusammenhänge des Argumentationsgangs den klugen, nicht immer aneinander anschlussfähigen Denkbewegungen der Autor:innen keinen Abbruch getan. So wird der innere Zusammenhang zwischen Befunden aus quantitativen Studien, die sozialpsychologische Konstrukte zur Messung von Menschenfeindlichkeit verwenden, und sozialphilosophischen, demokratietheoretischen und anthropologischen Grundfragen des Gesellschaftlichen an vielen Stellen vorausgesetzt. Eine stärkere Einordnung der verschiedenen Facetten des empirischen und theoretischen Kaleidoskops, mit dem das Buch den wissenschaftlichen Blick auf Einsamkeit und Ressentiment schärft, wäre allerdings wünschenswert und würde einen besseren Zusammenhang zwischen den grundlagentheoretischen, zeitdiagnostischen und politisch-pragmatischen Argumentationssträngen der Monografie ermöglichen.
Fußnoten
- David Riesman / Reuel Denney / Nathan Glazer, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, mit einer Einleitung für die deutsche Ausgabe von Helmut Schelsky, aus dem Amerikanischen übers. von Renate Rausch, München 1956.
- Francis Picabia, Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann, aus dem Französischen übers. von Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt, Hamburg 1995.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Affekte / Emotionen Demokratie Gesellschaft Methoden / Forschung Politik Rassismus / Diskriminierung Recht
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