Thomas Hoebel, Barbara Kuchler, Stefan Kühl | Essay |

Essays schreiben

Essays sind das typische Format, in dem sich Wissenschaftler:innen in den Massenmedien mit einem Argument an ein breiteres Publikum wenden. Für Studierende bieten sie insbesondere die Möglichkeit, einen analytischen Gedanken auszubuchstabieren und anderen möglichst nachvollziehbar zu erörtern. Ebenso erlauben es Essays, das Handwerk des wissenschaftlichen Schreibens kennenzulernen, bevor man sich an andere Genres wie Haus- und Abschlussarbeiten ‚heranwagt‘.

Mögliche Themenstellungen finden sich an jeder Ecke Ihres Alltags – oder anders formuliert: sie liegen praktisch auf der Straße. Warum nicht mal einen kleinen soziologischen Text über Studi-Partys schreiben? Konzeptionell könnten Sie sich zum Beispiel bei anderen soziologischen Texten bedienen, die es bereits zu Partys gibt.[2] David Riesman, Robert Potter und Jeanne Watson etwa haben sich mit den Rollen des Gastes und des Gastgebers auf Partys befasst.[3] Gelten ihre Analysen auch für heutige Studentenpartys? Welche Abweichungen von Riesmans Beschreibung sind eventuell zu beobachten? Welche Rollenverteilung finden Sie vor und welche „Interaktionsprobleme“ erwachen aus ihr? Fragen wie diese können Sie durch eigene kleine Feldforschungen auf Partys stellen und bearbeiten.[4]

Einige handwerkliche Tipps

Grundsätzlich ist ein Essay ein vergleichsweise kurzer Text, in dem Sie sich mit einer (häufig auch aktuellen) wissenschaftlichen Fragestellung auseinandersetzen. Im Rahmen einer Studienleistung hat er üblicherweise eine Länge von drei bis sieben Seiten.[5] Die handwerkliche Kunst besteht darin, die Fragestellung möglichst eng zu fassen, um sie bearbeitbar zu halten. Nehmen Sie sich gerne die Freiheit, Ihr Augenmerk nur auf ein besonderes Detail eines größeren Themas zu richten. Sinnvoll ist zudem, die ersten Absätze zu nutzen, um Ihren Lesenden Ihre Fragestellung vorzustellen und zu erläutern, warum das Rätsel von allgemeinerem Interesse ist. Machen Sie Ihrem Publikum Lust, den Text lesen zu wollen!

Ein Essay ist nicht rein reproduktiv. Er besteht nicht (nur) aus der Wiedergabe des Inhalts anderer Texte. Vielmehr enthält er eine eigene Gedankenleistung, die sehr verschiedene Formen annehmen kann, etwa die Anwendung eines soziologischen Begriffs oder Gedankens auf einen selbst gewählten Gegenstand, den Vergleich zweier Texte beziehungsweise Autor:innen oder die Kritik eines Textes beziehungsweise Autors/Autorin.

Orientieren Sie sich bei den Essays an den Modellen, die Sie von Wissenschaftler:innen aus den Massenmedien kennen (z.B. in überregionalen Tageszeitungen, auf Blogs oder auch hier bei Soziopolis). Ein besonderes Merkmal des Genres besteht darin, dass die ihm zugeordneten Texte in der Regel von den üblichen Standards wissenschaftlichen Arbeitens abweichen. Häufig wird nicht zitiert, sondern nur der/die Urheber:in eines Gedankens kurz im Fließtext erwähnt. Literaturverzeichnisse gibt es in der Regel nicht, bestenfalls nennt der/die Autor:in am Ende zentrale Texte, auf denen der Essay aufbaut. Manchmal finden sich auch gerade bei populärwissenschaftlichen Zeitschriften statt der normalen wissenschaftlichen Zitierweise sogenannte Servicekästen, in denen auf interessante Literatur hingewiesen wird.

