Georg Felix Harsch | Rezension |

Übersetzung als Medium, Technik, Praxis

Rezension zu „Die Politik der Buchübersetzung. Entwicklungslinien in den Geistes- und Sozialwissenschaften nach 1945“ von Rafael Y. Schögler

Rafael Y. Schögler:
Die Politik der Buchübersetzung. Entwicklungslinien in den Geistes- und Sozialwissenschaften nach 1945
Deutschland
Frankfurt am Main 2023: Campus
623 S., 64,00 EUR
ISBN 978-3-593-51579-3

„Translation Changes Everything“ ist der Titel einer einflussreichen Aufsatzsammlung des US-amerikanischen Übersetzungstheoretikers Lawrence Venuti aus dem Jahr 2013,[1] in der er sich für eine verstärkte Wahrnehmung der Übersetzung als autonomes, vom Original relativ unabhängiges Wissens(transfer-)medium und als epistemologische Technik ausspricht. Angesichts der Entwicklung der geistes- und sozialwissenschaftlichen Theoriebildung und Praxis im deutschsprachigen Raum in den letzten sieben Jahrzehnten kommt man kaum umhin, Venuti Recht zu geben: Neben der teilweise auf Deutsch, teilweise auf Englisch entstandenen Kritischen Theorie und den soziologischen Ansätzen der Systemtheorie waren für die Geistes- und Sozialwissenschaften im deutschsprachigen Raum seit 1945 methodische und theoretische Ansätze prägend bis hegemonial, die zuerst vor allem auf Französisch und Englisch formuliert wurden. Wie die Entwicklung hin zu der so zentralen Bedeutung der Übersetzung für ganze Disziplinen verlief, wie das Medium Übersetzung dabei die eigenen Gegenstände positionierte, formte und veränderte, wie und von wem dieser Prozess getragen und gesteuert wurde – das sind Fragen, die in der Wissenschafts-, Wissens- und Kulturgeschichte erst allmählich gestellt werden.

Nun hat Rafael Y. Schögler mit seiner umfangreichen Grazer Habilitationsschrift ein Buch vorgelegt, das dazu beitragen möchte, diesen Prozess für die Bundesrepublik als Ganzes zu überblicken. Dazu bedient er sich einer übersetzungssoziologischen Begrifflichkeit, die sich stark an Pierre Bourdieu orientiert. Schögler interessiert sich in erster Linie dafür, wie Übersetzer:innen im geisteswissenschaftlichen Publikationsprozess sichtbar werden und welche historischen, kulturellen, ökonomischen Mechanismen die Voraussetzungen für eine Übersetzung bilden. Sein empirisches Material entnimmt er einerseits publizierten Statistiken. Andererseits untersucht er translatorische Peritexte, also von Übersetzer:innen verfasste Vorwörter, Nachwörter und Anmerkungen. Dabei konzentriert er sich auf zwei Buchreihen, die für die Entwicklung der Geistes- und Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik ab den 1960er-Jahren besonders prägend waren: Luchterhands „Soziologische Texte“ und Suhrkamps „Theorie“-Reihe.

Doch bevor sich Schögler diesen empirischen Gegenständen zuwendet, reflektiert und entwickelt er in den ersten drei Kapiteln sehr ausführlich seine eigenen Grundbegriffe. So soll auf einer abstrakteren Ebene die Übersetzung von geistes- und sozialwissenschaftlichen Texten als soziale Praxis, als Wissensformierung und als Element des publizistischen Prozesses fassbar werden, ohne sich in ausführlichen Einzelfallanalysen oder Textvergleichen zwischen Original und Übersetzung zu verlieren. Diese Hinwendung zu den Personen und Netzwerken, die Übersetzungen produzieren, und zu den Strukturen und Bedingungen, unter denen Übersetzungen stattfinden, impliziert eine Abwendung vom Produkt und seiner Wirkung, mithin von der konkreten Übersetzung als Text, Wissensmedium und Ware.

