Anja Peltzer | Rezension | 07.05.2025
Offene Bühnen für offene Gesellschaften
Rezension zu „Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik“ von Richard Sennett

„Are you watching closely?“, fragt in Christopher Nolans Film The Prestige (UK/USA, 2006) eine Stimme aus dem Off, noch bevor die Handlungswirklichkeit – in der sich ein tödlicher Wettstreit zwischen zwei rivalisierenden Zauberkünstlern entwickeln wird – aus dem Schwarzbild der ersten Einstellung aufgetaucht ist. Gleichzeitig ist dies die ritualisierte Eingangsfrage, die beide Zauberkünstler immer auch ihrem Publikum stellen, wenn sie mit ihren jeweiligen Aufführungen beginnen. Dabei bedeutet die Ermahnung des Publikums, ‚genau hinzusehen‘, natürlich nicht die Entzauberung des Tricks, sondern, ganz im Gegenteil, sie ist bereits Teil der Auf- und Irreführung der Zuschauenden. Warum das so verlässlich funktioniert, erklärt nur wenige Szenen später der weise Zaubertrickerfinder John Cutter (Sir Michael Caine): „Now you’re looking for the secret, but you won’t find it. Because, of course, you’re not really looking. You don’t really want to know. You want to be fooled.“
Diesem Verhältnis zwischen den Menschen, die etwas darstellen, und den Menschen, die dem Dargestellten zusehen, geht der Soziologe Richard Sennett in seinem Essay Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik nach. Er interessiert sich für die Bühnen, auf denen etwas aufgeführt wird und auf denen immer auch etwas verborgen bleibt, und verfolgt die Gemeinsamkeiten von Aufführungen und Ritualen sowie die Relationen zwischen dem, was gemeint ist, dem, was dargestellt wird und dem, was wahrgenommen wird. Dafür holt er die darstellenden Künste von ihrem schützenden Sockel als ‚höhere Künste‘ und erörtert ihr Wirken in den unterschiedlichsten Räumen, in verschiedenen historischen Kontexten sowie hinsichtlich ihrer politischen Konsequenzen.
Sennett will die Politik und Ästhetik des Darstellens im Werden und Wandel von Gesellschaft näher untersuchen, um anhand dessen gleichzeitig mehr über das Darstellen als Modus Operandi in unserer Gegenwart zu erfahren. Er weiß natürlich, dass Darstellungen täuschen können und dass die Dinge nicht so sein müssen, wie sie scheinen. Aber er weiß eben auch, dass das Darstellen und Schauspielen eine offene Kunst der Aufklärung sein kann. Und eben dieses Potenzial einer unreinen, unbequemen und offenen Kunst, jenseits des antiquierten Binarismus von low and high culture, scheint ihm von besonderer Relevanz für unsere Gegenwart zu sein. Er schreibt:
„Ich bilde mir nicht ein, die offene, im Zeichen des Janus stehende Ausübung der Kunst werde die Macht der manipulativen, bösartigen Darbietungen auflösen. Auch bösartiger Ausdruck ist emotional überzeugend. Doch die Ausübung von Kunst kann dem entgegenwirken, indem sie ein Modell für Freiheit anbietet – eines, in dem nicht mehr der Anspruch auf Wahrheit und Richtigkeit vorherrscht und Ausdruck stattdessen zur Erkundung wird.“ (S. 13)
Darstellungen im Sinne einer solchen Kunst können uns, wenn sie so möchten, darin trainieren, tatsächlich genau hinzusehen.
Hanser Berlin hat Sennetts The Performer. Art, Life, Politics von Michael Bischoff übersetzen lassen und in einem Hardcover veröffentlicht. Sowohl das englischsprachige Original als auch die deutsche Übersetzung sind 2024 erschienen. The Performer ist der erste von insgesamt drei geplanten Essays, die sich alle mit der Präsenz der Kunst in der Gesellschaft sowie mit dem „vertrackten Verhältnis von inklusiver Kunst und künstlerischer Innovation“ (S. 31) beschäftigen. Sennett plant, in den drei Essays anhand der Aspekte des (1) Darstellens, (2) Erzählens und (3) Abbildens[1] die „Ausdrucks-DNA“ (S. 15) des Menschen in ihrer ganzen Breite zu untersuchen. Dabei ist er natürlich nicht der erste, der über die Analogien zwischen Bühne und Alltag, zwischen ‚sich darstellen‘, Masken und Rollenspielen sowie zwischen manipulativer und offener Kunst nachgedacht hat. Neu, oder sagen wir: lesenswert an diesem Buch sind also nicht unbedingt seine Thesen, dazu haben sie zu viele prominente Vorfahren – unter anderen Erving Goffman 1959,[2] Umberto Eco 1962,[3] Joshua Meyrowitz 1985,[4] Leslie Fiedler 1968[5] und natürlich Sennetts eigenen Arbeiten wie zum Beispiel The Fall of the Public Man,[6] zur Stadt[7] oder zu Autorität.[8] Es ist vielmehr die schlichte Form des Essays, in der Sennett aus einer explizit persönlichen Perspektive über diese Zusammenhänge recht assoziativ, aber ausgesprochen gut informiert nachdenkt, die das Buch sehr unterhaltsam und lesenswert macht. Bedauerlicherweise enthält die deutsche Übersetzung nicht wenige orthografische und zum Teil auch inhaltliche Fehler, so ist die Kritik am Leistungsprinzip nicht Ludwig Marcuse zuzuschreiben, sondern seinem Namensvetter Herbert (S. 219). Und wenn Sennett beispielsweise anhand der Kleidung und körperlichen Performanz von König Ludwig XIV. klar und ohne Umwege die Politik des Erscheinens als Generator von Macht herleitet, im Kopfschmuck des Königs dann aber „Straßenfedern“ (S. 159) statt Straußenfedern stecken, so ist das sicherlich nicht schlimm, aber schade ist es schon.
