Sarah Mönkeberg, Markus Kurth, Janosch Schobin | Interview |

„Haustierhaltung schafft Struktur in hochdynamisierten Lebenswelten“

Sarah Mönkeberg und Markus Kurth im Gespräch mit Janosch Schobin

In dem DFG-Projekt Tiere als Gefährten haben Kerstin Jürgens, Sarah Mönkeberg und Markus Kurth über drei Jahre hinweg Mensch-Tier-Beziehungen erforscht. Sie haben Halter:innen verschiedener Haustierarten zu ihren Anschaffungsmotiven, ihrer Alltagsgestaltung und den Deutungsmustern ihrer Mensch-Tier-Beziehungen befragt. Ein Schwerpunkt ihrer qualitativen Forschung lag auf tierbezogenen Dienstleistungen. Sie haben die Ergebnisse in einer Monografie mit dem Titel Leben und Arbeiten mit Tieren veröffentlicht.[1]

Frau Mönkeberg, Herr Kurth, welche grundsätzlichen Veränderungen lassen sich aktuell am Verhältnis zwischen Menschen und ihren Haustieren festmachen?

Markus Kurth: Wir haben in den vergangenen Jahren einen massiven Trend hin zur Haustierhaltung festgestellt, der sich aktuell auf hohem Niveau einpendelt. In Deutschland lässt sich das gut an Zahlen verdeutlichen. So ist der Anteil der Hunde- und Katzenhalter:innen deutlich gestiegen. Bei Katzen und Hunden haben sich die Tierzahlen in den letzten 20 Jahren jeweils verdoppelt. Mittlerweile sind in jedem vierten deutschen Haushalt mindestens eine Katze und in jedem fünften Haushalt mindestens ein Hund zu finden. Wenn wir die Spezies beiseitelassen, lebt sogar in nahezu jedem zweiten Haushalt ein Haustier – oder mehrere. Das ist zunächst eine rein quantitative Veränderung. Andere Zahlen zeigen aber deutlich, dass sich die Haustierhaltung auch qualitativ gewandelt hat: Die finanziellen Aufwendungen pro Haustier sind deutlich gestiegen. Die Menschen haben also nicht einfach nur häufiger Haustiere, sie geben auch mehr Geld für sie aus. Es entstehen immer mehr spezialisierte Dienstleistungen wie das Katzenwellnesshotel, Hunde-Yoga-Training oder Pferdehomöopathie. Das ist im Übrigen kein rein deutsches Phänomen: In den USA etwa ist diese Entwicklung schon weiter fortgeschritten als bei uns. Dahinter steht eine Veränderung des Verhältnisses der Menschen zu ihren Haustieren in westlichen Wohlstandsgesellschaften.

Werden Tiere heute also anders behandelt als zu früheren Zeiten? Handelt es sich um eine zunehmende Vermenschlichung der Tiere, die jetzt, wo sie immer öfter als Familienmitglieder oder Freunde gelten, auch als Konsumenten entdeckt werden?

Sarah Mönkeberg: Wir sehen an unserem Datenmaterial sehr deutlich, dass die Befragten ihre Tiere als Individuen mit Charakter und Persönlichkeit ansehen. Sie begreifen sie aber als Tiere und nicht als Menschen. Und sie beschreiben gerade die Vorzüge, die das Zusammenleben mit Tieren, im Gegensatz zu rein menschlicher Gesellschaft, für sie birgt. Auch das affektuelle Geschehen zwischen Mensch und Tier spielt eine wichtige Rolle. Die Befragten lassen sich umfassend auf ihre Tiere ein. Sie richten ihre Tagesabläufe und Wohnumgebungen an deren Bedürfnissen aus und berichten von den besonderen emotionalen Qualitäten, die die Interaktionen mit ihren Tieren haben, etwa deren ansteckende Lebensfreude. Auch die aktuelle Forschung deutet darauf hin, dass das Verhältnis zwischen Menschen und Haustieren als eine Beziehung zwischen Individuen rekonstruiert werden muss, bei der sowohl der Mensch als auch das Tier Gestaltungsspielräume haben. Wir müssen daher die Beziehungen viel stärker als bisher als Ergebnis von Aushandlungen verstehen. Zudem sind Haustier-Mensch-Beziehungen vielschichtig und erschöpfen sich nicht in einer simplen Zuschreibung menschenähnlicher Eigenschaften.

Können Sie das konkretisieren? Was für Beziehungsformen gibt es denn?

Mönkeberg: In unserer Studie konnten wir drei typische Beziehungsmuster ausmachen. Das erste kommt dem am nächsten, was Sie vermutlich im Sinn hatten, als Sie von Vermenschlichung gesprochen haben: Die Herstellung einer Gemeinschaft mit dem Tier, mit geteilten Tagesabläufen, einer eng auf die Bedürfnisse des Tieres abgestellten Alltagsgestaltung und einer starken Zuschreibung wechselseitiger Zuneigung und Nähe. Allerdings ist die Bandbreite größer, als es Klischees wie etwa das des Hundes, der als Kinderersatz angeschafft wird, vermuten lassen. Es gibt eine Vielzahl an Beziehungsformen, die mit den beteiligten Spezies zusammenhängen, aber auch Idiosynkrasien zum Ausdruck bringen, die aus den spezifischen Interaktionsgeschichten der beteiligten Lebewesen resultieren.