Zentral für Schöglers Argumentation ist der Begriff der Positionierung. Er fragt danach, wie sich Übersetzer:innen im weiteren Feld der Geistes- und Sozialwissenschaften, im engeren Feld der Translation sowie in ihrem eigenen Produkt, der Übersetzung, positionieren können – und wie sie positioniert werden. Das erste Kapitel fasst soziologische und translationswissenschaftliche Annäherungen an diese Frage zusammen und kritisiert Ansätze, die Übersetzer:innen in einer Peripherie des wissenschaftlichen Feldes verorten. Demgegenüber diskutiert Schögler unter anderem die übersetzungssoziologischen Arbeiten seiner Grazer Kollegin Michaela Wolf[2] und die soziologischen Forschungen zu intellektuellen Milieus von Patrick Baert.[3] Vor diesem theoretischen Hintergrund entwickelt er ein Bild von Übersetzer:innen, die als eigenständige Akteur:innen im wissenschaftlichen Feld handeln und auch mit einer eigenen „epistemische[n] Autorität“ (S. 38 und öfter) ausgestattet sind, die zwar eng mit der epistemischen Autorität der Originaltext-Autor:innen verbunden ist, aber nicht mit ihr zur Deckung kommt.

Hiervon ausgehend diskutiert Schögler in der Folge die Begriffe „Translationskultur“ und „Translationspolitik“. Erstere fasst er als die Gesamtheit der kulturellen Normen, Präferenzen und sprachlichen Bedingungen, innerhalb derer die Translationspolitik stattfindet. Letztere, um die es im weiteren Verlauf des Buches vor allem geht, definiert er als Summe von vier Bestandteilen: dem programmatischen Diskurs zur Übersetzung, den institutionellen Regeln, anhand derer sich die übersetzerische Praxis organisiert, der Praxis selbst und der Rezeption der Produkte.

In Kapitel 2 sondiert Schögler das ökonomisch-politische Feld der geistes- und sozialwissenschaftlichen Buchübersetzung. Er beschreibt dieses als geprägt von den Interessen des akademischen Betriebs und der Verlage, jedoch deutlich weniger von den Interessen der Übersetzer:innen. Zwischen den Wissenschaften und den Verlagen müssen sich Übersetzer:innen ihr spezifisches kulturelles Kapital erarbeiten bzw. es einsetzen. Dabei waren sie zunächst ab den 1960er-Jahren Teil eines prosperierenden wissenschaftlichen Publikationswesens, das mit der Expansion im Hochschulbereich bis kurz vor der Jahrtausendwende korrespondierte. Die dazugehörige Ausweitung von geistes- und sozialwissenschaftlichen Verlagsprogrammen führte teilweise auch bei den Verlagen zur Formulierung konkreter Translationspolitiken. Übersetzer:innen konnten die mit einer wissenschaftlichen Übersetzung einhergehende „epistemische Autorität“ dabei teils für akademische Karrieren nutzen, wenn es gelang, mit einer Übersetzung den wissenschaftlichen Diskurs deutlich anzuregen oder ihre Arbeit als Neu-Interpretation von Grundbegriffen darzustellen. Insgesamt sieht Schögler die Position der Übersetzer:innen innerhalb des Gefüges aus Wissenschaft(en) und Verlagswesen jedoch als relativ schwach an.