Sennett beginnt seinen Streifzug durch die Kulturgeschichte des Darstellens mit einer Einleitung, in der er von ausgewählten persönlichen Erfahrungen verschiedener Aufführungen berichtet: im Kino, im Jazz-Club, bei Tanz-Performances auf öffentlichen Plätzen, im Keller der Judson Memorial Church sowie in den Räumen der Juilliard School. So unterschiedlich diese Räume und darstellenden Künste auch sein mögen, sie alle dienen ihm zur Veranschaulichung einer für seine Argumentation zentralen Ausgangsthese, nämlich dass die Originalität von Kunst keine alleinige Frage der Darstellung, des Ortes, des Genres oder gar eines berühmten Namens ist, sondern sich aus dem wechselseitigen Zusammenspiel all dessen ergibt. Denn Kunst kann viele Formen annehmen, sie kann sich in den Dienst der Macht stellen, sie kann aber auch um ihrer selbst willen ausgeübt werden. Nie jedoch ereignet sie sich im gesellschaftsleeren Raum.
An die Einleitung schließen sich dann sechs „Bücher“ an, die sich unterschiedlichen Formen und Bühnen des Darstellens widmen. Sie bauen nicht unbedingt aufeinander auf, stehen aber wohl in Verbindung zueinander: Verstörende Darbietungen (I), Bühnen und Straßen (II), der Wendepunkt (III), Böswillige Darbietungen (IV), Wie Kunst öffnet (V) und Konfrontation und Anerkennung (VI). Die Bücher selbst sind nochmals in kleinere Kapitel untergliedert. Den Ausgangspunkt bildet dabei fast immer eine konkrete Situation, die entweder aus der persönlichen Erfahrung Sennetts stammt – als sehr eindrücklich ist hier zum Beispiel seine Begegnung mit einer Gruppe junger Menschen, die den Klimawandel leugnen, zu nennen (S. 183–186) –, oder eine historisch überlieferte Situation, wie zum Beispiel die Tanzaufführungen von Ludwig XIV., dessen Charisma und Autorität als Herrscher Sennett mit einer „durch Kunst geschaffenen physischen Präsenz“ (S. 157) erklärt. Nicht immer kann der Autor seine Beobachtungen auf den Punkt bringen, immer wieder gelingt es ihm jedoch ausgesprochen pointiert, wie zum Beispiel: „Die Bühne spricht eine Wahrheit aus, die die Straße verschweigt.“ (S. 108)
Sennett unterscheidet drei Arten von Bühnen: die offene, die geschlossene und die verborgene. Sie „prägen die Art, wie Darbietende darbieten und wir Zuschauer zuschauen“ (S. 89). Die geschlossene Bühne bestimmt Sennett dabei als einen Ort der Lenkung und Kontrolle:
„Im Raum wird die Fantasie der Zuschauer durch eine sorgfältig erdachte Inszenierung kontrolliert. Im Sinne des Ortes erweist der Darsteller sich gegenüber dem Zuschauer als der stärkere. Beide Elemente verbinden sich im geschlossenen Theater miteinander und bringen eine Ästhetik der Ungleichheit hervor.“ (S. 97)
Bei der verborgenen Bühne, der wohl „hinterhältigsten“ Bühnenform (S. 100), besteht ein ähnliches Ungleichgewicht zwischen Darstellung und Zuschauer*innen, nur ist sich das Publikum in diesem Fall noch nicht einmal über seine Rolle als Publikum bewusst. Alles an dieser Aufführung bleibt im Verborgenen. Um eine solche verborgene Bühne handele es sich beispielsweise bei den Plattformmedien. Wir alle befänden uns mehr oder weniger nonstop in der „digitalen Höhle“, denn das „magische Display zieht [unsere] Aufmerksamkeit in seinen Bann“ (S. 100). Die digitale Höhle, so Sennett, führe die Bürger*innen immer weiter hinaus aus dem öffentlichen Raum, hinein in monofunktionale, private Orte (S. 100 f.). Seine Kritik an den Plattformmedien übersieht allerdings, dass sie von einer Wahl zwischen einer analogen und einer digitalen Öffentlichkeit ausgeht, die sich so heute gar nicht mehr stellt. Überhaupt ist Der darstellende Mensch ein erstaunlich analoges Buch, das sich wohl unserer Gegenwart zuwendet, in dem aber die Bühnen des Digitalen nur vereinzelt und eher am Rande angesprochen werden. Das ist einerseits geradezu erholsam, andererseits stellt sich natürlich die Frage, ob man eine Gegenwartsdiagnose, die sich dem Darstellen widmet, verfassen kann, wenn man die Bedingungen der digitalen Räume zu großen Teilen außen vorlässt.
