Elisabeth von Thadden | Interview |

„Leidenschaftlich zu lesen kann wirklich eine Tölpelfalle sein“

Sieben Fragen an Elisabeth von Thadden

Ohne die Lektüre welchen Buches wären Sie heute ein:e andere:r?

Kaum beginnt man, Antworten auf Fragen nach einer Lesebiografie zu erwägen, weichen alle Bücher vor diesem Ansinnen zurück und wollen stur zu Gleichen vor der Betrachterin werden, als habe diese signalisiert, es gelte, das Bücherregal auf Kandidaten für die Altpapiertonne zu durchforsten. Dann scheinen die Bücher sich unterzuhaken und zu sagen: „Wir halten zusammen, wenn Du eins aussuchst, dann nimm uns alle. Wir sind nichts, ohne die Textur, die aus uns über Jahrzehnte des Lesens und über Jahrtausende des Geschriebenwerdens hinweg entstand.“ Aus dem Flechtwerk eines Teppichs einen einzigen Faden herausziehen? Auf die Idee käme niemand. Unter diesen Umständen also suche ich nun ein einzelnes Buch heraus: Eine andere wäre ich ohne die Lektüre des Tagebuchs der Anne Frank, dem bis heute zerlesensten und mit Tesafilm am meisten zurechtgeklebten Taschenbuch in meinen Regalen. Der Grund dafür erklärt sich wohl von selbst: Alles Unterhaken war in der Geschichte dieser Menschen vergeblich. Das Buch wieder und wieder zu lesen, heißt, sich mit dieser Vergeblichkeit nicht abfinden zu können.

Welches war die beste/schlechteste Buchempfehlung, die Sie je bekommen haben?

Leider weiß ich nicht aus Erfahrung, was eine schlechte Buchempfehlung im Sinne der Empfehlung eines schlechten Buchs ist, und die Gründe dafür stehen zum Teil schon in der Antwort auf die erste Frage. Es kommt hinzu: Wohl gibt es hundsmiserable Bücher, aber auch die besten können eine schlechte Empfehlung sein, wenn das Buch seine Leser:innen im falschen Moment erwischt, wie es etwa bei Kafkas Das Urteil und mir der Fall war, einer Empfehlung, der ich in einem verregneten Sommer in einer üblen Jugendherberge nach der Abreise eines verzweifelten Freundes nachkam. Nie wieder. Insofern war das die schlechteste Empfehlung. Und die beste, tja, wohl immer noch: der Band zur Fußball-WM 1966 (von dem ich nicht mehr weiß, welcher genau es war), mit dem ich eilends Buchstabe für Buchstabe lesen lernte, weil der große Bruder gesagt hatte, Hans Tilkowski sei ein großartiger Torwart, und er blätterte immerzu kundig in diesem Buch, das er sehr gut fand – mit einer Einschränkung, dass nämlich der Torwart nicht hinreichend gewürdigt wurde, weshalb er den Satz über Tilkowski als Notiz eigenhändig reingeschrieben hatte. Im Übrigen ist möglichst früh selbsttätig lesen zu lernen eine gute Sache.

Ihr literarischer guilty pleasure?

Ausgezeichnet, auf diese Frage lässt sich mal umstandslos antworten: Vom Winde verweht natürlich. Und das zerfledderte Exemplar mit seinen erkennbar immer wieder aufs Neue aufgeschlagenen Seiten – das brennende Atlanta, die yankeemordende Scarlet, der in die Unmöglichkeit seines Berufs ergebene alte Arzt Dr. Meade mitten im Lazarett, der augengrüne schwere Vorhangsamt, der so angemessen betrunkene Rhett – ist der traurige Beweis dafür, dass man als junge Leserin aus den sogenannten bildungsnahen Schichten ein Buch töricht lieben kann, ohne die politischen Abgründe zu ahnen, die dieser Roman verschweigt, verschleiert, beschönigt, affirmiert. Leidenschaftlich zu lesen kann wirklich eine Tölpelfalle sein, und die Aufklärung endet nie, morgen ist ein neuer Tag, thanks for this.

Welches Buch hätten Sie gern selbst geschrieben?