Es ergibt jedoch Sinn – beim Abfassen im universitären Kontext wird dies sogar verlangt –, einen Essay zunächst einmal in der üblichen Form wissenschaftlicher Texte zu schreiben, auch wenn durch die Kürze des Textes nicht alle Anforderungen (z.B. an Gliederung) erfüllt werden können. Achten Sie darauf, dass Sie ordentlich zitieren und hängen Sie ein korrektes Literaturverzeichnis (sei es auch ein kurzes) an. Wenn der Essay in einem Massenmedium erscheint, wird die jeweilige Redaktion schon mit wenigen Handstrichen dafür sorgen, dass die korrekte Zitierweise und das Literaturverzeichnis gelöscht werden.

Auf Ideen kommen

Ein besonders empfehlenswerter Anlass für Essays ist die Erprobung eines eigenen analytischen Gedankens. Sinnvollerweise beobachtet man die im Laufe eines Semesters gelesenen Texte daraufhin, ob sie Aspekte, Fragestellungen, Probleme und so weiter enthalten, die einem interessant erscheinen. Gegebenenfalls macht man sich bei interessanten Punkten eine Notiz und versucht, ausgehend von diesen Notizen eine sinnvolle Themenstellung zu finden. Bei Bedarf können die jeweiligen Lehrenden Ihnen Hilfestellungen bei der Themenformulierung geben beziehungsweise vorgeschlagene Themen in Bezug auf ihre Machbarkeit beurteilen.

Ein Beispiel haben wir bereits mit Blick auf Partybesuche skizziert. Der Fantasie sind im Prinzip keine Grenzen gesetzt. Weitere Ausgangspunkte könnten sein:

Das Familientreffen als schichtheterogene Situation
Ausgehend von Hans Paul Bahrdts Überlegung, dass unter Bedingungen hoher sozialer Mobilität Schichtgrenzen immer häufiger innerhalb von Familien(verbänden) verlaufen, kann man auf einem geeigneten größeren Familientreffen eigene Feldforschung dazu betreiben: Wie demonstrieren oder simulieren die Anwesenden ihre Schichtzugehörigkeit? Wie kommen Angehörige verschiedener Schichten als (gleichzeitig) Angehörige derselben Familie miteinander zurecht?

Unhinterfragte Autorität von Lehrenden
In Lehrveranstaltungen kann man regelmäßig beobachten, dass Studierende den Anweisungen von Lehrenden direkt Folge leisten, obwohl sich beide Seiten erst wenige Minuten zuvor kennengelernt haben. Welche Erklärung liefert Max Webers Unterscheidung zwischen den Herrschaftstypen rational-legal, traditional und charismatisch für das Phänomen?

Tayloristische Pflege
Mitarbeitende in stationären oder mobilen Pflegeorganisationen arbeiten heute in der Regel entlang von streng definierten Zeitvorgaben. Welche Gründe sprechen dafür, diese Form der Arbeitsorganisation als tayloristisch zu bezeichnen, welche dagegen?

Konflikte und Konfliktunterdrückung in Wohngemeinschaften
Das Ausbrechen von Konflikten, so Niklas Luhmann, sei in der Interaktion problematisch, weil ein Konflikt die ganze Interaktion beherrsche und die Beschäftigung mit anderen Themen unmöglich mache. In Interaktionen bestehe deshalb eine starke Tendenz zur Konfliktunterdrückung.[6] Wohngemeinschaften sind diesbezüglich ein interessantes Phänomen.[7] Konflikte entstehen regelmäßig über leere Kühlschränke, den ungeputzten Zustand gemeinsam genutzter Räume und das fehlende Toilettenpapier. Wie bearbeiten WG-Mitglieder eigentlich solche (potenziellen) Streitpunkte?

Gamification und Produktionsspiele
Unter dem Begriff der „Gamification“ ist heute häufig die Rede davon, mithilfe spielerischer Elemente Arbeitsprozesse in Industrie und Dienstleistungsgewerbe zu gestalten. Wie unterscheiden sich solche Spiele von den „Produktionsspielen“, die Michael Burawoy analysiert hat,[8] worin ähneln sie sich?

