Peter Bescherer | Rezension | 04.06.2025
In Stadtgewittern
Rezension zu „Stadt von rechts. Über Brennpunkte und Ordnungsversuche“ von Johann Braun

Die Ergebnisse der Bundestagswahl 2025 haben mit der Verteilung von Stimmen für die AfD aufs Neue die politische Geografie der radikalen Rechten in Deutschland illustriert. Gewählt wird die Partei erstens eher im Osten als im Westen des Landes; zumindest ist sie im Osten fast überall ihren Mitbewerber-Parteien überlegen, wenn auch die Mehrheit der AfD-Stimmen aus dem Westen kam. Zweitens findet die AfD eher in ländlichen Regionen Zuspruch als in Städten, insbesondere dann, wenn es sich um Abstiegsregionen handelt oder um solche, die vom Abstieg bedroht sind. Drittens wird die Partei innerhalb der Städte eher an den Peripherien als im Zentrum gewählt. Betreibt die radikale Rechte eine Revolte gegen die Städte? – Der letztgenannte Befund weist darauf hin, dass Städte generell nicht von der Rechtsverschiebung politischer Kräfteverhältnisse ausgenommen sind. Und auch der Blick auf die Innenstädte kann nicht beruhigen, denn sie wählen zwar häufig rot und grün, es mischt sich aber auch dort immer mehr Blau hinein.
Das von Johann Braun vorgelegte Buch will mit jenen Zuschreibungen aufräumen, die im Rechtsruck eine „Rache der Dörfer“ für die gesellschaftliche Liberalisierung sehen. Galten derartige Verräumlichungen des Sozialen längst als überwunden, greift die politische Geografie bei der Suche nach Erklärungen doch immer wieder auf sie zurück, so der Ansatzpunkt des Autors. Städte seien dabei doppelt abwesend: „Weder sind sie Ort und Bedingung rechter Mobilisierung noch selbst relevanter Gegenstand rechter Vorstellungswelten.“ (S. 9) Demgegenüber sei rechte Stadtfeindschaft als eine breit gefasste „diskursive Einrichtung“ (S. 13) zu verstehen, mit Platz sowohl für Ablehnung als auch Anerkennung. Dass beide sogar miteinander vermittelt sein können, ist eine interessante Spur, die Braun bis zum „reaktionären Modernismus“ der Weimarer Republik zurückverfolgt. Insbesondere Ernst Jünger hat mit seinem 1920 erschienenen Kriegsbuch In Stahlgewittern eine Perspektive begründet, in der die „Entzauberung der Welt“ und ihre technisch-industrielle Gestaltbarkeit nicht im Widerspruch zum Ressentiment gegen Liberalismus und Demokratie stehen.
In Anlehnung an den Stadtforscher Henri Lefebvre und die Geografin Doreen Massey geht Braun davon aus, dass Stadt und Raum prinzipiell historische, gesellschaftliche, umkämpfte und veränderbare Dinge sind. Von der Auseinandersetzung um ihre Wahrnehmung und praktische Gestaltung lassen sich rechte Bewegungen und Parteien daher nicht ausschließen. Die „rechte Sichtweise der Stadt“ erfasst die Studie in Form einer Diskursanalyse. Grob verstanden als systematische Untersuchung der Gesamtheit sprachlicher Äußerungen, die in einem sozialen (radikale Rechte) und thematischen (Stadt) Kontext getätigt werden, rekonstruiert Brauns Analyse die Regeln des rechten Stadtdiskurses. Diese Regeln kontrollieren, bereinigen und kanalisieren das Sagbare; zugleich gehen sie (nach Foucault) in den Intentionen der beteiligten Akteure nicht auf, so dass der Diskurs in seiner Gesamtheit unverfügbar bleibt.
Der Analyse voraus schickt Braun Ausführungen zu den Akteuren des rechten Stadtdiskurses sowie zu den Periodika, in denen er sich materialisiert. Das Spektrum radikal-rechter Akteure wird anhand einer Skizze von Organisationen, Netzwerken und Strategien in der Nachkriegs-BRD und im wiedervereinigten Deutschland vorgestellt. Zeitschriften spielen dabei eine wichtige Rolle, sowohl als Kommunikationsmedium, aber auch als Vehikel zur Organisierung und Sozialisation von Anhänger:innen. Aus diesem Grund hat Braun sie auch als empirisches Material für seine Diskursanalyse ausgewählt. Zum Zweck der Operationalisierung unterscheidet er mit Neonazismus, Kulturpolitik und Rechtskonservatismus drei Ausrichtungen im Akteursspektrum. Jeder Ausrichtung ordnet er anschließend bestimmte Zeitschriften zu. 200 Ausgaben von insgesamt sieben Zeitschriften, erschienen von den frühen Nullerjahren an, hat Braun für die Analyse herangezogen. Mithilfe einer Schlagwortsuche wurden schließlich knapp 350 Beiträge aus CATO oder Tichys Einblick – um nur die bekanntesten Formate zu nennen – ausgewählt und in der Diskursanalyse verarbeitet.