Auf diese grundsätzlichen Vorüberlegungen (fast 250 Seiten) folgt dann ab Kapitel 4 die Auswertung des empirischen Materials. Zunächst befasst sich Schögler mit den publizierten statistischen Daten aus der Reihe „Buch und Buchhandel in Zahlen“, die vom Börsenverein des deutschen Buchhandels herausgegeben wird. Dort finden sich Angaben sowohl zur konkreten Menge der in einem Jahr veröffentlichten Übersetzungen als auch Differenzierungen nach Ausgangssprachen und Disziplinen, die zunächst als recht grob gefasste „Bereiche“ abgebildet werden. Erst ab Mitte der 1980er-Jahre nähert sich diese Unterteilung mehr an die Ausdifferenzierung akademischer Disziplinen an. Ab 2004 benutzt der Börsenverein dann die internationale Dewey-Dezimalklassifikation. Diese Veränderungen der generischen Definitionen machen das Bild von den „Übersetzungsströmen“ (S. 257) über mehr als 60 Jahre etwas unscharf, aber im Ganzen ergibt sich doch ein fester Datensatz für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Auf dieser Basis kann Schögler die Trends von 1951 bis 2014 sehr anschaulich und mit vielen Grafiken und Tabellen quantitativ darstellen.

Demnach steigt die gesamte Buchproduktion von jährlich circa 14.000 registrierten Büchern (BRD, 1951) auf knapp 90.000 Bücher im vereinten Deutschland (2014) an, wobei der Anteil der Übersetzungen bis Mitte der 1980er-Jahre bei etwa 10 Prozent liegt und dann auf etwas unter 15 Prozent steigt. Im nächsten Schritt arbeitet Schögler den Anteil der Übersetzungen im Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften im Vergleich zur Belletristik und zur Buchproduktion insgesamt heraus. Er zeigt, dass in diesen Disziplinen deutlich weniger übersetzt wird als in der Belletristik und damit auch in der gesamten Buchproduktion, dass es aber zu bestimmten Zeiten zu Konjunkturen der Übersetzung kommt, besonders von Ende der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre und erneut deutlich stärker von Mitte der 1980er- bis Mitte der 1990er-Jahre. Nach Fachbereichen aufgeschlüsselt, zeigt das Material, dass der Bereich „Philosophie und Psychologie“ nicht nur insgesamt die meisten Übersetzungen hervorgebracht hat, sondern auch den stärksten Schwankungen unterworfen ist. Nicht zuletzt sinkt die Zahl der veröffentlichten Übersetzungen in diesem Bereich ab 1997 allerdings stark ab, da seit diesem Zeitpunkt lediglich Erstauflagen gezählt wurden und somit die große Zahl an höchstens teilweise aktualisierten Übersetzungen kanonisierter Werke aus der Statistik fällt. Nach der weiteren Ausdifferenzierung der Fachbereiche 1997 ist darüber hinaus markant, dass das Übersetzungsaufkommen in der Psychologie am höchsten ist (durchschnittlich 291,5 Erstauflagen pro Jahr zwischen 1997 und 2014), gefolgt von der Geschichte (durchschnittlich 265). Dahinter fällt die durchschnittliche Zahl der Veröffentlichungen anderer Fächer stark ab: Die Philosophie kommt auf 105,5, die Soziologie auf 103,5, die Wirtschaftswissenschaften auf 96,5, und am Ende stehen die Literatur- und Sprachwissenschaften mit 40 und die Ethnologie mit 19 durchschnittlich pro Jahr veröffentlichten Übersetzungen. Dabei macht in einer weiteren Aufschlüsselung für die Jahre 1970 bis 1985 das Englische als Quellsprache den größten Anteil aus, gefolgt vom Französischen, dem Lateinischen (!) und dem Russischen. Der hohe Anteil des Lateinischen zeigt, so Schögler, wie groß die Bedeutung von Neuauflagen und Überarbeitungen kanonisierter Texte bei geistes- und sozialwissenschaftlichen Übersetzungen ist. In weiteren quantitativen Analysen widmet sich das Buch den Übersetzer:innen selbst und ihrem Verhältnis zu den Originaltextautor:innen nach Alter, Geschlecht und Ausbildung.