Im zweiten Beziehungsmuster findet sogar das Gegenteil der Vermenschlichung von Tieren statt: Hier wird der Mensch gewissermaßen zum Tier. Die Befragten schildern uns, wie sie die Welt in den Interaktionen mit ihren Tieren in einer ganz neuen Art und Weise erfahren. Wir bezeichnen dieses Beziehungsmuster als Aktivität. Es geht hierbei um ein gemeinsames Handeln von Mensch und Tier, die als Einheit begriffen werden. Diese Art der Beziehung treffen wir überall dort an, wo Tiere dabei helfen, Stress abzubauen oder bei arbeitsähnlichen Tätigkeiten, in denen sowohl Menschen als auch Tiere handeln, wie etwa beim Reiten oder beim Hundesport Agility. Auch hier ist die konkrete Beziehungsausgestaltung sehr vielfältig und hängt etwa damit zusammen, welche Spezies in welchem Teil der Tätigkeit führt oder wer welche Entscheidungen trifft. Das Verhältnis ist zum Beispiel bei tiertherapeutischen Behandlungen anders als bei einer nächtlichen Nachsuche im Wald.

Das letzte Muster nennen wir Sorge. Zahlreiche Befragte nehmen Tiere bei sich auf, die krank oder beeinträchtigt sind. Sie orientieren ihre Lebensführung sehr umfassend an ihnen, richten ihnen weitläufige Gehege ein. Zwar ist die Begegnung mit tierlichen Individuen oft initial, mit zunehmender Dauer der Haltung nimmt die Bezugnahme auf konkrete Tiere jedoch ab. Es kommt zu Mehrfachtierhaltung sowie serieller Haltung, also einer Verstetigung des Wechsels der Tiere. Es werden immer wieder neue Tiere aufgenommen, weitervermittelt, verstorbene Tiere werden ersetzt.

Wichtig ist, dass sich die verschiedenen Beziehungsmuster der Gemeinschaft, Aktivität und Sorge nicht gegenseitig ausschließen, sondern häufig Mischformen anzutreffen sind. Das Verhältnis ändert sich aber auch über die Zeit. Je nach Beziehungsphase kann ein Muster besonders dominant hervortreten.

Die These, dass die Zunahme des Haustierbesitzes als eine anthropomorphisierende Antwort auf Individualisierungsprozesse zu verstehen ist, greift also zu kurz. Triftig scheint mir jedoch, dass es sich um einen Trend handelt, der mit gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozessen, etwa der Veränderung von Familienstrukturen, zusammenhängt, aber auch Entwicklungen des Wirtschaftssystems, etwa hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft, widerspiegelt. Zudem deuten qualitative Befunde unseres Projekts WeAreOne darauf hin, dass der Trend zum Haustier einen globalen Charakter hat. Ein brasilianischer Interviewpartner etwa spricht von der „peticização“, der „Verhaustierlichung“ der brasilianischen Gesellschaft. Er führt das sehr direkt auf individualisierte Lebensweisen und die Konsumorientierung der neuen Mittelschichten zurück. Welche Zusammenhänge zwischen Haustierhaltung und gesellschaftlicher Veränderungen sehen Sie?

Kurth: Beide Vermutungen – dass die vermehrte Haustierhaltung Folge von Individualisierungsprozessen und ein Mittelschichtsphänomen ist – treffen im Großen und Ganzen zu, erklären aber am Ende weniger, als man zunächst denken könnte. An der Beobachtung, dass die Zunahme der Haustierhaltung insbesondere in den Mittelschichten stattfindet, ist etwas dran, auch wenn sie sich zumindest in Deutschland nicht auf diese beschränkt. Der Trend zu Haustieren lässt sich aber über unseren deutschsprachigen Forschungskontext hinaus in vielen Industrie- und auch Schwellenländern feststellen. Die Waren und Dienstleistungen für die Tiere werden vor allem von den Mittelschichten nachgefragt. Deutlich wird das in Deutschland – und sicher noch mehr in den USA – an dem sich immer weiter ausdifferenzierenden Angebot. Die Waren und Dienstleistungen zielen nicht nur auf die Grundbedürfnisse des Tieres, sondern werden zum Teil direkt als „Luxus-“ und „Premiumangebote“ deklariert – sie sollen auch das Bedürfnis der Mittelschicht nach Distinktion befriedigen. Diese Moden, die länderübergreifend sehr ähnlich sind, verbreiten sich nicht zuletzt über Social Media. Die Anbieter, die dort ihre Waren bewerben, sind definitiv auf die Bedürfnisse sozialer Klassen spezialisiert, die einen Teil ihres Einkommens demonstrativ in das Tier investieren können und qua Klassenlage auch wollen.