Als weiteren Zwischenschritt blickt der Autor aus ideengeschichtlicher Perspektive zurück auf konstitutive Phasen stadtfeindlichen Denkens, die das symbolische Reservoir der gegenwärtigen rechten Stadtfeindschaft darstellen. In der ersten Phase nahmen Akteure rund um den Volkskunde-Begründer Wilhelm Heinrich Riehl ab etwa 1850 die moderne Großstadt ins Visier, weil sie sich über die vermeintlich natürliche Gesellschaftsordnung erhebe. In der darauffolgenden Phase, historisch die Zeit des Deutschen Kaiserreichs, wurde die Stadtfeindschaft (pseudo-)wissenschaftlich reformuliert, etwa mit dem Argument, die reproduktiv schwache Stadtbevölkerung verlange nach einem permanenten Zustrom aus der Landbevölkerung, die daher besonderen staatlichen Schutz genießen müsse. Während die ersten beiden Phasen im Register von Großstadtfeindschaft versus Agrarromantik zu verorten sind, gilt das für die anschließende Phase der Weimarer Republik nicht mehr. Philosophisch vorbereitet von Oswald Spengler habe Ernst Jünger in dieser Zeit ein nationalistisch-revolutionäres Projekt entworfen, das nur in der Stadt vorstellbar gewesen sei, weil es einen Menschentypus voraussetze, der technisch versiert, reaktionsschnell, erlebnishungrig und massentauglich ist – Urbanismus von rechts statt Schwärmerei für den Bauernstand.
Basierend auf seiner Kontextanalyse und dem ideengeschichtlichen Rückblick präsentiert der Autor anschließend seine Ergebnisse. Als übergreifende Logik stadtfeindlichen Denkens macht er eine Gegenüberstellung von Gegenwartsbeschreibungen und Normalvorstellungen von der Stadt aus. Diese ordnungstragende Unterscheidung führt Braun an drei sich im Material abzeichnenden Themensträngen durch:
- Der Subdiskurs über den Städtebau folgt dementsprechend der Logik von Moderne (Gegenwart) versus Tradition (Normalität). Probleme bestimmt der rechte Diskurs auf baustofflicher (Beton, Stahl, Glas), technischer (instrumenteller Bezug zum Material), ästhetischer (Beliebigkeit und Stillosigkeit) und programmatischer (Vernachlässigung von Ort und Geschichte) Ebene. Die Anrufung einer vermeintlich anti-elitären Tradition kreist dagegen um Eindeutigkeit, Beständigkeit, Homogenität und Bewahrung. Ihr verpflichtet ist die rechte Rekonstruktionsarchitektur, etwa der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche, als hätte es keine Bomben, keinen Krieg, keinen Nationalsozialismus gegeben.
- Der Subdiskurs über die Stadtgesellschaft organisiert Aussagen entlang der Grenze von Massengesellschaft und Gemeinschaft. Städter:innen seien vom rechten Weg abgekommen und insofern entgrenzt und ungeformt, als sie ihre Identität selbst zu bestimmen glauben. Oder sie sind kategorisch inkompatibel und fremd, weshalb sie sich in Parallelgesellschaften zusammenfänden. Die dagegen gehaltene Normalvorstellung lässt sich als Bürger in Gemeinschaft bezeichnen: mit großer Verantwortung fürs lokale Gemeinwesen, bescheiden, rechtschaffen, aber auch wehrhaft, spätestens wenn es um die Zukunft der eigenen Kleinfamilie geht.
- Im stadtpolitischen Subdiskurs schließlich bildet die Gegenüberstellung von Kontrollverlust versus Ordnung die Leitdifferenz. In der rechten Sichtweise sei die Stadt angesichts von Migration und internationaler Finanzwirtschaft von Verunsicherung geprägt und entziehe sich der nationalstaatlichen Kontrolle. Entsprechend werden als rettendes Normalisierungsprojekt „[e]in starker Nationalstaat [und] eine monokulturelle Ausrichtung der Gesellschaft, die Fremdheit nicht zulässt und Ordnung in den engen Schranken von Normen, Regeln und Gesetzen sowie Kultur und Volk durchzusetzen vermag“ (S. 219), aufgeboten.