Die offene Bühne schließlich ist die Form, auf die Sennett große Hoffnungen setzt. Auch wenn er weiß, dass offene Bühnen bei Weitem nicht nur Vergnügliches zur Aufführung bringen. „Die Herausforderung, mit der die Öffnung einer Kultur die Menschen konfrontiert, liegt in der Frage, wie sie mit gegenwärtigen Dissonanzen und vergangenen Verstörungen umgehen, statt sie einfach zu unterdrücken.“ (S. 198) Seine Hoffnung lautet schlicht: Offene Bühnen schaffen offene Gesellschaften.
Sennett verbindet in seiner Zeitdiagnose einen kulturhistorischen Gang durch die Bühnen der westlichen Welt mit seinen eigenen lebensweltlichen Bühnenerfahrungen, die er als Musiker gesammelt hat. Die persönliche Perspektive bringt mit sich, dass der Autor viel mit ‚ich‘ und tatsächlich auch viel mit ‚wir‘ argumentiert – also einschließlich Ihnen und mir, denn ich gehe stark davon aus, dass das königliche ‚Wir‘ hier eher nicht infrage kommt. In diesen Ich-Sätzen erfährt man unter anderem, dass er mit Alfred Brendel seit Jahren befreundet ist (S. 17), dass er an der Juilliard School Musik studiert hat (S. 22), wie er mit Norbert Elias in New York essen war (S. 269 ff.), dass er Hannah Arendt nie über Jürgen Habermas hat sprechen hören (S. 210) und dass er mit Roland Barthes sehr gerne japanisch essen war (S. 212), aber nicht so gerne vierhändig Klavier gespielt hat (S. 16 ff.). Dies birgt eine gewisse Ironie, denn das Anreichern von Aussagen mit persönlichen Erfahrungen ist ausgerechnet auch in den influencer industries eine gängige Authentifizierungsstrategie, die Sennett bereits 1977 in The Fall of the Public Man in gewisser Weise schon vorausgesehen und stark kritisiert hat. Die entscheidende Frage lautet allerdings nun: Dienen die vielen biografischen Anekdoten dem Verkauf des Buches, wie bei Kylie Jenners Handcreme, oder lassen sie auch andere Lesarten zu? Mit den Worten Sennetts gefragt: Haben wir es hier mit einer offenen oder einer geschlossenen Bühne zu tun? Würde es nicht eigentlich genügen, zu wissen, dass Sennett Cellist ist, dem aufgrund einer missglückten Operation eine Karriere als Berufsmusiker verwehrt blieb? Wieso benötigt man den Hinweis auf die Juilliard? Müsste seine Argumentation nicht genauso funktionieren ohne diese Verflechtung von Biografie, kulturellem Kapital und Zeitdiagnose?
Ja und nein. Denn für die Performanz des Textes ist sie durchaus zentral – und zwar nicht, weil hier qua Habitus Überzeugungsarbeit geleistet werden soll, im Sinne von: ‚Hey, er war mit Roland Barthes japanisch essen, er wird schon wissen, was er schreibt.‘ Sondern Sennett wirbt auf diese Weise für ein radikal demokratisches Anliegen: Sage, was Du meinst und wofür Du stehst. Der Gegenspieler einer solchen Rolle ist der Demagoge. Mit ihm auf der Bühne steht nicht weniger als der Glaube an das Wort auf dem Spiel. Aber dieses Vakuum, das die „leeren Worte der Demagogen“ hinterlassen, kann „[e]in auf die Gefühle zielendes Theater“ füllen“ (S. 267). Und um selbiges scheint es sich auch bei der Ich-Strategie Sennetts zu handeln. Sie ist keine Eitelkeit, sondern relevante Requisite für eine gelungene Aufführung. Sennett performt mit Haut und Haaren wider die ‚leeren Worte‘.
Fußnoten
- Im Original ist hier von „Picturing“ die Rede, was tatsächlich gerade nicht auf das Abbilden abzielt, sondern auf das Bildgeben.
- Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag [1959], übers. von Peter Weber-Schäfer, München 2021.
- Umberto Eco, Das offene Kunstwerk [1962], übers. von Günter Memmert, Frankfurt am Main 2020.
- Joshua Meyrowitz, No Sense of Place. The Impact of Electronic Media on Social Behavior, New York 1985.
- Leslie A. Fiedler, Cross the Border and Close the Gap, in: The Massachusetts Review 9 (1968), 2, S. 186–204.
- Richard Sennett, The Fall of the Public Man, Cambridge, MA 1977.
- Richard Sennett, The Conscience of the Eye. Design and Social Life of Cities, New York 1991.
- Richard Sennett, Authority, New York 1980.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Kultur Kunst / Ästhetik Medien Öffentlichkeit Politik
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