Statusbezogener Konsum reicht als Erklärung für die vermehrte Haustierhaltung aber nicht aus. In Deutschland ist der Haustierbesitz etwa insbesondere in Haushalten mit Kindern üblich. Auch wenn ihr Haushaltseinkommen etwas über dem Durchschnitt liegt, sind es eher die Menschen, die einer klassischen Normalbiografie folgen, die sich ein Haustier zulegen, als die hochindividualisierten Einzelgänger:innen. Der Haustierbesitz ist bei uns tendenziell Ausdruck von Konservatismus. Es geht, etwas plakativ formuliert, bei der Haustierhaltung eher um Stabilität in einer sehr dynamischen Welt als um Konsum und Status. Die Menschen, das zeigt unsere Empirie ganz deutlich, investieren zwar auch ökonomisch viel in ihre Tiere, vorrangig geht es ihnen aber um den Wert der Beziehung zum Tier selbst, um die emotionale Bindung. Ausgaben, insbesondere für Gesundheitsdienstleistungen, werden dann alternativlos, wenn es darum geht, die Beziehung und damit die Stabilität zu erhalten.

Können Sie das genauer ausführen?

Mönkeberg: Wir betrachten die Haustier-Mensch-Beziehung in unserer Forschung aus der Mikroperspektive der konkreten Alltagspraxis. Dabei zeigt sich, dass es in der Beziehung sehr stark um Zeitstrukturierung geht. Viele Haustierbesitzer:innen orientieren ihre täglichen Zeitabläufe an den Bedürfnissen des Tieres. In manchen Fällen geht das so weit, dass sogar der Job danach ausgesucht wird, wie tierfreundlich er ist, wie weit er also mit den Bedürfnissen des Tieres in Einklang steht und Vereinbarung möglich ist. Das Tier wird zum Taktgeber, zur lebendigen Uhr des Sozialen: Wann schläft es, wann braucht es Futter, wann muss es raus? Die im Vergleich zum Menschen geringere Plastizität des Tierverhaltens wird zu einer Ressource, um Struktur in hochdynamisierte Lebenswelten zu bringen. Diese Dynamik sehen wir besonders beim gemeinschaftlichen Beziehungsmuster am Werk. Doch auch die Ästhetik von Freiheit in der Mensch-Tier-Beziehung spielt für Haustierhalter:innen eine Rolle. Das ist eine Beobachtung, die wir gerade in aktivitätsbasierten Beziehungen immer wieder gemacht haben: Wenn das Tier hochspringt, schnell rennt oder andere Dinge ausführt, die der Mensch so nicht kann, an denen er aber zum Beispiel durch Kommandos partizipiert, kann man das als eine Art interpassives Freiheitserleben verstehen. Das Tier darf kurz ganz Tier sein, und der Mensch ist damit affektiv verbunden; er erlebt die Freiheit des Tieres mit. Solche Aspekte der modernen Tier-Mensch-Beziehung bleiben in der makrostrukturellen Forschung oft unterthematisiert. Das sorgende Beziehungsmuster wiederum ist nicht neu, im Gegenteil: Darin lässt sich auch der Mensch der neolithischen Revolution ausmachen. Bei aller Individualisierung und Singularisierung bleibt unsere Gesellschaft also auch sehr alten Mustern des Mensch-Tier-Verhältnisses verhaftet.

  1. Kerstin Jürgens / Sarah Mönkeberg / Markus Kurth, Leben und Arbeiten mit Tieren. Haustierhaltung und Tierdienstleistung als Lebensformen, Campus 2025.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Gesellschaft Interaktion Kapitalismus / Postkapitalismus Moderne / Postmoderne Sozialer Wandel Wirtschaft

Sarah Mönkeberg

Sarah Mönkeberg ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Postdoc am Fachgebiet Mikrosoziologie an der Universität Kassel. Zusätzlich zur Soziologie der Tier-Mensch-Beziehungen liegen ihre Arbeitsschwerpunkte u.a. in der Soziologie der Emotionen und Affekte, der Soziologischen Theorie und der Qualitativen Sozialforschung.

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Markus Kurth

Markus Kurth promoviert an der Universität Kassel am Fachgebiet Mikrosoziologie zu tierbezogenen Dienstleistungen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen neben den Human-Animal Studies und der Arbeitssoziologie u.a. in der Umweltsoziologie, insbesondere Natur- und Biodiversitätsschutzdiskurse.

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Janosch Schobin

Janosch Schobin, Dr. rer. pol., leitet die BMBF-Nachwuchsgruppe "DecarbFriends" an der Universität Kassel. Seine Forschungsgebiete sind unter anderem Freundschaftssoziologie, Soziologie sozialer Isolation, Techniksoziologie und Soziologie des Spiel(en)s.

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