Der letzte empirische Teil der Studie, Kapitel 6, wendet sich den translatorischen Peritexten zu, also den flankierenden Texten, die entweder von den Übersetzer:innen verfasst wurden oder sich explizit mit der Übersetzung befassen. Erneut geht es Schögler hier vor allem darum, wie sich die Übersetzer:innen im System der Übersetzungspolitik positionieren. Diese Peritexte entstammen einerseits stichprobenartig der gesamten Übersetzungsproduktion im geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich, andererseits einer hoch profilierten, aber wirtschaftlich letztlich nicht rentablen Buchreihe, nämlich der „Theorie“-Reihe von Suhrkamp. Anhand der Beispiele, die Schögler teilweise recht ausführlich diskutiert, kommt er zu dem Schluss, dass die translatorische Positionierung dort, wo sie über Peritexte stattfindet, vor allem der Bildung eines wissenschaftlichen Profils der Übersetzer:innen dient, indem sie die Übersetzung als „Praxis der Wissensgestaltung“ (S. 509) darstellt.

„Die Politik der Buchübersetzung“ ist eine Habilitationsschrift, und als solche bringt sie disparate Denkansätze aus einer sichtbar produktiven Postdoc-Arbeitsperiode zusammen, die vor allem eines eint: dass sie sich den etablierteren linguistischen und kulturwissenschaftlichen Zugängen der Übersetzungswissenschaft mindestens teilweise verweigern und eine wissenssoziologische Perspektive einnehmen. Dieses Hinauszoomen von den einzelnen Textpaaren von Original und Übersetzung zum sozialen und wirtschaftlichen System der Übersetzungsproduktion zeigt eindrücklich, wie sehr die Übersetzungswissenschaft eine Disziplin der epistemischen Praxis ist.

Das gut zusammengefasste und grafisch aufbereitete quantitative Material stellt eine wahre Fundgrube vor allem auch für kulturhistorische Arbeiten zur Übersetzung als transkultureller Wissensproduktion in (West-)Deutschland nach 1945 dar. Seinen systematischen Rahmen kann der Autor bei den verschiedenen Untersuchungsteilen allerdings nicht immer ausfüllen, zumal das vierte Element aus Schöglers Definition von Übersetzungspolitik, die Produkte und ihre Rezeption, im Buch bewusst ausgelassen wird. Zentrale Ereignisse und Wendepunkte wie die Übersetzungskonjunktur der direkten Nachkriegszeit, als es in Deutschland ein intellektuelles Vakuum nicht zuletzt mit in anderen Sprachen formulierten Erkenntnissen zu füllen galt, oder die Zunahme der wissenschaftlichen Übersetzung infolge der Hochschulexpansion in den 1970er-Jahren scheinen in Schöglers Buch nur kurz auf, werden aber wegen des sehr soziologischen Blicks kaum historisch kontextualisiert. Darüber hinaus hätte ein straffendes Lektorat dem rund 600 Seiten starken, dicht bedruckten Buch gutgetan. Dennoch wird Rafael Y. Schöglers Arbeit nicht zuletzt wegen der quantitativen Ergebnisse noch lange in den Bibliografien künftiger übersetzungshistorischer Studien zu finden sein. Solche Studien sind dringend zu wünschen.

 

  1. Lawrence Venuti, Translation Changes Everything. Theory and Practice, London 2013.
  2. Programmatisch etwa in: Michaela Wolf / Alexandra Fukari (Hg.), Constructing a Sociology of Translation, Amsterdam 2007.
  3. Zum Beispiel: Patrick Baert / Marcus Morgan, A Performative Framework for the Study of Intellectuals, in: European Journal of Social Theory 21 (2018), S. 322–339.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jan-Holger Kirsch.

Kategorien: Epistemologien Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaft Gruppen / Organisationen / Netzwerke Kommunikation Kultur Medien Methoden / Forschung Öffentlichkeit Wirtschaft Wissenschaft

Georg Felix Harsch

Georg Felix Harsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Edition „The Persecution and Murder of the European Jews by Nazi Germany, 1933–1945“ am Leibniz Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. Vor seinem Wechsel in die Wissenschaft war er lange Jahre freier Übersetzer und Mitarbeiter verschiedener KZ-Gedenkstätten. Foto: © Stefan Volk

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