Die Vorgehensweise für Essays dieses Typs ist im Grunde ein Zweischritt:

  1. Informationen über den gewählten Gegenstand (in Zeitungen, Internet usw.) sammeln oder eigene Beobachtungen auf Grundlage einer Feldforschungsanleitung machen;
  2. wissenschaftliche Konzepte, die Sie kennengelernt haben, auf diese Daten überlegt anwenden.

Die eigene Meinung einbringen?

Ein Wort zu der oft gestellten Frage, ob man in Essays auch seine eigene Meinung einbringen dürfe: Ihre Ansichten sind willkommen, sofern es sich um wissenschaftliche beziehungsweise soziologische, mit Argumenten begründete Meinungen handelt. Mögliche Formulierungen sind:

  • Ich denke, dass eher Autor X zu folgen ist als Autor Y, weil Autor Y den wichtigen Gegenstandsbereich z nicht behandeln kann.
  • Ich denke, Autor X ist zu kritisieren, weil seine Argumentation einen inneren Widerspruch enthält.
  • Ich denke, Begriff Y ist auf den von mir beobachteten Sachverhalt nicht anwendbar, weil folgender wichtiger Unterschied vorliegt.

Dagegen haben eigene Meinungen, die dem Alltagsdenken und -meinen (einschließlich dem Denken und Meinen der Massenmedien) entnommen sind, in einem wissenschaftlichen Text nichts zu suchen. Solche Negativbeispiele sind:

  • Ich denke, Autor X hat recht, weil das zu dem passt, was ich / mein Freund / meine Großmutter kürzlich erlebt habe/hat.
  • Ich denke, Autor X hat recht, weil man ja jeden Tag in der Zeitung lesen kann, dass Sache Y ganz wichtig beziehungsweise ganz schrecklich ist.
  1. Stanford M. Lyman / Marvin B. Scott, Territoriality. A Neglected Sociological Dimension, in: Social Problems 15 (1967), 2, S. 236–249, insbes. S. 240 f.; Jean-Marie Lacrosse, Bemerkungen über die sozialen Bedingungen für das Gelingen von „Parties“, in: Kurt Hammerich / Michael Klein (Hg.), Materialien zur Soziologie des Alltags (= Sonderheft 20 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie), Opladen 1978, S. 376–388.
  2. David Riesman / Robert Potter / Jeanne Watson, The Vanishing Host, in: Human Organization 19 (1960), 1, S. 17–27.
  3. Götz Bachmann, Teilnehmende Beobachtung, in: Stefan Kühl / Petra Strodtholz / Andreas Taffertshofer (Hg.), Handbuch Methoden der Organisationsforschung. Quantitative und Qualitative Methoden, Wiesbaden 2009, S. 248–271.; Georg Breidenstein / Stefan Hirschauer / Herbert Kalthoff / Boris Nieswand, Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung, Stuttgart 2020.
  4. Bei Schrifttyp Times New Roman, Schriftgrad 12, Zeilenabstand 1,5, ohne Blocksatz.
  5. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 529–536; Heinz Messmer, Konflikt und Konfliktepisode. Prozesse, Strukturen und Funktionen einer sozialen Form, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), 2, S. 98–122.
  6. Felix Bathon, Der Putzplan. Ein soziologischer Versuch, München 2016.
  7. Michael Burawoy, Manufacturing Consent. Changes in the Labor Process under Monopoly Capitalism, Chicago, IL 1979.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Universität Wissenschaft

Thomas Hoebel

Thomas Hoebel, Soziologe, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er forscht zu organisierter Gewalt, schreibt an einer Methodologie prozessualen Erklärens und befasst sich mit dem Rätsel, wie gute wissenschaftliche Texte entstehen.

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Barbara Kuchler

Dr. Barbara Kuchler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld. Ihre Arbeitsschwerpunkt sind: Soziologische Theorie, Systemtheorie, Gesellschaftstheorie, Politische Soziologie, Kriegssoziologie, Soziologie der Liebe und Familie, Soziologie der Finanzmärkte.

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Stefan Kühl

Professor Dr. Stefan Kühl ist Soziologe und Historiker. Er ist Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und arbeitet als Organisationsberater der Firma Metaplan für Unternehmen, Verwaltungen, Ministerien und Nichtregierungsorganisationen.

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