Auch hier kenne ich nur eine denkbare Antwort: Pu der Bär. Man muss wohl noch einen Pu in sich tragen, um eine tanzende Pu-Wolke im Bienenschwarm gebären zu können, und mein Neid mischt sich mit der Hochachtung, dass es einem Menschen vergönnt war, mit diesem Buch Kaninchen, Freunde und Verwandte hervorzubringen, in alle Ewigkeit.

Mit dem:der Protagonist:in welchen Buches würden Sie gern tauschen?

Niemals mit Protagonist:innen aus Büchern dauerhaft tauschen, lautet meine oberste Devise, denn die hat sich ja stets jemand ausgedacht, um Alternativen zum Bestehenden zu schaffen, und tatsächlich – alles in allem betrachtet und abgewogen – ist das üble Bestehende leibhaftig zu durchwandern doch interessanter als die Fiktion mit all ihren Worten. These. Aber könnte man für ein Weilchen tauschen, nur mal kurz eingetauscht oder eingewechselt, dann wäre ich gern Stoner im gleichnamigen Roman von John Williams, erstmals gedruckt 1965. William Stoner, Sohn eines armen Farmerehepaars, der in der Literatur die Liebe seines Lebens findet – oder von ihr gefunden wird –, der hochbegabte Lehrende, dem diese Kunst an der Wiege nicht gesungen war. Tauschen würde ich gern mit diesem Manne, der Katherine kennen- und lieben lernt, und das nicht nur für die Stunden des Glücks.

Aus welchem Buch lesen Sie Ihren Kindern/Enkelkindern am liebsten vor?

Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus Frage vier: Den Kindern des Abends Pu der Bär vorzulesen, bedeutet, alle müden Beteiligten einmünden zu lassen in die Möglichkeit, gut zu schlafen, wirklich beruhigt, in Vorfreude auf den nächsten Tag, an dem man Ferkel ja wieder trifft und Christopher Robin, und reinen Herzens, insofern als man den Kindern mit diesem Buch beweisen konnte, dass es auf Erden echte Weltklasse zu erleben gibt. Einverstanden, das gelingt natürlich auch beim Vorlesen von Harry Potter und desgleichen. Aber ohne es auch nur im Geringsten zu wissen, wäre meine Vermutung, dass auch Joanne K. Rowling besonders gern Pu der Bär vorgelesen hat.

Welches Buch hat Sie bei der Lektüre in Rage versetzt?

Es ist aktuell noch dabei, mich in Rage zu versetzen, weil ich gerade wider Willen nicht anders kann, als mich von seiner irren Komik und Selbstironie fesseln zu lassen, während es doch von schauderhaft atavistischen Männerfantasien berichtet, jetzt praktischerweise wieder im alteuropäischen Gewande, die traumhafte Pflege des alten Schlaganfallpatienten im Kreise der Familie, der späteheliche Sex mit der Gattin nach Jahren der Entfremdung, es ist doch einfach die praktischste Lösung, nachdem der Staat und die Gesellschaft und der Islam und die Zuwanderer das nicht so richtig geregelt kriegen – die Rede ist also von Michel Houellebecqs neuem Roman Vernichten. In Rage versetzt er mich, weil ich diese horrende Realitätsverweigerung großartig finde. Nur ein Beispiel: Da fährt der Protagonist in einem Haus unaufhaltsam runter in den minus 62. Stock, dabei gibt die Knopfleiste im Lastenaufzug (natürlich im Lastenaufzug!) diese Option gar nicht her, ebenso wenig wie das plus 64. Stockwerk, in das der Aufzug alsdann hochrast. So hoch war dieses Haus aber wirklich nie, das weiß auch unser Protagonist, selbst in seinem Traum, der diese Monsterbilder für Minderwertigkeit und Größenwahn hervorbringt. Und falls es noch eines Bildes bedurft hätte, um zu illustrieren, was Freud meinte, als er sagte, das Ich sei nicht Herr im Hause, da wäre dieses traumhafte Bild von Paul im Lastenaufzug ein heißer Kandidat.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Bildung / Erziehung Kultur Medien

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Elisabeth von Thadden

Elisabeth von Thadden verantwortet im Feuilleton der ZEIT die Seiten „Sinn & Verstand“. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Die berührungslose Gesellschaft“ (2018).

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