Die getroffenen Unterscheidungen sind griffig, die Analyse empirisch gesättigt und der Text trotz einiger Redundanzen gut les- und nachvollziehbar. Kaum ein:e Leser:in kann nach der Lektüre die radikale Rechte schlechthin als Revolte gegen die Städte beschreiben. Andererseits: Wer muss überhaupt ernsthaft davon überzeugt werden, dass die Stadt ein Ort der politischen Auseinandersetzung für die radikale Rechte ist? Spannender ist vielmehr die Ernst-Jünger-Perspektive auf den „reaktionären Modernismus“. Schade nur, dass sie in der späteren Durchführung von Brauns Untersuchung keine Bedeutung mehr zu haben scheint. Die Analyse des empirischen Materials bildet zumindest den ideengeschichtlich eingeführten Bruch zwischen völkischer Landromantik und rechtem Urbanismus kaum ab oder er wird nicht angemessen ausgedeutet – es wäre ja eine Diskussion wert, ob die Identitäre Bewegung oder ähnliche Strömungen innerhalb des rechten Spektrums als urbane Jugendbewegung zu betrachten sind oder Tech-Mogul Elon Musk als Prototyp eines rechten Großstadthipsters zu sehen ist. Aber solche Spekulationen nimmt sich der Autor nicht heraus, seine Deutung bleibt stets dicht am Material. Das mag wissenschaftlich redlich sein, mit fortschreitender Lektüre drängt sich dem Rezensenten jedoch immer stärker die Frage auf, was man eigentlich lernt, wenn man die rechte Sichtweise auf die Stadt in allen ihren Details nachvollzieht. Welche Position bezieht der Autor zu seiner Analyse und welche praktischen Implikationen hat sie?
Darum unternehme ich abschließend den Versuch, drei Desiderata zu benennen, deren Untersuchung diesbezüglich weitere Einblicke ermöglichen könnten.
- Brauns Materialkorpus umfasst Zeitschriftenbeiträge, denen er programmatischen Charakter zuschreibt. Im Rahmen diskursanalytischer Überlegungen ist das plausibel. Um die Konsequenzen für politisches Handeln – der Rechten, aber auch demokratischer Parteien oder sozialer Bewegungen – zu ergründen, wäre jedoch die Erweiterung der Untersuchung um Dokumente aus Kommunalparlamenten oder Stadtratssitzungen aufschlussreich. Damit ließe sich ergründen, wie die „Stadt von rechts“ zur politischen Realität und wie ihre Programmatik lokal zur Anwendung gebracht wird.[1]
- Im Zusammenhang mit der lokalpolitischen Umsetzung rechter Stadtfeindschaft steht die Frage danach, wie effektiv die diskursive Ordnung auf ihre Adressat:innen zugreift. Anders ausgedrückt: Scheitern gehört dazu. Weil er, mit Foucault gesprochen, seine eigene „Materialität“ hat, ist kein Diskurs vollständig geschlossen. Zu fragen wäre daher etwa, ob der rechte Stadtdiskurs in den von Braun rekonstruierten Logiken vollkommen aufgeht.
- Wenn überhaupt, verweist der Autor als Maßstab der Kritik auf die liberale Demokratie. Vergleichbar werden Stadtkritik und Stadtfeindschaft säuberlich voneinander getrennt, Zonen des Übergangs oder der Überschneidungen scheint es nicht zu geben. Findet die Normalisierung rechter Diskurse aber nicht genau auf der Grundlage des Liberalismus statt? Ist struktureller Rassismus nicht vielmehr Teil liberaler Demokratie?
Fußnoten
- In unserer eigenen, älteren Studie haben wir – methodisch weit weniger elaboriert – Dokumente aus der AfD-Kommunalpolitik berücksichtigt und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Partei für konkrete Konflikte vor Ort gar keine praktikablen Lösungsansätze vorzuweisen hat (vgl. Peter Bescherer et al., Antiurbane Utopien. Die Stadt im Diskurs der Rechten, Working Paper, Jena 2019).
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Demokratie Gruppen / Organisationen / Netzwerke Rassismus / Diskriminierung Stadt / Raum
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