Eva Geulen | Interview | 02.03.2022
„Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken, was hier alles fehlen muss“
Sieben Fragen an Eva Geulen
Notabene: Belastbare Antworten auf alle sieben Fragen kann eigentlich nur geben, wer Buch führt über seine Bücher. Walter Benjamin und Hans Blumenberg haben es getan. Viele andere wahrscheinlich auch. Ich nicht. Mein gesammelter Lektüreschatz ist auf Stimulanz von außen angewiesen: Verschiedene Situationen locken je Verschiedenes wieder hervor. Die gestellten Fragen zielen jedoch auf das absolut Einzelne. Das macht ihre Beantwortung schwierig und etwas willkürlich. Anders ausgedrückt: Mir wird ganz schlecht bei dem Gedanken, was hier alles fehlen muss.
Ohne die Lektüre welchen Buches wären Sie heute ein:e andere:r?
Wenn Bücher einen verändern können, dann kann das nicht von einem einzelnen gelten, sondern es müssen mehrere sein. (Die Bibel ausgenommen, aber die ist ja weder irgendein noch überhaupt ein Buch.) Aber wenn und weil es nur eines sein darf, dann die Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer. Es ist das Buch, durch das ich mich im ersten Freiburger Semester gearbeitet, an dem ich mich abgearbeitet habe. Für diese Nominierung spricht auch, dass ich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte wiederholt zu ihm zurückgekehrt bin und es jedes Mal ein anderes Buch war, das ich da las, oder ich jedes Mal eine andere geworden war. Kein Buch bleibt allein.
Welches war die beste/schlechteste Buchempfehlung, die Sie je bekommen haben?
Die beste Empfehlung war kein einzelnes Buch, sondern der neunbändige Romanzyklus Vergangene Gegenwart von Hermann Lenz. Erst im Spätsommer 2001 fand ich Zeit zur Lektüre. Am 11. September standen noch zwei Bände aus. Ich habe sie bis heute nicht gelesen, weil mir die Rückkehr zu dem langsamen Rhythmus dieser Prosa nach den Terroranschlägen unmöglich geworden war. Die schlechteste Empfehlung war Reinhard Jirgls Nichts von euch auf Erden. Es war im Feuilleton sehr gelobt worden, ich hatte es in den Urlaub mitgenommen, der meistens für Gegenwartsliteratur reserviert ist, und ich konnte es nicht zu Ende lesen, weil ich die Prosa vom ersten Satz an unerträglich fand. Weil es so dick war, hatte ich nur dieses mitgenommen und saß auf dem Trockenen, bis ich irgendwo eine englischsprachige Taschenbuchausgabe von Ecos Prag-Roman[1] erwerben konnte. Seither kommen immer mindestens drei Bücher mit.
Welches Buch hätten Sie gern selbst geschrieben?
Eine Antwort auf diese Frage verrät entweder Größenwahn oder das Gegenteil. – Und warum eigentlich immer Bücher? Ein gut gebauter Text reicht vielleicht auch? Ich bin eine große Bewunderin von Georg Kleins in dem Band Schund und Segen versammelten Feuilletons. Aber bewundern heißt ja noch nicht, dass man sich selbst so etwas zutraut. Den Wunsch, die Bücher anderer geschrieben zu haben, habe ich eigentlich nicht. Wie viel aber aus gelesenen Büchern in die eigenen Texte eingeflossen ist, was man alles übernommen, welche Wendungen und Rhythmen man sich angeeignet hat, das weiß man beim Schreiben Gott sei Dank nicht. Sonst würde man es wohl ganz lassen.
Welches Buch hat Sie bei der Lektüre in Rage versetzt?
Wenn es ein solches Buch gibt, dann ist es nicht zu Ende gelesen worden. Es gibt viele Anlässe, in Rage zu geraten, die man nicht, wie ein Buch, zur Seite legen oder gegebenenfalls gar in die Ecke werfen kann. (Dass Luther die Bibel nach dem Teufel geworfen haben soll, ist eine andere Sache, denn ihn enragierte der Teufel und nicht das Buch.) Aber weil hier ja auch etwas stehen muss: Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht habe ich kurz nach Erscheinen nicht nur entnervt, sondern regelrecht zornig an der Stelle abgebrochen, an der Mädchen in weißen Kniestrümpfen nach einem Regenguss beschrieben wurden – und fand unmittelbar anschließend mit Irre von Rainald Goetz genau den richtigen Ersatz.
Aus welchem Buch zitieren Sie am häufigsten?
Gewiss nicht aus der Dialektik der Aufklärung! Ich weiß nicht, was eine Statistik ergeben würde, aber subjektiv gesehen könnten es Verse sein. Eine intensive Benn-Lektüre fiel ebenfalls in die Zeit meines ersten Studiensemesters und seine Gedichte bilden bis heute eine ebenso alte wie haltbare Schicht:
„Lebe wohl – Du weißt es, Feld und Aue,
alle Dünung, das Antillenmeer
lebt vom Salze, lebt vom Taue
einer Schattenwiederkehr“[2]
Mein bildungsbürgerlicher Grundstock wurde allerdings noch während der Schulzeit mit der als „Echtermeyer/Wiese“ bekannten Anthologie gelegt. Unglücklich verliebt hatte ich für den weder an Lyrik noch an mir Interessierten ein schönes gebundenes Heft gekauft, in das ich die mir liebsten Gedichte mit dem Füller abschrieb. Es dürften etwa 100 gewesen sein. Weil ein unerwarteter Regenguss im elterlichen Garten die Arbeit zunichte gemacht hatte, musste ich noch mal von vorne anfangen. Diese Gedichte sitzen bis heute tief und fest, und rutschen mir eben deshalb häufiger mal raus.
Welches Buch hat Ihnen in der Retrospektive besser gefallen als während des Lesens?
Laurence Sternes Tristram Shandy. Die Lektüre war streckenweise qualvoll, aber Einzelnes im Rückblick doch ein großer Spaß: a cock and bull story eben. (Prousts Recherche hat übrigens auch ihre Längen.)
Welches Buch haben Sie nur seines schönen Covers wegen gekauft?
Meine erste englische Lektüre im Original waren (noch vor dem Studium, als ich in einem Krankenhaus in England arbeitete) Daphne du Mauriers Schauerroman Jamaica Inn und Lauren Bacalls Autobiografie – beides billige Paperbacks mit je großartigem Cover, das hielt, was es versprochen hatte.

Die letzte Buchanschaffung mit bemerkenswertem Cover war die großformatige deutsche Auswahlausgabe von H.P. Lovecrafts wichtigsten Erzählungen: Die leicht erhobene, weiße Tentakelschrift leuchtet im Dunkeln. (Aber eigentlich sind Platten-Cover viel interessanter als Buch-Cover. Ein Freund ist ein großer Sammler, er versah seine Fundstücke aus dem Internet einige Jahre lang mit kurzen Texten und verschickte sie auch an mich.)
Fußnoten
- Anm. der Redaktion: Gemeint ist Umberto Eco, The Prague Cemetery, London 2011.
- Gottfried Benn, Lebe wohl, in: ders., Sämtliche Werke. Gedichte 1, Stuttgarter Ausgabe, Bd. 1, in Verbindung mit Ilse Benn, hrsg. von Gerhard Schuster, Stuttgart 1956, S. 143.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
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